Das Altpapier am 17. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 17. Oktober 2023 Showkämpfe

17. Oktober 2023, 10:17 Uhr

Die EU-Kommission will ihr Chatkontrolle-Gesetz unbedingt durchbringen (und bleibt daher Elon Musks Werbekunde). Zur Frage, ob der Rundfunkbeitrag steigen soll, kommt eine "Korridor"-Idee auf den Tisch. Gedruckte Kölner Tageszeitungen müssen jetzt über 100 km zurücklegen, bevor sie gelesen werden. Außerdem: kräftige Precht-/Lanz-Nachdreher. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wie die EU-Kommission bei Twitter/X wirbt

"Die Kampagne [..] verwendet schockierende Bilder von jungen Mädchen neben unheimlich aussehenden Männern und bedrohlicher Musik und betreibt eine Form der emotionalen Erpressung ..."

Da geht es weder um wahrscheinlich leider authentische, womöglich aber auch gefälschte Bilder von einem der Kriegs- und/ oder Terror-Schauplätze, noch um einen ZDF-Krimi, sondern um eine Werbekampagne der EU-Kommission. Die Montage suggeriere, "dass die Gegner des Gesetzes Kinder nicht vor Missbrauch schützen wollen", übersetzt netzpolitik.org aus der englischsprachigen Fassung des "Volkskrant"-Artikels des niederländischen Juristen Danny Mekić. Thema ist also das umstrittene Chatkontrolle-Gesetz, von dem (nicht zuletzt der unklaren Haltung der deutschen Regierung wegen) weiter unklar ist, ob die von der Leyen-Kommission es noch wird durchsetzen können.

Die Kampagne wurde einem sehr ausgewählten Publikum aus mindestens sieben europäischen Staaten zwischen Schweden und Tschechien in deren jeweiligen Sprachen auf X/ Twitter präsentiert. Ausgewählt wurde nach Negativ-Kriterien, also, wem diese Werbung nicht erscheinen sollte: etwa Leuten, denen Datenschutz wichtig ist, und solchen, "die sich für das Christentum interessieren". Über Gründe dieser Auswahl muss man spekulieren. Wahrscheinlich wären erstere sowieso nicht zu überzeugen, vielleicht sind letztere sowieso schon überzeugt. Jedenfalls: Die  EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, eine schwedische Sozialdemokratin, nutzte genau solches Microtargeting für politische Werbung, das einst Donald Trump und den britischen Brexit-Befürwortern zu spektakulären Erfolge verhalf und das die EU-Kommission genau deshalb in dieser Form verbieten möchte. Ähnlich manipulative Mittel wie die Genannten nutzte sie offenbar auch, etwa Halbwahrheiten auf Basis dubioser Meinungsumfragen.

Wobei die Enthüllung auch was Positives hat: Entdecken konnte Mekić die Kampagne in "Transparenzberichten von X", die die EU von großen Plattformen fordert. Ein aktueller netzpolitik.org-Artikel zitiert aus einer wiederum auf X/Twitter verfügbaren, nun aber nicht als Werbung bezahlte, sondern bloß gepostete Johansson-Äußerung, dass solche Werbung "normale Standardpraxis" sei. Was also heißt, dass EU-Geld, also Steuern der Bürger der Mitgliedsstaaten, weiterhin an Elon Musks Firma fließt. Obwohl viele Unternehmen dort ja nicht mehr werben, und obwohl X/Twitter für einen anderen aktivstischen EU-Kommissar, Thierry Breton, eine Art Lieblingsgegner ist. Den "peinlichen Showkampf" des Binnenmarkt- und Dienstleistungs-Kommissars kritisierte vorige Woche nicht nur netzpolitik.org, das auf die EU-Kommission besonders kritisch guckt. Die Kritik teilte gerade auch das "FAZ"-Wirtschaftsressort ("Der forsche Franzose schwang schon die große Keule der Abschaltung, als er das Verfahren noch gar nicht begonnen hatte"). Der "FAZ" ging es dann aber vor allem um den aktuellen Stand der deutschen Umsetzung des ambitiösen EU-Gesetzes DSA/ Digital Services Act:

"Die neuen europäischen Regeln sollen nun jedoch von der Bundesnetzagentur überwacht werden, für die unter anderem das Bundesdigitalministerium von Volker Wissing verantwortlich ist. Nun geht es darum, wie die schon aufgebaute Ex­pertise genutzt werden kann. Über die Rolle der Bundesnetzagentur als nationale Koordinierungsstelle gebe es Einigkeit, betont ein Sprecher des Digitalministeri­ums. Dagegen bestehe jedoch noch Klärungsbedarf zur Rolle von Landesbehörden, die zum Beispiel zur Durchsetzung des Onlineschutzes für Minderjährige zuständig sind ..."

... und da streitet Wissings Ministerium auch mit dem Bundesjustizministerium seines Parteifreunds Buschmann, schreibt Corinna Budras unter der Überschrift "FDP verzettelt sich bei Digitalregeln" (€).

Fast schon grotesk, wie das Klein-Klein im immer noch stärker parteipolitisch geprägten deutschen Institutionendschungel die immer größeren Pläne der EU spiegelt, sich an ausgreifenden Digitalgesetzen zu versuchen.

RBB streitet, Rundfunkpolitik gibt sich einig

Wünschen hilft eher selten. Aber der Wunsch "Mehr davon!", den ich vorige Woche hier äußerte, erfüllt sich: Der Battle zwischen dem RBB und den Landtagen seiner Bundesländer geht weiter. Zwei Stränge gibt es. Einerseits hat das Landgericht Potsdam der RBB-Beschwerde gegen den vom Brandenburger Landtag erwirkten Durchsuchungsbeschluss stattgegeben. Deshalb wird die Chose nun vors Oberlandesgericht gehen. Aktenzeichen und weitere Zahlen nennt der einstweilig siegreiche RBB.

Außerdem streiten die beiden Institutionen um den künftigen RBB-Staatsvertrag, den die Landtage in Potsdam und Berlin bald beschließen wollen und wohl auch werden. "Ja, das ist ein veritabler Konflikt", fasst der "Tagesspiegel" zusammen. Einerseits mache der Staatsvertrag den RBB-Betrieb teurer, obwohl gerade diese Anstalt ja besonders spart und sparen müsste. "Allein für die Vorgabe der Ausweitung der täglichen geteilten TV-Sendezeit für Berlin und Brandenburg von 30 auf 60 Minuten würden drei Millionen Euro zusätzlich benötigt", zitiert eine aktuelle Meldung des epd die noch amtsjunge RBB-Intendantin Ulrike Demmer. "Geld fließt in Strukturen und nicht ins Programm", zitiert die "SZ" (€) sie. Zuvor hatte Demmer kritisiert, dass der Staatsvertrag die Staatsferne des RBB gefährde. Das mag leicht treppenwitzhaft wirken. Schließlich ist Demmer derzeit die einzige Intendantin, die auch schon als Regierungssprecherin arbeitete, und daher in der Hinsicht selbst ein Angriffspunkt. Aber natürlich kann jeder Mensch sich entwickeln.

Die Ziele der Landtage, die von den Landesrechnungshöfen angestoßen wurden, sind ebenfalls nachvollziehbar, schreibt Joachim Huber im erwähnten "Tagesspiegel"-Artikel. Ihr Staatsvertrag könne "sich sehen lassen". Nun seien der RBB, Intendantin Demmer "und die Mitarbeitenden ... am Zug. Nicht im nächsten Frühjahr, sondern jetzt und gleich". schließt er salomonisch. Wobei viele Züge sich eklatant verspäten, falls sie überhaupt losfahren – auch das gehört zu Deutschland 2023.

Unterdessen wurde der Vorsatz, "ernsthaft Reformen zu beschließen", nun sogar von der Rundfunkkommission der Bundesländer geäußert – also einem Gremium, dessen jüngste Beschlüsse alle schon veraltet waren, als sie endlich in Kraft treten konnten. Zur frischen Entschlussfreude schreibt der in solchen Dingen gut informierte Helmut Hartung auf der "FAZ"-Medienseite (€):

"Zu den Vorgaben, die 'ernsthaft erwogen' werden, wie es ein Rundfunkkommissionsmitglied sagte, gehören eine gemeinsame Onlineplattform mit einer einheitlichen Organisation, die Pflicht zur engeren Zusammenarbeit und die Schaffung von Kompetenzzentren. Hier geht die ARD bereits erste, vorsichtige Schritte. Zudem soll ein Mantelprogramm für alle dritten Programme festgeschrieben werden ..."

Und zum Rundfunkbeitrag, von dem die Anstalten wollen, dass er steigt, was sonst aber eigentlich niemand möchte, sei eine "Korridor"-Idee ersonnen worden, von der man in den nächsten Wochen und Monaten sicher schon deshalb noch viel lesen wird, weil sie wohl eine Erhöhung zumindest verschieben können dürfte .

Neues aus der Zeitungsstadt Köln

Die Ampel-Bundesregierung macht auch ohne die offenkundige Migrationskrise (Altpapier) unter vielen Aspekten einen überforderten Eindruck. Da ist vergleichsweise egal, dass sie die 2020 noch von der Vorgänger-Regierung ersonnene, aus guten Gründen umstrittene Idee einer Zeitungszustell-Förderung vermutlich (zuletzt dieses Altpapier) ganz ohne eigenen Input an die Nachfolge-Regierung übergeben wird.

Aufmerksamkeit verdient eine Wendung, die mit Zeitungsdruck und Zustellung zusammenhängt: Der "Kölner Stadt-Anzeiger", eine seit dem 19. Jahrhundert erscheinende Zeitung, die immer noch bei der ebenfalls traditionsreichen DuMont-Mediengruppe erscheint (weil sie anno 2019 keine Käufer fand ...), schloss seine Druckerei. Darüber berichtete knapp das ebenfalls in Köln ansässige dwdl.de.

Wie genau das vor sich ging und welche Rolle der Tag der Deutschen Einheit dabei spielte, vertiefte nun medieninsider.com, das aus einem Video eines Betriebsrats sowie diesem Bericht des Kölner Lokalmediums report-k.de zitiert. Offenbar wurde der Feiertag, mit dem viele Deutsche inhaltlich ja nicht ungeheuer viel anfangen können, benutzt, um Druckplatten, Papier und anderes Material unbeachtet abtransportieren und am nächsten Arbeitstag das Personal umso umstandsloser nachhause schicken zu können.

"Wir werden jetzt wie Müll, wie die McDonalds-Tüten in den Autobahnausfahrten aus dem Fenster geschmissen und nicht einmal mehr anständig entsorgt",

zitiert Marvin Schade den Betriebsrat. Eine mittelfristige betriebswirtschaftliche Logik mag die Schließung besitzen. Der "Stadt-Anzeiger" möchte, wird gerne zitiert, "ein rein digitales Unternehmen werden". Und tatsächlich lässt sich auf ksta.de uneingeloggt kaum ein Artikel lesen. Allerdings werden die Zeitungen für Köln nun in Koblenz gedruckt, was keineswegs eine Nachbarstadt im Köln-Bonner Ballungsraum ist.

"Nachts fahren jetzt Horden von Lieferwagen 115 Kilometer von Koblenz nach Köln. Was daran CO2-neutral sein soll, ist auch nicht nachvollziehbar",

lautet noch ein Zitat aus dem Betriebsrat-Video. Auch dafür gibt es schon anderswo Beispiele. Die in Thüringen noch ausgetragenen Tageszeitungen werden schon länger in Niedersachsen gedruckt (flurfunk-dresden.de). In künftige Betrachtungen zur Frage, ob die tägliche gedruckte Tageszeitung ökonomisch wie ökologisch ein Auslaufmodell ist, die selbstverständlich differenzierter Antworten bedarf, muss nun auch das Kölner Dumont-Beispiel einfließen.


Altpapierkorb (Precht im Faktencheck & in der Kritik, "Governance without governments!", Mipcom, 100 Jahre Disney)

+++ Richard David Precht klickt gut. Daher wohl bringt das ZDF, zu dessen großer Senderfamilie eigentlich keine Radios gehören, einen Podcast mit dem, nun ja, Philosophen. Auch daher gibt's inzwischen viele Weiterdreher zur gestern hier im Korb angeklungenen Aufregung um die neueste Folge des Precht/ Markus Lanz-Podcasts. Am lesenswertesten ist Michael Blumes Faktencheck bei spektrum.de. +++ "Übrig bleibt die Frage, wie es in Folge 110 von 'Lanz & Precht' zu so einer Zusammenstellung von Allgemeinplätzen mit antisemitischen Grundannahmen kommen kann. Wie ein verantwortlicher Redakteur so was abnehmen und eine öffentlich-rechtliche Anstalt in diesem Land so was ausstrahlen kann. Warum der öffentliche Aufschrei vergleichsweise leise ist ...", beschließt Susan Vahabzadeh den Aufmacher auf der "SZ"-Medienseite (€). +++ Laut wird der Aufschrei nun, auch dank Jürgen Kaube im "FAZ"-Feuilleton ("Der ewige Schwätzer liegt einmal mehr falsch"). Einen "Verfall der Begriffe" beklagt Kaube angesichts Prechts Benennung als "Philosoph". +++ Dass die Entschuldigungs-Formulierungen die Sache noch schlimmer machen, zeigte sich auch schon gestern. "Liest man die Stellungnahme des ZDF genau, dann wird eben bedauert, dass eine Precht-Äußerung Kritik ausgelöst habe, nicht aber das Gesagte selbst. Klingt so, als müsste die Kritik mit Bedauern bedacht werden, ja, die Kritiker selbst müssten bedauert werden für ihre Kritik", liest der "Tagesspiegel" raus. +++

+++ "Governance without governments!" reimt sich, wenn man es spricht, und Wolfgang Kleinwächter spricht es bei aller Nüchternheit, die die Tätigkeit im Rahmen der hoch komplexen, historisch verdienstvollen Strukturen der ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) mit sich bringt, nicht ohne Pathos aus. Lohnt sich, Folge 277 des netzpolitik.org-Podcasts mit Kleinwächter und Markus Beckedahl zu hören. +++

+++ In Cannes ist wieder Mipcom, also die wichtigste Fernsehprogramm-Messe, auf der es auch "genügend gutes Essen, guten Wein und zahlreiche Begegnungen bei denen es zur Abweschlung mal erfrischend ist, dass alle gemeinsam rätseln wohin die Reise geht", gibt (dwdl.de). +++

+++ Seinen 100. Geburtstag beging am gestrigen Montag der Disney-Konzern. "Früher Fahne, heute Warnhinweise", heißt Konrad Eges Zusammenfassung seiner Geschichte bei "epd medien", die also auch aktuellen Wokeness-Fragen nachgeht. Medienpartner RTL wird im Dezember eine Thommy-Gottschalk-Show bringen. Medienpartner "FAZ", in dessen Feuilleton Donaldisten lange wichtig waren, brachte schon einen online durchklickbaren Comicstrip. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.

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