Das Altpapier am 1. November 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 1. November 2023 Gewinner und Verlierer

01. November 2023, 10:17 Uhr

Julian Reichelts Anwälte frohlocken. Till Lindemanns Anwalt haut scharfe Medienkritik raus. Noch schärfer wird die internationale Fridays for Future-Bewegung krisitiert. Sollte die Erhöhung des Rundfunkbeitrag so ablaufen wie die des Briefportos?, und andere Öffentlich-Rechtlichen-Fragen. Dazu: großes Nachruf-Kino für Elmar Wepper. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Neues zu den Fällen Reichelt & Rammstein

Wie schrieb Jenni Zylka hier am Montag? "Hierzulande ist man ja immer bass erstaunt (und auch ein kleines bisschen neidisch) darüber, wie schnell und wozu in den USA geklagt wird".

Andererseits, Anlass zur Sorge (oder Hoffnung?), dass Deutschland ausgerechnet diese US-amerikanische Entwicklung grundsätzlich verpeilt, besteht auch nicht. Geklagt wird kräftig, von international agierenden Medienkonzernen wie Axel Springer wohl schon deshalb, weil Wettbewerber aus den USA selber klagen würden, sobald sie Klage-Spielräume unausgeschöpft sehen.

Jetzt hat Springer einen Rechtsstreit sozusagen verloren. Beziehungsweise beginnt dieser gar nicht erst, weil die Berliner Staatsanwaltschaft Springers Anzeige gegen seinen ehemaligen leitenden Angestellten Julian Reichelt wegen Betrugsverdachts gar nicht mehr nachgeht. Nachdem sich beide Seiten im August arbeitsrechtlich geeinigt hatten (Altpapier), war die Sache strafrechtlich noch offen geblieben. Vom eingestellten Ermittlungsverfahren berichtete als erster ausführlich und mit allerlei Auskünften von Reichelts erfolgreichen Anwälten Michael Hanfeld in der "FAZ" (€).

"Diese Einstellung entspricht einem Freispruch. Die gegen Julian Reichelt von Seiten Axel Springer erhobenen Vorwürfe waren von Beginn an völlig haltlos. Ob und, wenn ja, welche weitergehenden Konsequenzen sich aus der Einstellungsverfügung ergeben, wird derzeit geprüft",

zitiert die "FAZ" Reichelts Anwältin Katharina Dierlamm und interpretiert das mit den "Konsequenzen" so, dass eine Klage andersrum folgen könnte, also von Reichelt gegen Springer.

In vielen kommenden Rückblicken aufs Medienjahr 2023 dürften ebenfalls aus medienjuristischen Gründen Till Lindemann und Rammstein noch mal in den Blickpunkt rücken. Punktgenau wirft Lindemanns Anwalt Simon Bergmann ein paar kräftige Sätze in den Diskurs. Der Berliner gab der "Neuen Zürcher Zeitung" ein Interview (und dass "Telepolis" das als "Armutszeugnis für die deutschen Medien" bezeichnet und dabei explizit uebermedien.de kritisiert, sei erwähnt. Wobei die "NZZ" ja auch eine Redaktion in Berlin hat).

Im Interview geht's um "Litigation-PR", die inzwischen auch deutsche Anwälte nach US-amerikanischem Muster trieben. Und Bergmann wirft "sogenannten Qualitätsmedien" wie "SZ", "Spiegel" und "Zeit" "boulevardähnliche Methoden" vor. Wenn etwa die Interviewer fragen oder sagen: "Der Verdacht, der initiale Skandal, erhält viel mehr Aufmerksamkeit als seine Auflösung. Viele Leute dürften sich mit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Till Lindemann nicht mehr beschäftigt haben", antwortet er:

"Das ist heute das Grundübel. Die Medien haben seit drei, vier Jahren das Thema sexualisierte Gewalt entdeckt. Der 'Spiegel' beschäftigt mehrere Journalistinnen, die speziell zu MeToo-Fällen recherchieren. Mit dieser Verdachtsberichterstattung werden digitale Abos generiert, und zwar in erheblichem Mass. ... ... Die Artikel zu Luke Mockridge und Till Lindemann gehören zu den meist abgerufenen Seiten bei 'Spiegel+'",

Mockridge (siehe zuletzt v.a. dieses Altpapier) gehört ebenfalls zu Bergmanns Klienten. Haben Medien mit Verdachtsberichterstattung, die sich zumindest in Grauzonen bewegt, also Gewinne in Form von mehr Abos erzielt? Oder eher Glaubwürdigkeit verspielt? Das legt Bergmann außerdem nahe:

"Ich kritisiere die Verdachtsberichterstattung ja nicht nur, um meine Mandanten zu verteidigen, sondern weil ich mir Sorgen mache. Grosse Teile der Bevölkerung sagen mittlerweile, den Medien könne man nicht mehr glauben. Man spricht von Lügenpresse, die Zwangsgebühren des öffentlichrechtlichen Rundfunks kommen unter Druck. Das Vertrauen in die Medien wird durch jeden verlorenen Prozess bei Verdachtsberichterstattungen wie bei Mockridge und Lindemann geschwächt."

Dass die Zahl der Rammstein-Fans nicht sank (und die der Freien Wähler-Wähler in Bayern stieg), gehört ja tatsächlich auch zum Medienjahr 2023. Haben klassische Leitmedien 2023 vielleicht ihre eigenen Communities (und Abonnenten-Zahlen) gestärkt, aber die Hegemonie, die sie lange besaßen, teilweise verloren?

Wie postet die Fridays for Future-Bewegung?

In Feuilletons und auch auf Medienseiten breit besprochen: die Fridays for Future-Bewegung, oder eher: die Bewegungen. Nach krass israelfeindlichen Postings vor allem auf Instagram wird das lange Zeit hofierte internationale FFF-Gesicht Greta Thunberg nicht mehr hofiert. Die deutsche Repräsentantin Luisa Neubauer distanzierte sich und gab in größerer Erklärungsnot dem "Zeit-Magazin" ein Interview (€), aus dem anderswo viel zitiert wird. Die ganze Klima-Bewegung seien gar nicht so global, wie es in der deutschen Berichterstattung scheinen mochte, sagt Neubauer etwa:

"Die Zahl an Ländern, in denen Fridays for Future wirklich Massen mobilisiert, ist sehr überschaubar. Unter anderem sind es Deutschland, Österreich und die Schweiz",

und zur Struktur:

"Vielen ist wahrscheinlich nicht klar, was die internationale Bewegung von Fridays for Future überhaupt ist. Das ist keine formelle Struktur, sondern ein loses Netzwerk an Telegram-Gruppen, in die alle reinkönnen."

Huch, Telegram? Das ist ja die von Russen gegründete, wohl in Dubai ansässige Mischung aus Messengerdienst und Plattform, die in der deutschen Berichterstattung wenn, dann negativ vorkommt. Das kann oder soll zumindest erklären, wie es zu den Posts gekommen sei. "Nun stellt sich heraus: Der Post geht auf die Initiative eines einzelnen Aktivisten aus Deutschland zurück", nämlich eines ehemaligen "Pressesprechers der Mainzer Ortsgruppe", der hierzulande einen ziemlich schlechten Ruf genieße, berichtet etwa der "Tagesspiegel" mit Twitter/X-Screenshots. Ja, das Ganze sei "ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie es Einzelpersonen gelingen kann, durch aggressives Auftreten progressive Bewegungen zu kapern". Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten, aber das ist wohl eher Feuilleton. Jedenfalls postete Co-Autor Sebastian Leber dann noch einen Bonus-Tweet. Der im "Tsp." namentlich genannte Ex-Pressesprecher:

"... hat jetzt einen Anwalt beauftragt, damit wir seinen Namen nicht mehr schreiben. Selten so einen unbegründeten, fehlerhaften und aussichtslosen Abmahnversuch gesehen."

Dass es nun zu weiteren medienjuristische Wendungen, also Klagen kommt, scheint unwahrscheinlich, bleibt aber abzuwarten.

Im ÖRR bleibt's kompliziert

Immerzu ist irgendein Jahrestag. Kaum war 100 Jahre Radio, schon folgt ein Jahr Überseeclub-Rede. Zur Erinnerung: Voriges Jahr am 1. November hatte WDR-Intendant Tom Buhrow, der damals auch ARD-Vorsitzender war, in Hamburg Probleme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bemerkenswert deutlich benannt. Was natürlich zu allerhand Diskussionen führte (vgl. v.a. dieses Altpapier).

Etwas unter ging vorige Woche der "flotte Vergleich" zwischen Rundfunkbeitrags-Erhöhung und der "Festsetzung des Briefportos, die auch nicht durch den Bundestag gehen müsse", den Buhrow auf den Münchener Medientagen angestellt hatte (dwdl.de). Coole Idee einerseits; andererseits hülfe es dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk wohl kaum langfristig, mit dem papiernen Postbrief verglichen zu werden, der seine große Zeit viel eindeutiger hinter sich hat. Vielleicht bei der Gelegenheit führte Claudia Tieschky für die "SZ" ein Jahrestags-Interview unter der cleveren Überschrift "Überprivilegiert und marode weise ich zurück" (€).

Buhrow, der vom öffentlich-rechtlichen Gehaltsgipfel ja guten Überblick hinab auf die zahlreichen Hierarchieebenen in den vielen Anstalten hat, zeigt Selbstbewusstsein ("dass sich nicht nur bestätigt hat, was ich angesprochen habe, sondern von der Wirklichkeit sogar noch überholt worden ist"), Gelassenheit ("Bei den großen langfristigen Weichenstellungen warten jetzt die Medienpolitik und wir in den Sendern auf dessen Vorschläge", nämlich des neu geschaffenen "Zukunftsrats") sowie Zufriedenheit ("Sind ARD und ZDF in einem besseren Zustand als vor einem Jahr?" – "Für die ARD kann ich sagen: ja ..."). Am ehesten mag überraschen, dass er nicht ausschließt, 2025 als Intendant weiterzumachen, obwohl er dann 67 wird. Sollte Buhrows Gehalt dann turnusgemäß weiter steigen, führte an einer kräftigen Beitrags-Erhöhung wohl kein Weg vorbei ...

Gut komplementär liest sich das das dwdl.de-Interview mit Sabine Jauer, der Vorsitzenden des RBB-Personalrats. Dieses Gremium hatte Anfang Oktober mit einem von ihm beauftragten Gutachten, dem zufolge die Wahl der aktuellen RBB-Intendantin Demmer "rechtswidrig" gewesen sei, für Furore wie Kritik gesorgt (Altpapier). "Dass jetzt mehr über den Ton des Gutachtens gestritten wird und nicht über die Inhalte, ist ärgerlich", findet Jauer und laviert ganz schön. "Eine Neuwahl wäre in der derzeitigen Situation keine Lösung", doch die beiden aktuellen Gremienvorsitzenden, also des aktuellen Rundfunk- und Verwaltungsrats, sollten "zumindest so lange ihre Ämter ruhen lassen, bis der Aufarbeitungsprozess abgeschlossen ist". Wobei diese Gremienvorsitzenden mit der Ära Schlesinger, deren Aufarbeitung ja auch noch läuft, gar nichts zu tun hatten. Ein paar überzeugende Punkte hat Jauer aber auch, und zwar bei der Kritik am neuen Berlin-Brandenburger Staatsvertrag für den RBB:

"Ein großes Problem sehen wir in einer zusätzlichen Hierarchieebene, die eingezogen werden soll. Der Rundfunkrat soll zwei Führungskräfte wählen, die über das Landesprogramm entscheiden sollen. Wo steht dann noch der Chefredakteur? Wir haben die Sorge, dass da politisch genehme Leute installiert werden."

Okay, überraschen würde es, wenn politischer Einfluss in den Anstalten plötzlich keine Rolle mehr spielen würde. Aber dass die Zahl der Hierarchieebenen keineswegs sinkt, und dass es über die erst seit den Schlesinger-Skandalen für wichtig gehaltenen Rollen der Gremien überall unterschiedliche Ansichten gibt (und zwar in jeder Anstalt andere), lässt sich festhalten. Aber auch: dass es besser ist, wenn darüber offen gestritten wird, als wenn öffentlich alle Einigkeit demonstrieren und einander bloß Blumensträuße überreichen.

Elmar Wepper ist gestorben

Ist Elmar Wepper, der verstorbene Fernseh- und Kino-Schauspieler und Bruder des bekannteren Fernseh-Schauspielers Fritz ein Fall für diese Kolumne? Zumindest ist er Anlass für großes Nachruf-Kino:

"Elmar Wepper musste 64 Jahre alt werden, bis auf der großen Leinwand alle zu sehen bekamen, was er konnte", schreibt Michael Hanfeld in der "FAZ" und bezieht sich auf den Seit Doris-Dörrie-Film "Kirschblüten". Na ja, "lange war sich Elmar Wepper für keinen Fernsehquatsch zu fein" ("Welt"). Dabei war "der jüngere der beiden Wepper-Brüder ... der ruhigere, feinsinnigere – auch als Schauspieler" ("SZ"/ €). "'Der Fritz hat mich auf dem Gewissen', ist ein Satz, mit dem Elmar Wepper oft zitiert wurde" (zeit.de). Und dennoch "passte zwischen die beiden Brüder kein Blatt, wie man bei gemeinsamen Auftritten und in Interviews mitbekam" ("FAZ" wiederum).

Jedenfalls: "Elmar Wepper war großzügig genug, um so ein bisschen Nachruf-Pathos zu verzeihen", ist die "Welt" sich sicher.


Altpapierkorb (Berliner Polizei, "Medienhetze", Baerbock & Assange, "Hart, aber fair", Texte-Lesen)

+++ Die Berliner Polizei hat's nicht leicht, drückt aber auch viele Augen zu, wenn's passt. Völlig unglaublich sind die (z.B. hier) zirkulierenden Bilder, wie Berliner Polizisten Plakate mit Fotos der von Hamas-Terroristen verschleppten Geiseln von einer Litfaßsäule entfernen. "Die Polizei habe die Plakate 'nach eigener Feststellung eines Verstoßes gegen das Pressegesetz' entfernt, sagte ein Sprecher. 'Ein Impressum hat gefehlt'", schreibt die "Welt". Aber auch, "dass das Unternehmen Wall, ein Betreiber von Werbeflächen und Vertragspartner des Landes Berlin, zuvor einen Auftrag abgelehnt hatte, auf Werbeflächen im Berliner Nahverkehr die Vermisstenanzeigen für die Geiseln zu zeigen. Die Motive seien von der Polizei 'in ihrer Wirkung als polarisierend eingestuft worden', hieß es von der Senatsverwaltung für Verkehr zur Begründung." +++

+++ "Medienhetze" ist ein schwieriger Begriff, auch weil er vieles bedeuten kann: Hetze gegen Medien, Hetze durch Medien (die es ja auch gibt, wenn man die sog. sozialen nicht dazu zählt), Hetze gegen Medien wegen des Vorwurfs, sie würden hetzen .... "Keine Medienhetze", fordert der DJV wegen Aggressionen "bei einigen Demonstrationen und Kundgebungen von Palästinensern und ihren Unterstützern", und hat in der Sache natürlich recht. +++

+++ Dass sie zu selten im Fernsehen auftritt, darf niemand Annalena Baerbock vorwerfen (viel eher dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen das Gegenteil). Was sich Baerbock aber definitiv vorwerfen lässt: nichts für "die sofortige Freilassung von Julian Assange" zu tun, die sie vor der  Bundestagswahl 2021, damals ja gar als Kanzlerkandidatin!, noch forderte. Darüber schreibt Michael Sontheimer in der "taz". +++

+++ "Wir haben ausgelagert, um Geld zu sparen. Talkshows sind unterm Strich günstiger, wenn sie extern produziert werden", sagt Tom Buhrow im oben erwähnten "SZ"-Interview zur Frage, warum praktisch alle Polit-Talkshows von Firmen ihrer Moderatoren produziert werden. Recht punktgenau dazu berichtet Volker Nünning bei medieninsider.com (€) von künftigen Plänen für "Hart, aber fair". Ab 2024 soll eine Firma, die Moderator Louis Klamroth (sowie mehrheitlich Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf) gehört, die Produktion übernehmen. Doch sei der Vertrag an harte Zahlen geknüpft. Etwa solle zwar nicht die Zahl der Zuschauer, doch deren Duchschnittsalter verringert werden. +++

+++ So tief unten kann's ja erwähnt werden: "Eine der ältesten medialen Aktivitäten sein, die wir kennen", nämlich das Lesen von Texten, sei "erneut rückläufig", hat die Studie ARD/ZDF-Massenkommunikation Trends 2023 ermittelt: "Pro Tag widmen sich die Menschen in Deutschland rund eine Stunde dem Lesen von Texten. Damit ging auch die tägliche Lesedauer gegenüber dem Vorjahr um 10 Minuten zurück".

Das nächste Altpapier schreibt am Donnerstag Klaus Raab.

Mehr vom Altpapier

Kontakt