Kolumne: Das Altpapier am 14. Juni 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels.
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Kolumne: Das Altpapier am 14. Juni 2024 Rundfunkbeitrag vorm Verwaltungsgericht

14. Juni 2024, 10:19 Uhr

Über Unzufriedenheit mit öffentlich-rechtlichen Programmen wird demnächst ein ziemlich hohes Gericht verhandeln. Zur Veröffentlichung des sog. Sylt-Video fiel in München ein recht deutliches Urteil. Und zu Shitstorms eines in Österreich, das für weitere Shitstorms sorgen dürfte. Außerdem sorgt das Urteil einer Journalistenpreis-Jury für Diskussionen. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Überraschung auf einem langen Rechtsweg

Deutschland ist ein Rechts-Staat und ein ziemlich föderalistischer. Weshalb es ziemlich viele Gerichte auf unterschiedlichen Ebenen gibt, die gar nicht so selten unterschiedlich urteilen, also Gesetze anders auslegen. Manche Fälle nehmen, wenn genug Ausdauer (und Geld dafür) vorhanden ist, bis zur endgültigen Entscheidung weite Wege durch die Instanzen. So geht's einer oberbayrischen Klage, die im Herbst vorm Bundesverwaltungsgericht in Leipzig verhandelt werden wird. Das war gestern hier unten im Altpapierkorb via "FAZ" knapp Thema und könnte eine große Sache werden.

Um den Rundfunkbeitrag geht es. Aber nicht darum, ob alle Landtage dafür stimmen müssen, dass er ab 2025 um 58 Cent pro Monat und Haushalt erhöht wird. (In der Frage könnten die Rundfunkanstalten, sobald klar genug geworden ist, dass die Länder die entsprechenden Vorkehrungen nicht treffen, klagen und sich dann drauf verlassen, wie schon 2021 schnell am Bundesverfassungsgericht anzulanden). Vielmehr wollte eine Klägerin gar keinen Rundfunkbeitrag zahlen. Und erzielte mit ihrer bzw. ihres Anwalts Argumentation einen bemerkenswerten Erfolg.

"Das Bundesverwaltungsgericht hat demnächst voraussichtlich über die Frage zu entscheiden, ob Unzufriedenheit mit dem Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein Grund ist, den Rundfunkbeitrag nicht zu zahlen",

formuliert "epd medien" (mit hübschem Foto übrigens, das einen Hund vorm Verwaltungsgericht zeigt; also der Hund steht nicht vor Gericht, sondern läuft bloß vor dem Gebäude entlang ...).

Eine Rosenheimerin hatte sich geweigert, zu zahlen, "weil das öffentlich-rechtliche Programm ihrer Meinung nach in seiner Einseitigkeit nicht mehr zumutbar sei", und über ihre Klage hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Juli 2023 so geurteilt, wie es die meisten Gerichte taten und tun, fasst "Telepolis" zusammen:

"Subjektive Kritik an der Meinungsvielfalt und der Qualität von ARD und ZDF enthebe nicht von der Pflicht zur Beitragszahlung, so die damalige Entscheidung. Der Rundfunkbeitrag werde nach Auffassung der Richter in München ausschließlich als Gegenleistung erhoben: 'für die Möglichkeit des Rundfunkempfangs' ..."

Bereits im Mai dieses Jahres hat dann das Leipziger Höchstgericht "die Nichtzulassung einer Revision des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gegen sein Urteil ... aufgehoben". Heißt: Die Juristen dahoam in Bayern hatte die Klage für final erledigt erklärt. Die höhere Instanz sieht das anders und möchte drüber verhandeln.

Auf zwei Wegen wurde die Brisanz im Juni deutlich. Erst x/twitterte und bloggte der Anwalt Udo Vetter drüber ("Wenige Worte vom Gericht, große Sprengkraft für ARD und ZDF"). Dann versandte der FDP-Veteran Gerhart Baum eine Pressemitteilung. Baum sitzt nicht nur als Repräsentant golden-westdeutsch sozialliberaler Zeiten, in denen sogar Willy Brandt mal Bundeskanzler war, öfters in Sandra Maischbergers Talkshow, sondern auch im WDR-Rundfunkrat. Dort vertritt er den Kulturrat NRW und engagiert sich gegen den faktischen Bedeutungsverlust der Kultur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (Altpapier). Ein Gegner der Öffentlich-Rechtlichen oder des Rundfunkbeitrags ist Baum also zweifellos nicht. Seine Pressemitteilung lässt sich im Internetauftritt des MDR-Rundfunkratsmitglieds Heiko Hilker nachlesen (dimbb.de). Baum hebt hervor, was sich den Worten des Leipziger Gerichts über die Kontrollgremien, also die Rundfunkräte, entnehmen lässt. Am Ende könne

"eine Entscheidung stehen, die den Gebührenzahlern das Recht einräumt, feststellen zu lassen, ob der gesetzliche Auftrag des ÖRR, hier die Vielfalt, erfüllt wird. Es könnte durchaus sein, dass eine Vorbedingung wegfällt, nämlich die Erschöpfung des Kontrollauftrages durch die Gremien."

Das ist nicht unverklausuliert, Baum ist halt selber Jurist. Entklausuliert dürfte es heißen: Die bislang von vielen Gerichten für selbstverständlich angenommene Ansicht, dass die Kontrollgremien der Rundfunkanstalten schon deshalb für Vielfalt in deren Angeboten bürgen, weil sie ja selber pluralistisch zusammengesetzt sind, könnte künftig wegfallen. Tatsächlich lässt sich ja im wahren Leben sehr lange drüber streiten, ob und wie sich das tief im 20. Jahrhundert entstandene Konzept der ehrenamtlichen Rundfunkräte im 21. noch auf der Höhe der Zeit bewegt.

Gut, wenn sich Gerichte mit dem Thema befassen. Der eigentliche Gesetzgeber, die Medienpolitik der Bundesländer (die sich dafür einig werden müssten), ist ja schon seit Jahren überfordert. Insofern dürfte es wirklich spannend werden, demnächst in Leipzig. Allerdings erst tiefer im Herbst. "Rechtsanwalt Friedemann Willemer, der die Klägerin vertritt, hat eine Fristverlängerung für die Begründung der Revision bis zum 30. September 2024 beantragt", weiß "Telepolis". Und noch mal ein ganzes Stück später dürfte es in derselben Sache dann in Karlsruhe spannend werden, denn auf dem langen Instanzenweg rangiert das Bundesverfassungs- noch über dem -verwaltungsgericht.

Urteile zu "Sylt-Video" & Shitstorms

Ein frisches Urteil aus Bayern wartet nun darauf, ob die unterlegene Partei, Springers "Bild", Revision einlegt. Da geht es um die offenkundigen massiven Persönlichkeitsrechtsverletzungen bei den Veröffentlichungen des sog. Sylt-Videos (Altpapier). Ausführlich berichtet die "Legal Tribune Online":

"Das Landgericht München I (LG) hat der Bild-Zeitung ... die Veröffentlichung des unverpixelten Sylt-Videos untersagt. Konkret erwirkte eine junge Frau, die im Video die Worte 'Ausländer raus' singt, eine umfassende einstweilige Verfügung. ... Das LG verbietet die Verbreitung des Bildes der Frau im Video als auch zahlreiche Screenshots, die die Bild-Zeitung als Titel oder sonst zur Bebilderung verwendet hatte. Auch die Veröffentlichung eines weiteren Fotos, das die Antragstellerin auf der Tanzfläche mit einem Mann zeigt, wurde untersagt. Außerdem wurde der Bild verboten, den Vornamen der Frau zu nennen sowie eine Identifizierung von ihr mittelbar durch die Nennung des Namens ihres Freundes zu ermöglichen."

Schon wegen der "mehr oder weniger identischen identifizierenden Berichterstattung" anderer Medien, die mitunter auch anders drauf sind als "Bild", "etwa vom WDR oder von Zeit Online", erwartet die LTO Folgeverfahren. Gut jedenfalls, wenn der Rechtsstaat den Missstand, dass deutsche Medien jedem mordwilligen islamistischen Täter mehr Persönlichkeitsschutz zugestehen als betrunkenen Gästen falscher Partys, abstellen.

Etwas weiter südlich fiel ein noch spektakuläreres Urteil, bei dem auch, unter anderem, Screenshots eine Rolle Spielen: "Wer bei Shitstorm mitmacht, haftet alleine für den Gesamtschaden", titelt netzpolitik.org. "Wer bei einer Onlinehetzjagd mitmacht und zur Weiterverbreitung anregt, muss dem Opfer den gesamten Schaden zahlen", formuliert es der österreichische "Standard".

Okay, das gilt einstweilen in Österreich, also in einem anderen Staat. Doch dass solche Urteile zum Europäischen Gerichtshof wandern können, zumal wenn es um den digitalen Raum geht, der staatliche Grenzen kaum kennt und im Prinzip bereits EU-weiten Gesetzen unterliegt, gehört inzwischen zum Rechtsstaats-Föderalismus. Also: Geklagt hatte ein 2021 bei einer Corona-Demonstration eingesetzter und dabei gefilmter Polizist. Bei dieser Demo wurde ein 82-jähriger Mann "zu Boden gerissen, verhaftet, und Stundenlang verhört", behauptete ein auf Facebook gepostetes Video, das dazu den Polizisten zeigte und als "schuldig" bezeichnete. Dabei "war der Polizist an der Verhaftung des Mannes nicht beteiligt". Der Beklagte wiederum, der nun 3.000 Euro Schadensersatz zahlen muss, hatte das Video weder aufgenommen noch gepostet, sondern bloß "einen Screenshot des Postings geteilt".

Ebnet die dem zur Geldstrafe Verurteilten zugestandene Möglichkeit, "sich von anderen Personen, die an dem Shitstorm beteiligt waren, einen Anteil der Kosten zurückzuholen", nicht sogar weiteren Shitstorms den Weg? Schwer vorstellbar, dass diese vertrackte Sache nicht eine höhere Instanz geht, die dann der EuGH sein müsste. Dieses Urteil fällte Österreichs Oberster Gerichtshof. (Dass "Bild" vor Gericht gerade auch Deutschlands bekanntestem Kardinal unterlag und wann Deutschlands bekannteste Ex-Intendantin vor Gericht erscheinen dürfte, steht weiter unten im Altpapierkorb.)

Der Nannen-Bambi lebt!

Gerade fallen nicht nur so einige Urteile mit Medienbezug. Es hagelt auch Medien- und Journalistenpreise (Altpapier). Am Donnerstag wurde der Nannen-Bambi vergeben ... okay, das war immer ein polemischer Name. Eigentlich hieß der renommierte Preis nach Henri Nannen. Seitdem der Name gecancelt wurde, heißt er "Stern-Preis" (und der "Bambi" war ein anderer Preis ... und ist es noch).

"Ein Stern-Preis kann Karrieren beschleunigen, er ist eine wertvolle Währung in einer Branche, der überall Geld fehlt", schwärmt jedenfalls die "Süddeutsche Zeitung" nun so, als gäbe es diesen "Stern"-Preis seit Jahrzehnten. Sie freut sich halt, dass so ein Preis an eine "SZ"-Reportage ging. An eine, die "2023 in Bayern eine Regierungskrise ausgelöst hat"! Wobei die Reportage auch die Krisen der "SZ" mit befeuerte, und die bayerische Regierungspartei Freie Wähler aus ihrer Krise im Vergleich wohl gestärkter hervorging als die "SZ" aus ihren. Um die "Seite-3-Reportage über die Schulzeit des Freie Wähler-Chefs und bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger geht es also. Diese Reportage war nicht unumstritten (siehe etwa dieses Altpapier), weshalb sich an der Preisvergabe nochmals Diskussionen entzündeten.

"Müsste ein Journalismus-Preis, der irgendeine öffentliche Relevanz beansprucht, nicht mit dem Publikum kommunizieren, überhaupt: mit irgendwelchen Menschen jenseits derjenigen, die sich vor Ort gegenseitig auf die Schultern geklopft haben? Das gilt grundsätzlich, aber bei einem Artikel, der so umstritten war wie der Aiwanger-Artikel der SZ, wäre es ganz besonders wichtig. Sonst entsteht bestenfalls der Eindruck, dass Artikel nur für die Kollegen geschrieben werden, und schlechtestenfalls, dass man dem kritischen Publikum mit diesem Preis einfach den Stinkefinger zeigen wollte",

schreibt Stefan Niggemeier bei uebermedien.de (und gestattet sich den Scherz, dass der "Stern", "was viele nicht wissen, selbst auch eine Seite mit journalismusähnlichen Inhalten" betreibt. Wenn das Henri Nannen lesen müsste!)

"Die Jury muss sich dagegen fragen lassen, ob sie in diesem Fall eine Debatte auslösen wollte, bei der es nur wieder darum geht, wie kritikresistent Journalismus eigentlich ist", meint Christian Meier am Ende einer längeren Abwägung in der "Welt". "Wer will sich da noch über Entfremdung zwischen Journalismus und seinem Publikum wundern", kommentiert Marvin Schade, der der Preisgala beiwohnte, auf medieninsider.com (hier mal ohne Abo lesbar).

"Lasst uns alle Journalistenpreise abschaffen", forderte dann noch Gordon Repinski von Springers "Politico" auf Ex-Twitter/X, wo aber auch der Einwurf der stellvertretenden correctiv.org-Chefredakteurin und Mitjurorin Anette Dowideit, dass "alle JournalistInnen, die sich hier gerade ... empören, ... erst mal selbst eine investigative Recherche" machen sollten, noch mehr Debatte anfeuerte

Gemach, gemach. Journalistenpreise, werden seit jeher meist von lieben Kollegen an liebe Kollegen vergeben, zwar selten an solche aus derselben Redaktion, aber meist an welche aus einer anderen, die selber renommierte Journalistenpreise verteilt und sich zu revanchieren versteht. Daher gibt es in Deutschland ja so viele Journalistenpreise, die meist von Journalisten viel ernster genommen werden als von allen übrigen Menschen. Wenn nun immerhin nicht nur in steinmeierlicher Nichtssagendheit über den Wert von gutem Journalismus diskutiert wird, sondern auch anhand konkreter Vergleiche mit solchem, den viele Beobachter nicht besonders gut fanden, besitzt das durchaus Wert. Das spricht für den Nannen-Bambi 2024.


Altpapierkorb (RBB vs. Schlesinger, Woelki vs. "Bild", "Bild" gegen Autorisierungen)

+++ Nach bisher siebzehn, insgesamt knapp 75 Stunden langen Treffen kommt am heutigen Freitag der RBB-Skandale-Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtages letztmals zusammen, meldet der "Tagesspiegel". Am 20. November werden sich seine Gegenstände, der RBB und dessen Ex-Intendantin Patricia Schlesinger, erstmals vorm Landgericht Berlin treffen, meldet "epd medien". +++ Über den Kardinal-Wölki-vs.-"Bild"-Zwischenstand berichtet u.a. die "SZ" (Abo). +++

+++ Die nachträgliche Autorisierung von Interviews ist in Deutschland Usus, wie kürzlich Altpapier-Autorin Johanna Bernklau bei uebermedien.de schrieb (inzw. frei online). Aber bei den "Bild"-Medien nun nicht mehr, kündigte deren Chefredaktions-Vorsitzende Marion Horn kürzlich an. "Die Abschaffung der Autorisierung mag auf den ersten Blick wie ein Schritt in Richtung größerer Transparenz wirken. Doch die Praxis bietet wichtige Vorteile, die zu einer präziseren und verantwortungsvolleren Berichterstattung beitragen", hält die "taz" dagegen.

+++ Über die angekündigte "radikale Schrumpfkur" (Altpapierkorb gestern) des Hessischen Rundfunks insbesondere in seinem Radioangebot ärgert sich erwartbar die Gewerkschaft Verdi (mmm.verdi.de). "Das Signal geht weit über Hessen hinaus", freut sich Kurt Sagatz im "Tagesspiegel" (Abo). +++ "Uns ist indes schleierhaft, wie man sich einbilden kann, es möge alles bleiben, wie es ist. Es sei denn, man denkt nur an die Pensionskasse (für die Generation der Babyboomer)", kommentiert Michael Hanfeld in der "FAZ" (Abo).

+++ Heike Hempel, lange Fernsehfilmchefin beim Krimisender ZDF, ist seit Anfang des Jahres Arte-Vizepräsidentin. Und kündigt in der Funktion nun an, dass Arte "das Mediathekangebot in Europa ausbauen" will, mehrsprachig und auch mit EU-Förderung. Das meldet z.B. heise.de. Auf medienpolitik.net gibt's ein Hempel-Interview. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Montag Johanna Bernklau. Schönes Wochenende!

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