Das Altpapier am 16. August 2018 Man muss das nur bezahlen

Warum gelten Leserkommentare unter Medienmenschen als Latrine, in die man kein Geld hineinwerfen möchte? Die Hintergründe der Washington-Post-Offensive bei Twitch dürfen nicht unter den Tisch fallen. Und soll man lachen oder weinen, wenn Werbung mehr Zeitungen verkauft als Journalismus selbst? Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

"Wir lieben AdBlocker" oder "Wir investieren 250.000 Euro in die Verbesserung unserer Kommentare", welchen dieser Sätze haben Sie schon mal aus dem Mund eines Medienmenschen gehört? Das fragt sich Sascha Lobo in seiner Kolumne bei Spiegel Online. Nach AdBlockern seien Onlinekommentare das wohl mit am wenigsten beliebte Phänomen, vermutet er:

"Da Kommentarverachtung unter Medienpeople zum guten Ton gehört, möchte man in diese Latrine natürlich nicht auch noch Geld hineinwerfen."

Hintergrund ist die Deutsche Welle, die ja vergangene Woche angekündigt hatte, ihre Kommentarfunktion zum allergrößten Teil abzuschalten (siehe Altpapier). Während FAZ-Medienmann Michael Hanfeld darin noch eine Entscheidung pro Debattenkultur im Netz sah, ordnet Lobo das Ganze erwartungsgemäß anders ein. Tenor der Kolumne: Die Entscheidung der Welle sei "inszenierte Hilflosigkeit".

"Genau dieses Verhalten ist leider auch eine häufige Reaktion auf die Herausforderungen der digitalen Sphäre, die Deutsche Welle ist kein Sonderfall. Inszenierte Hilflosigkeit bedeutet, sich in der durch mangelnde Beschäftigung oder Sachkenntnis entstandenen Ohnmacht zu suhlen und – wenn man überhaupt reagiert – den Weg des geringsten Widerstands zu gehen."

Auch von der Stellungnahme der Welle-Chefredakteurin Ines Pohl zeigt er sich nicht sonderlich überzeugt. Das Argument, Hass und Beleidigungen hätten den Diskurs geprägt, sei lediglich eine Ausrede und zeige das dahinterstehende Verständnis von Nutzerkommentaren:

"So hört es sich an, wenn man Kommentare letztlich als verzichtbares Beiwerk begreift. So hört es sich an, wenn man die wesentlichste soziale Neuerung des Internet, den Rückkanal, nie ernsthaft und professionell untersucht hat. So hört es sich an, wenn man vor der eigenen inszenierten Hilflosigkeit kapituliert."

Tragisch sei das vor allem, weil die Kommentarspalten "der Ausweis einer funktionierenden Community sind. Und eigene Communities werden der kritische Erfolgsfaktor von Medienseiten. Eigentlich sind sie es längst." Und klar, dort kann uns Journalisten der eigene Blickwinkel enorm erweitert werden, wo unser Weltbild doch häufig in unserer Medienbubble festhängt. Voraussetzung ist dabei natürlich, dass einigermaßen konstruktiv diskutiert wird.

So sieht Lobo in jeder ins Destruktive entglittenen Kommentarschlacht "ein Symptom mangelnder Technik, mangelnden Know-hows oder mangelnden Willens". Dabei gebe es bereits Lösungsansätze und Technologien, z.B.:

  • "bei schwierigen Themen nur Nutzer mit mehr als 100 genehmigten Kommentaren diskutieren zu lassen, wie es ein paar amerikanische Tech-Blogs machen
  • die Community selbst intensiv in die Pflege des Kommentar-Soziotops einzubinden, wie es Reddit tut
  • Kommentare unter delikaten Artikeln intensiv zu moderieren oder temporär abzuschalten, wie es einige Medienseiten hilfsweise tun.

Man muss das nur wollen und eben bezahlen wollen – eine Prioritätenfrage."

Was bei der Welle, die ja aus Bundesmitteln mitfinanziert wird, ökonomisch betrachtet weitaus weniger dringlich sei dürfte, als bei privaten Anbietern.

Twitch meets Washington Post meets Amazon

Bezahlen bzw. investieren will man bei der Washington Post, um neue Formate für die Plattform Twitch zu entwickeln. Hört sich erstmal etwas strange respektive superinnovativ an, je nachdem, welchem Lager man angehört (dem, mit der "Journalisten sollten sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren"-Einstellung oder dem, mit der "lass mal was echt Neues ausprobieren"-Attitüde). Denn bei Twitch klicken Nutzer größtenteils rein, um Gamern beim Zocken zuzuschauen. Was also will die Post dort holen?

"Ich denke, unser Ziel ist es, unseren Zuschauern auf Twitch so zu begegnen, dass sie sich angesprochen fühlen, und in einer Art, wie sie Berichterstattung konsumieren wollen. Es geht nicht nur um das Streamen und auch nicht um Zuschauerzahlen, es geht um den Austausch mit Zuschauern im Chat",

zitiert Carina Fron bei Deutschlandfunks @mediasres Phoebe Conelly, die bei der Post für die Videoumsetzung von Geschichten zuständig ist. "Playing Games with Politicians" heißt das Format, der erste Gehversuch des Traditionshauses bei Twitch.

Das Ganze sieht so aus, dass Politiker sich beim Gaming Fragen zu ihren Ambitionen und ihren politischen Vorhaben stellen müssten. Zuschauer können auch selbst per Live-Chat-Funktion Fragen senden, ähnlich wie bei Instagram-Livevideos.

Bei Twitch will die Post aber nicht nur auf die alberne Schiene und Infotainment setzen, es geht auch um harte Fakten und Analysen. Bei einem anderen Format, "Live with Libby Casey", gab es z.B. eine politische Analyse zum Treffen von US-Präsident Donald Trump und seinem russischen Pendant Wladimir Putin in Helsinki. Hier sollen News und Events ihren Platz finden, die die Post besonders wichtig findet.

Von Experten wird der Vorstoß nicht nur als Spielerei angesehen. So vergleicht Marc Ziegele, der sich an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vor allem mit politischer Onlinekommunikation beschäftigt, die Twitch-Aktivitäten der Post mit den Anfängen des Journalismus auf Facebook. Der Grund warum so etwas funktioniert, sei simpel: 

"Weil die junge Zielgruppe nachgewiesenermaßen ein Bedürfnis nach neuen Formen der Nachrichtenpräsentation hat. Also dieses alte Massenkommunikationsschema, dass da einer sendet und alle anderen hören zu, stößt bei der Jugend ein bisschen auf Befremden."

Auch Steffen Grziwa von den Rocket Beans

"findet den Vorstoß der Washington Post spannend, weil der moderne Gamer oder auch Nerd seiner Meinung nach jemand ist, der neben seiner Tätigkeit als Spieler auch noch viele andere Interessen hat. Dazu gehört auch Politik. RocketBeansTV (…) kümmern sich auch in ihrem Twitch-Stream um politische Fragen – solange es um Themen geht, die den Gamer interessieren, etwa die schleppende Digitalisierung in Deutschland oder das Urheberrecht."

Was in dem Beitrag aber unerwähnt bleibt, sind die Besitzverhältnisse, die im Hintergrund stehen. Denn Twitch gehört seit 2014 zu Amazon. Der Konzern blätterte damals fast eine Milliarde Dollar für die Videoplattform hin – vermutlich, um YouTube Konkurrenz zu machen. Game of Thrones der Mediengiganten und so. Aber bleiben wir beim Thema: Amazon-Gründer Jeff Bezos wiederum gehört seit fünf Jahren ja auch die Washington Post, die vergleichsweise für Peanuts in Höhe von 250 Millionen Dollar in seinen Besitz (zur Erinnerung, reichster Mensch der Welt) überging. Gleichzeitig hält er 16 Prozent der Anteile an Amazon.

Nun ist es natürlich nichts per se verwerfliches, Synergien zu nutzen und mit den Aktivitäten des einen Mediums eine andere Plattform des gleichen Konzerns zu pushen. Solche Zusammenhänge und Besitzverhältnisse klar herauszustellen ist aber angesichts der immer weiter zunehmenden Konzentration im Medienuniversum eine Information, die nicht unter den Tisch fallen sollte. Wenn solche Aktivitäten die redaktionellen Inhalte beeinflussen und Voreingenommenheit erzeugen sollten, lohnt sich ein zweiter, dritter, vierter Blick allemal.

Bloomberg hat die Entwicklungen bei Twitch schon länger im Blick:

"Now, in a bid to grab a larger slice of the online advertising pie, Amazon has decided to aggressively broaden the programming on Twitch to take on its video rival. Amazon in recent months has been pursuing exclusive livestreaming deals with dozens of popular media companies and personalities, many with large followings on YouTube."

Der Kampf um den Thron in Sachen Video-Streaming wird also nicht unbedingt entspannter. Zwar habe die Konstellation Twitch/Amazon bisher eine David-vs.-Goliath-Anmutung, denn YouTube verzeichnet als größte, werbefinanzierte Videoplattform der Welt rund 1,9 Milliarden Viewer im Monat. Bei Twitch sind es bisher "nur" 15 Millionen am Tag. Aber:

"the Amazon unit gives creators multiple ways of making money, including paid subscriptions (a feature YouTube added in response), and offers advertisers the appeal of a live, engaged audience."

Und Community, Sprung zurück zu Lobo, wird schließlich ein kritischer Erfolgsfaktor von Medienseiten sein. Wenn diese dann auch noch live und engaged sind: Für ein Medienhaus und dessen Marketingabteilung schon ein Träumchen, wenn es sich künftig wenigstens noch zu einem nennenswerten Anteil über Leser/Nutzer finanzieren will. Bisher bewegen sich die Abrufzahlen der Post bei Twitch allerdings noch im unteren, dreistelligen Bereich.

It’s print, Hypebeasts

Es geht recht US-lastig weiter. Wenn Werbung auf der Titelseite mehr Zeitungen verkauft, als journalistische Arbeit, ist dann lachen oder weinen angesagt? Mir drängt sich bei dieser Nachricht beides auf. Die New York Post schaffte es diese Woche, bis zum Mittag an den meisten Kiosken restlos ausverkauft zu sein und das wegen des Logos der Modemarke Supreme auf dem Cover, also wegen Werbung. (WTF?!!1!11!!!)

Weinen drängt sich also als erste Möglichkeit auf, angesichts der Tatsache, dass ein Markenlogo mehr Interesse und Zahlungsbereitschaft erzeugt als Journalismus (wobei man sich natürlich die Frage stellen kann, ob das, was das Tabloid sonst so fabriziert, wirklich durchweg als Journalismus zu bezeichnen ist).

Lachen drängt sich aber auf, wenn man bedenkt, was durch cleveres Marketing so alles möglich ist. Immerhin haben die Post und Supreme es geschafft, ein schon fast totgesagtes Medium – die gedruckte Zeitung – so zu vermarkten, dass es jeder haben will.

Dabei spielt natürlich der ungeheure Hype um die New Yorker Skatermarke eine große Rolle. Kollektionen werden nur zu festgelegten Zeitpunkten und in sehr limitiertem Umfang "gedropt" und die Kleidung später für Unsummen in Online-Auktionshäusern gehandelt.

Bei der WiWo hat Peter Steinkirchner dazu eine Einschätzung von Boris Schramm, Geschäftsführer der Düsseldorfer Media-Agentur Group M, eingeholt.

"'Supreme und der New York Post ist ein echter Coup gelungen, weil sie eine junge hippe Zielgruppe sehr erfolgreich mit einem angeblich antiquierten Medium ansprechen.' Dabei sei das Gegenteil der Fall – auch Printmedien könnten im Zeitalter des Digitalen absolut ihren Platz im Mediengeschäft behaupten, sagt der Mediaplaner."

Dem New Yorker Magazin The Cut sagte ein 18-Jähriger wohl stellvertretend für zahlreiche Supreme-Fans: "This is the first time I ever bought a newspaper".

"Für Medien-Experten Schramm keine große Überraschung. Jedes Medium erfülle als Werbeträger seinen ganz eigenen Zweck: 'Man muss es nur intelligent zu nutzen wissen.' Die junge Zielgruppe nur nach Schema F bei YouTube zu verfolgen sei eben auch nicht der Stein der Weisen: 'Die Leute bei Supreme haben sehr klug das genaue Gegenteil von dem gemacht, was ihnen Computer und Algorithmen als erfolgversprechend errechnet hätten.'"

Fragen, die sich aus dem Hype für unsere Medienbubble stellen lassen:

  1. Kann Werbung bei aller kritischer Distanz und Trennung von Redaktion und Marketing nicht auch eine Chance sein, Menschen mit Inhalten zu erreichen, statt nur als Finanzierungsmittel gesehen zu werden?
  2. Wie lässt sich eine Exklusivität und Nutzerbindung herstellen, die auch nur annähernd ähnliche Ausmaße wie bei Supreme annimmt?
  3. Warum nicht einfach mal was Unkonventionelles ausprobieren?

etc.

Die Szene sieht in der Aktion übrigens nicht nur einen gelungenen Werbe-Coup, sondern außerdem einen Akt der Rebellion. Denn Supreme steht mit seiner Unterstützung für Familien, die durch Trumps "anti-immigration"-Politik getrennt wurden, und einer Kollektion mit Obamas Konterfei in einer völlig anderen politischen Ecke als die New York Post. Das Tabloid hingegen gehört zum Mordoch-Imperium und präsentiert sich eher pro Trump. So schreibt Kyle Hodge bei dem Streetwear-, Kunst- und Lifestyleblog Highsnobiety:

"Now, by plastering its logo over the Post’s front page, you could argue the skate brand has essentially taken a piss on a publication it stands ideologically opposed to. A bit like graffitiing a right-wing mural. In this dynamic, Supreme is the heretic interloper that has penetrated the establishment."

Altpapierkorb (#freepress, Dunja Hayali, Madsack & DuMont, taz zahl ich, ProQuote)

+++ Hunderte Medien in den USA haben heute Editorials zum Thema "the dirty war on free press must end" veröffentlicht. Der Anstoß ging vom Boston Globe aus. Die Aktion richtet sich gegen die pressefeindliche Haltung von US-Präsident Donald Trump. Auch die BBC und Watson berichten. Bei Twitter unter #freepress zu finden.

+++ ZAPP-Recherche, die Erste: Die Nebentätigkeiten von (prominenten) Journalistinnen und Journalisten werden zu Recht gut beobachtet und teilweise kritisiert (z.B. bei den Kollegen vom MDR, Link zu Altpapier). Für das Medienmagazin ZAPP haben nun Robert Bongen und Sinje Stadtlich die Jobs von ZDF-Journalistin Dunja Hayali ausgegraben, die im Sommer eine Veranstaltung der deutschen Glücksspielbranche moderierte. Der Hamburger Medienprofessor Volker Lilienthal sieht das kritisch: "Ich sehe da ein großes Problem, denn es ist ja überhaupt nicht wahrscheinlich, dass Frau Hayali über die Großunternehmen, die sie einladen und honorieren, nie wieder als Journalistin berichten muss." Hayali selbst sieht kein Problem: "Solange ich da das tue, was ich sonst auch immer tue auf der Bühne bei jedem Fachkongress, nämlich kritischen Journalismus, unabhängig, fair und respektvoll, solange sehe ich kein Problem." Hier geht’s zum ganzen Beitrag.

+++ ZAPP-Recherche, die Zweite: Aimen Abdulaziz-Said und Daniel Bouhs haben verschiedene Stimmen zur neuen gemeinsamen Hauptredaktion für Madsack und DuMont (kritische Einordnung: hier und hier im Altpapier) eingesammelt.

+++ Die taz ist sehr zufrieden mit den Einnahmen aus dem freiwilligen Bezahldienst "taz zahl ich". Mehr dazu im Hausblog.

+++ Zum Jahrestag des Geiseldramas von Gladbeck blickt der ehemalige Grimme-Chef und Journalistik Professor Bernd Gäbler beim Tagesspiegel auf die Lehren, die wir heute aus dem medienethisch katastrophalen Verhalten der Reporter von damals ziehen können: "Seit Gladbeck haben Journalisten auf jeden Fall gute Argumente, wenn sie nicht einfach in der Horde mitlaufen wollen. Und das Publikum kann sich nicht länger herausreden, es liege an den bösen Medien, wenn es lüstern in den Abgrund starren will." Das Redaktionsnetzwerk Deutschland hat ein großes Miltimedia-Special zum Thema aufbereitet.

+++ Bei ProQuote beobachtet man seit mehr als sechs Jahren den Anteil der Frauen in journalistischen Führungspositionen. "Der Kulturwandel wird sichtbar", heißt es in der neuen Erhebung. Den größten Fortschritt habe der Spiegel erzielt: "Die Hamburger liegen mit einem Frauenmachtanteil von 38 Prozent nicht nur an der Spitze der acht betrachteten Printmagazine, sie haben auch seit Beginn der halbjährlichen Zählung im Jahr 2012 am meisten aufgeholt." Am Ende des Rankings stehe die FAZ. Allerdings werden dabei nur Print- und Onlinemedien untersucht.

+++ Wer im ganzen Rechte-Wirr-War der Fußballübertragungen den Überblick verloren hat (diese Saison sind ja erstmals keine Champions-League-Spiele mehr frei im ZDF empfangbar), dem hilft Tobias Rabe bei FAZ.net weiter.

+++ Deutsche Serienmacher holen international deutlich auf, schreibt der österreichische Standard und sieht eine "Neue deutsche Serienwelle".

+++ Der vergangene Woche in diesem Altpapier aufgegriffene epd-medien-Artikel über die Belästigungsvorwürfe beim WDR steht jetzt hier online.