Das Altpapier am 6. September 2018 Draußen biegen sich die Bäume

Michael "Es gab keinen Mob" Kretschmer treibt Journalisten zur Verzweiflung. Alexander Gauland löst mit seinem Journalistenvertreibungs-Szenario recht wenig Kommentare aus. Außerdem: noch eine Homestory über Schnellrodas berühmtesten Ziegenhirten. Ein Altpapier von René Martens.

Wenn vor einigen Jahren die taz im Vorspanns einen Artikel über einen Politiker gefragt hätte:

"Ist er noch zurechnungsfähig?"

- dann hätte man das wahrscheinlich als eine typisch tazzige Flapsigkeit wahrgenommen. Aktuell stellt die taz diese Frage im Vorspann eines Meinungsbeitrags, und sie wirkt ganz anders, nämlich zum einen nüchtern und zum anderen - ich hoffe, das ist jetzt kein Widerspruch - ehrlich bestürzt.

"Diese Zeilen wurden voller Verzweiflung geschrieben",

lautet denn auch der erste Satz des Fließtextes von Juri Sternburg. Die Seite 1 der taz zu Kretschmers Botschaft "Es gab keinen Mob", die im Kanon der geflügelten Politikerworte irgendwo in der Nähe von "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort" einen ewigen Platz finden wird, ist dann wiederum sehr tazzig, und relativ tazzig endet übrigens der Kommentar in der SZ zu Kretschmers Regierungserklärung:

"Was für ein Ausfall. Oh Mann."

Auch ein anderer Satz hat nicht den Tonfall, der auf der Meinungsseite der SZ üblich ist:

"Am Mittwoch (…) gab er eine Regierungserklärung zum Verzweifeln ab."

Hier haben wir sie also schon wieder, die Verzweiflung.

Wenn Detlef Esslinger das so schreibt, dann kann man das als Symptom dafür sehen, dass es noch an journalistischen Kriterien mangelt für den Umgang mit Politikern, die sich offensiv aus der Realität verabschiedet haben und - das ist im Fall Kretschmer ja das wirklich Besorgniserregende - auch noch den Eindruck erwecken, dass sie wirklich glauben, was sie sagen.

Vorher geht Esslinger auf das ein, was in Kretschmers Lummerland-Weltbild keinen Platz findet:

"In Chemnitz liefen mehrere Tausend Menschen in einer Demonstration von bekennenden Nazis mit. Auf keiner einzigen Filmaufnahme ist zu sehen, dass wenigstens ein ‚ganz normaler Bürger‘ sich angewidert abgewendet hätte."

Die, nun ja, Medienkritik, die Kretschmer in seiner Rede unterbrachte, fasst Doreen Reinhard (Zeit Online) so zusammen:

"(Er packt) Pauschalurteile aus: Sächsische Lokalpresse lässt er sich gefallen, aber je weiter entfernt Berichterstatter von Chemnitz gewesen seien, desto undifferenzierter sei ihre Arbeit ausgefallen."

Und Antonie Rietzschel (SZ) schreibt:

"(Er) wiederholt in der Regierungserklärung seine Kritik an den Medien, wonach vor allem Journalisten von außerhalb ein hartes und pauschales Urteil über die Stadt gefällt hätten."

Kretschmer tut so, als habe es nur die Lokaljournalisten gegeben, und jene, die aus der Ferne die vielen, vielen Bilder analysierten. Den aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Journalisten von Spiegel Online, Zeit Online, T-Online, Watson, Funke-Mediengruppe, taz etc. spricht er indirekt die Seriosität ab, aber so etwas kennt man ja von ihm.

Robert Meyer kommentiert im Neuen Deutschland:

"Ich erinnere mich gut, wie mich ein protesterfahrener Kollege am Montagabend vor einer Woche aus Chemnitz anrief und sagte, er überlege, ob er sich von der Berichterstattung über den Nazi-Aufmarsch zurückziehe, weil die Situation ihm zu gefährlich werde. Er ging nicht, im Gegensatz zu anderen Reportern, die sich aus Angst um ihre Gesundheit in ihre Hotels oder Autos flüchteten."

Und Raphael Thelen, der für Spiegel Online aus Chemnitz berichtet hat, rekapituliert in diesem Thread noch einmal die Ereignisse (allerdings, wie mir scheint, nicht anlässlich von Kretzschmers Äußerungen, aber es passt an dieser Stelle).

Was mit Brandstiftern

Wenn man bedenkt, wie viel vor nicht allzu langer Zeit über das ZDF-"Sommerinterview" mit Alexander Gauland geschrieben wurde (Altpapier), in dem dieser inhaltlich bemerkenswert wenig sagte, ist es angesichts Gaulands relativ konkreter Ausführungen im gestrigen FAZ-Interview zu den Themen Umsturz und "Vertreibung" (Altpapier) doch auffällig ruhig.

Für den Tagesspiegel nimmt sich ein Elder Statesman des Hauses, der frühere Herausgebe Gerd Appenzeller, der "auch heute noch der Chefredaktion beratend zur Seite steht", der Sache an:

"Gauland will, das sagt er ganz offen, ein anderes System. Das wollten die Nationalsozialisten auch",

schreibt der 75-jährige. In der FAZ ist Gauland Thema im großen Kommentar (€) auf der Seite 1. Herausgeber Berthold Kohler greift vom "Brandstifter im Biedermann-Sakko" unter anderem die Äußerung auf, er wolle "diejenigen (…) Leute aus anderen Parteien und leider auch aus den Medien", die (Merkels) Politik "mittragen" aus "der Verantwortung vertreiben". Kohler dazu:

"Früher nannte man das Säuberung."

Was mit Kälbern

Dass die Nachricht, dass die Chefredakteure von ARD aktuell und des ZDF an einer von der AfD veranstalteten Podiumsdiskussion zum Thema "Medien und Meinung in Deutschland" teilnehmen, zuerst auf einer Antifa-Website zu finden ist, ist auch nicht unbedingt üblich. Etwas weitere Verbreitung fand die Meldung meinem Eindruck nach hier. Laut Zeit-Online-Autor Henrik Merker haben die Sender mittlerweile bestätigt, dass die Kälber sich mit jenen, die gern ihre Schlächter wären, aufs Podium hocken werden. Beziehungsweise: Kai Gniffke und Peter Frey werden unter anderem mit diesem feinen Herrn, der der "persönliche Referent" des Journalistenvertreibungstheoretikers Gauland ist, diskutieren.

Was mit Ziegen

Eigentlich dachte man, dass schon alle Witze gemacht sind über das Götz-Kubitschek-Homestory-Gewerbe, über "Medien, die auf Ziegen starren" (taz) bzw. "Journalisten, die auf Ziegen starren" (Journal Frankfurt), aber, nein, Maria Fiedler vom Tagesspiegel meinte unbedingt, sich aufmachen zu müssen zum berühmtesten Ziegenhirten Schnellrodas, damit sie selbst auch noch einen Platz im Witzfiguren-Kabinett bekommt. In ihren Text steigt sie so ein:

"Es ist das Ende eines drückend heißen Tages, in den Mauern des alten Hauses staut sich die Wärme. Götz Kubitschek sitzt mit seiner Frau und fünf seiner Kinder in der Küche. Auf dem Tisch stehen Salat, Ziegenkäse und selbst gebackenes Brot. Das Gespräch der Familie plätschert dahin, da zieht vor dem geöffneten Fenster ein Sturm auf. Es wird dunkler, draußen biegen sich die Bäume. Irgendwo im Haus schlägt eine Tür zu. Der Verleger schaut mit wohligem Lächeln hinaus. 'Das ist doch herrlich.'"

Ist das überhaupt noch parodierbar? Ja. Danke, Bov Bjerg.

Zur Zukunft des Radios

Um kurz vom Korb einmal von den in letzter Zeit hier üblichen Themen abzuweichen, läuten wir mal die neue Medienpreissaison ein. Schließlich wird heute der Deutsche Radiopreis verliehen. Und dem Thema Radio mal etwas mehr Platz einzuräumen, schadet auch nicht, denn dass passiert hier ja selten. Also, here we go: Imre Grimm hat die heutige Sause zum Anlass genommen, für die HAZ Joachim Knuth zu interviewen, Hörfunk-Programmdirektor des NDR und Miterfinder des 2008 eingeführten Preises.

"Sehen Sie denn die Zukunft des Radios auch in der Musik? Wofür brauchen wir von Werbung und Wetter unterbrochenes Chartradio, wenn doch Spotify, Apple Music oder Amazon Music den individuellen Geschmack viel besser spiegeln?",

will Grimm wissen. Jein, sagt Knuth. Beziehungsweise:

"Musik bleibt schon dominant – ist aber kein so wesentlicher Faktor mehr wie vor zehn oder 20 Jahren. Die Unterscheidbarkeit von Radiosendern wird nicht mehr so stark durch die Musikauswahl geprägt sein, sondern mehr durch Parasozialität, durch die Ansprache der Moderatoren, durch die klare Konturierung von Persönlichkeiten des Senders, durch intelligente Inhalte und durch etwas, das man 'Geborgenheit' nennen könnte (…) Die Senderfarbe wird wichtiger. Die Musikfarbe muss schon dazu passen, das bleiben kommunizierende Röhren. Aber als großer Treiber dafür, dass Menschen einen bestimmten Sender hören, wird Musik wohl an Bedeutung verlieren. Auch wenn die multiplizierende Distributionsmacht des Radios in Sachen Musik bestehen bleibt."

Das mag so sein, aber der Jargon ist ja nun ziemlich fürchterlich, und obwohl ich auch schon mit Knuth gesprochen beziehungsweise ihn reden gehört habe, ist mir das aus irgendeinem Grund in dieser Deutlichkeit bisher nicht aufgefallen. Pessimistisch interpretiert: Wenn das Reden über die Zukunft des Radios durch Formulierungen wie "Parasozialität", "Konturierung von Persönlichkeiten" und "multiplizierende Distributionsmacht" vernebelt wird, dann ist es um diese Zukunft möglicherweise nicht gut bestellt.

Altpapierkorb (Daniel Bröckerhoff, Emma, Jörg Hilbert, Hans-Georg Maaßen, Pelin Ünker)

+++ "Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Hans-Georg Maaßen hat frühzeitig versucht, Medienberichte über Spitzel im Umfeld von Anis Amri zu unterdrücken", und zwar in Form von "Drohbriefen", für die die Behörde Anwälte beauftragte. Das berichtet der Tagesspiegel. Die Schlapphüte bezeichnen die Drohbriefe demnach als "anwaltliche Korrekturbitten".

+++ Ebenfalls im Tagesspiegel: ein Interview mit "heute+"-Moderator Daniel Bröckerhoff, in dem dieser sagt: "Ich hab das Jammerlied des Vertrauensverlustes in die Medien nie wirklich mitsingen wollen, denn die Frage ‚Vertrauen Sie den Medien?‘ ist viel zu allgemein gestellt. Zwischen dem Boulevard und den öffentlich-rechtlichen Nachrichten liegen immer noch Welten. Nur weil ich einem bestimmten Medium nicht mehr vertraue, muss ich doch nicht gleich dem gesamten Journalismus die Liebe entziehen. Trotzdem ist durch das Internet klar geworden, dass Journalisten auch nur mit Wasser kochen – und manchmal ist es nicht mal lauwarm."

+++ Während einer Nazi-Demo in Hamburg hat einer der Teilnehmer den u.a. für "Panorama 3" tätigen ARD-Journalisten Jörg Hilbert geschlagen (Hamburger Morgenpost). Auf den Fotos wirkt das Ganze so, als schaue die Polizei sich das in Ruhe an. Der Schläger war einer von 125 (faz.net) bzw. 178 (Spiegel Online) dort aufmarschierenden Kamerad*innen. Ebenfalls vor Ort: 10.000 Gegendemonstranten.

+++ Roland Tichy, dieser Teufelskerl! Jetzt hat er doch tatsächlich die Zeitschrift Emma gekauft. Nee, stimmt natürlich nicht, aber sie liest sich so, als stimme es. Die taz berichtet.

+++ Am Aufmacher der heutigen SZ-Medienseite haben gleich vier Autor*innen mitgewirkt. Es ist zum einen ein Porträt der türkische Investigativ-Journalistin Pelin Ünker, die unter anderem in Sachen Paradise Papers recherchiert hat (Altpapier) und nun in Istanbul vor Gericht steht. Der Artikel geht aber auch auf weniger bekannte unschöne Phänomene ein, mit der türkischen Journalist*innen konfrontiert sind: "Ein strukturelles Problem der türkischen Medienlandschaft ist, dass die meisten Medien mit relevanter Reichweite in der Hand großer Mischkonzerne sind. Diese wiederum sind oft auch in der Bau- oder Energiebranche tätig, buhlen also um staatliche Aufträge; regierungskritische Berichterstattung beschädigt das Geschäft. Der Druck auf Journalisten, vor allem auf solche, die über Korruption berichten, kommt also nicht nur aus der Politik, sondern oft von den Eigentümern der eigenen Zeitung."

+++ Lohnt es sich, 50.000 Ocken für eine Anzeige in der FAZ auszugeben? Stuttgart-21-Gegner gedenken, dies zu tun, um "die Isolation aufzubrechen", in der sich die Bewegung momentan befinde, wie einer der Initiatoren der Anzeige sagt, aber die Wochenzeitung Kontext hat Zweifel, ob das Geld gut angelegt ist.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.