Das Altpapier am 30. November 2018 Omas Marmelade

Zur Razzia bei der Deutschen Bank wäre es ohne die #PanamaPapers wohl nicht gekommen. Und: Der Verteidiungsausschuss des Bundestages beschäftigte sich mit Recherchen von taz und Focus. Ein Altpapier von René Martens.

Dass ein Dokumentarfilm, der, zumindest in maßgeblichen Teilen, Einblick in journalistisches Arbeiten gibt, "Film der Woche" bei Spiegel Online wird und sogar "Film des Monats" bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bzw. deren "filmpädagogischem Online-Portal" kinofenster.de) - das kommt nicht allzu oft vor. "Aggregat" heißt der am Donnerstag in den Kinos gestartete Film, und er "macht auch, was diese Sendung, diese Kolumne versucht: Medienkritik. Und zwar ganz ohne zu poltern", sagt Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell in seiner Kolumne für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres".

Regisseurin Marie Wilke sagt im Interview mit kinofenster.de:

"Auch für Medienschaffende waren die vergangenen Jahre eine Zeit des Umbruchs. Ich hatte den Eindruck, dass eine gewisse Unsicherheit darüber, wie etwa über die ‚Neue Rechte‘ zu berichten sei, in den Redaktionen zur Folge hatte, über die eigene Arbeit neu nachzudenken (…) Ein bestimmtes Maß an Transparenz kann nur gut sein, also zu zeigen, dass etwas in der Berichterstattung schiefgeht oder Politiker/-innen an ihrer Arbeit zweifeln. Viele Menschen wissen vielleicht auch nicht genug darüber, wie Nachrichten und TV-Berichte entstehen."

Sie habe, so Wilke weiter, "genau diese Situationen, in denen Leute über ihre eigene Rolle nachdenken", aufnehmen wollen. Matthias Dell sagt:

"Meine liebste Stelle in dem Film ist die über ein Kamerateam vom ZDF, das den SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby portraitieren will – weil man daran sehen kann, wie beschränkt Journalisten mitunter auf die Welt schauen, ohne es zu merken. Diaby ist im Senegal geboren und kam Mitte der achtziger Jahre als Student nach Halle, wo im Übrigen schon im 18. Jahrhundert der Philosoph und Rechtswissenschaftler Anton Wilhelm Ano aus Guinea die Universität besuchte. Für den ZDF-Journalisten ist das alles aber nicht zu fassen, er will von Diaby immer nur wissen, wie es sein kann, dass er als schwarzer Mann deutsche Politik macht. Auf Nachfrage würde der Fernsehjournalist vermutlich sagen, dass er dauernd diese Fragen stellen muss nach der Hautfarbe von Karamba Diaby, weil das die Leute doch interessiert. Und dass er es nicht böse meint, es ist doch nur so ungewöhnlich: Ein schwarzer Mann macht deutsche Politik. Manchmal ist es schon krass, dieses 21. Jahrhundert – wer hätte das vor 40 Jahren gedacht?"

Man kann davon ausgehen, dass das Publikum weiter ist, als der Mann vom ZDF (das "Aggregat" übrigens mitfinanziert hat) zu glauben scheint. Jedenfalls schreibt Dell:

"Das Lustige ist, dass die Leute, mit denen der Fernsehjournalist dann spricht, die Menschen, die im Wahlkreis von Diaby leben, mit dessen Äußeren gar kein Problem haben. Sie kennen ihn und schätzen ihn, auch, weil er sich kümmert, wie einer sagt."

Wenn in den wenigen Minuten, die diese Passage im Film einnehme,

"immer nur auf die äußerliche Differenz von Diaby zu weißen Deutschen abgehoben wird, dann sagt dieses Kapitel von ‚Aggregat‘ eben schon etwas aus: wie voreingenommen man als Journalist auf die Welt schauen kann, wenn man die eigenen Rassismen nicht hinterfragt".

Regisseurin Wilke betont im Interview mit BR24, dass mit der Auswahl der Szenen keine Kritik an den dort zu sehenden Szenen verbunden sei:

"Einer der Ausgangspunkte für den Film war, dass ich selber beim Fernsehen gearbeitet habe und es damals sehr spannend fand, zu lernen, mit welchen Bildern, Tönen, Aussagen über Politik berichtet wird. Deshalb wollte ich auch diesen Blick hinter die Kulissen werfen. Wie wird entschieden, was in einem Beitrag mit welchen Worten an welcher Stelle platziert wird und mit welchen Bildern? Man sieht im Film, dass da an jeder Stelle Entscheidungen fallen und gewichtet wird. Ich habe sehr tolle Journalisten begleitet, diese Stellen sollen keine Abwertung journalistischer Entscheidungen sein, sondern die Beobachtung der Arbeit dahinter."

Dells Fazit lautet:

"Man kann viel verstehen über die Medien und Demokratie, wenn man sich ‚Aggregat‘ anschaut."

Aus im Detail natürlich anderen Gründen gilt dieser Satz auch für die Doku-Serie "Mission Wahrheit – Die New York Times und Donald Trump", die noch bis zum 5. Dezember in der Arte-Mediathek abrufbar ist. Für die Medienkorrespondenz habe ich eine ausführliche Nachkritik verfasst. Einige der Fragen, die in "Aggregat" eine Rolle spielen, poppen - logischerweise in einem anderen Kontext - auch in "Mission Wahrheit" auf.

Die New York Times und ihr Chefredakteur Dean Baquet sowie deren aktuelle Strategie sind wiederum Thema in dem Buch "Breaking News: The Remaking of Journalism and Why It Matters Now", verfasst vom früheren Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger. Aus einer Rezension James Meeks für die neue Ausgabe der London Review of Books sei allerdings ein anderer Aspekt herausgegriffen:

"The internet hasn't so much changed people's relationship to news as altered their self-awareness in the act of reading it. Before, we were isolated recipients of the news; now, we are self-consciously members of groups reacting to news in shared ways. Marvellously, this facilitates solidarity for the truly oppressed, for campaigners, for those with minority interests. But it also means that the paranoid, the suspicious, the xenophobic and the conspiracy-minded know they're not alone. They're conscious of themselves as a collective, as an audience, weeping, cheering, heckling and screaming from the safety of the darkness over the stalls, occasionally pulling on a mask to jump onto the stage and pull down the trousers of the performers or to start a false panic that the theatre is on fire."

Die "Schnüffel-Fibel"-Lüge

Hinzuzufügen wäre an dieser Stelle, dass ja auch problematisch ist, dass die unbekannten Mitglieder letzterer Gruppe oft gar nicht mehr zu unterscheiden sind von manchen professionellen Journalisten bzw. die Grenzen fließend sind. Ein aktuelles Beispiel für "false panic that the theatre is on fire" rekapitulieren die Belltower News. Die Geschichte beginnt so:

"Die Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung hat eine Handreichung herausgebracht (…): 'Ene, mene, muh – und raus bist du! Ungleichwertigkeit und frühkindliche Pädagogik'. Es geht um Ideen für den Umgang mit Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Rassismus im Kita-Kontext."

In der Broschüre, so Belltower News weiter, gehe es

"um Fallanalysen aus dem Bereich Kita-Arbeit, die Pädagog*innen, Träger oder Eltern vor Fragen stellen: Was tun, wenn bekannt wird, dass eine Kita-Erzieherin in der organisierten rechtsextremen Szene aktiv ist? Was tun, wenn ein Kind in der Kita Hakenkreuze zeichnet und sagt, zu Hause sei dies etwas Gutes? Wie damit umgehen, wenn Erzieher*innen oder Eltern flüchtlingsfeindliche oder rassistische Aussagen in der Kita vor Kindern treffen, geflüchtete Kinder oder Eltern direkt angreifen oder subtil ausgrenzen wollen? Wie lässt sich argumentieren, wenn Eltern sich darüber empören, wenn Beispiele von Familienvielfalt in der Kita thematisiert werden? Erläutert werden Gegenstrategien, die für alle Kinder in der Kita Vielfalt erlebbar machen: Demokratiepädagogik, vorurteilsbewusste und anti-rassistische Erziehung."

So etwas ist der Bild-Zeitung natürlich höchst suspekt, weshalb sie aus der Broschüre eine "Schnüffel-Fibel" macht. Stefan Niggemeier bei Übermedien dazu:

"‚KEIN WITZ!‘, schreibt ‚Bild‘, und tatsächlich ist das, was sie da über eine vermeintliche ‚Schnüffel-Fibel‘ der Amadeu-Antonio-Stiftung aufgeschrieben hat, kein Witz, sondern eine Lüge."

An dem Belltower-Text ist vor allem die detaillierte Chronologie interessant. Man kann hier nachverfolgen, wie äußerst rechte Blogs im Oktober das Thema zuerst aufgriffen, wie dann die AfD einstieg, dann die Junge Freiheit und Ende November schließlich … Angesichts dessen, dass die Amadeu Antonio Stiftung zu den Lieblings-Hassobjekten der hiesigen Anti-Antifa-Journalisten gehört, ist es allerdings erstaunlich, dass es so lange gedauert hat.

Bei Übermedien geht Niggemeier in seiner Kritik an der Falschberichterstattung über die nicht mehr ganz neue Kita-Broschüre noch auf einen weiteren Aspekt ein:

"Als Autoren für die Verdrehung der Tatsachen sind in Bild die Redakteure Ralf Schuler und Florian Kain genannt. Doch den größten Teil der Arbeit hat ihr Kollege Gunnar Schupelius vom Schwesterblatt B.Z. zwei Tage zuvor gemacht. Ihr Text ist über weite Strecken fast identisch mit seinem; auch die sinnentstellende Verkürzung der Zitate haben sie von ihm übernommen."

Recherche wirkt?!

Bereits zweimal Thema an dieser Stelle (am Montag und am Mittwoch) waren die geringen medialen Reaktionen auf taz- und Focus-Recherchen über ein rechtes Untergrund-Netzwerk im Bundeswehr-Milieu. Immerhin haben nun Parlamentarier "in einer nichtöffentlichen Sitzung des Verteidigungsausschusses am Mittwoch das Verteidigungsministerium zu Antworten auf offene Fragen" gedrängt, wie die taz in auch eigener Sache schreibt. Erfreulich sei das Ergebnis der Veranstaltung aber nicht:

"Die Grüne Agnieszka Brugger sprach am Mittwoch von einem ‚höchst befremdlichen Auftritt‘ der Regierung im Verteidigungsausschuss. ‚Anstatt bei derart gravierenden Berichten und Hinweisen schnellstmöglich und gründlich aufzuklären, gab es Ausweichmanöver, unbeantwortete Fragen und Verharmlosung.'"

Der Begriff Verharmlosung dürfte sich vor allem auf die im Folgenden von der Welt geschilderte pappnasige Wortmeldung beziehen, die wiederum auf die in den Recherchen erwähnten Prepper Bezug nimmt:

"Seine Oma habe Gläser mit Marmelade und andere Konserven im Keller, so sagte der Parlamentarische Staatssektretär Peter Tauber (CDU) nach Teilnehmerangaben am Mittwoch im Verteidigungsausschuss des Bundestages. Damit sei seine Großmutter im Prinzip ja auch ein ‚Prepper‘. Gefährlich sei sie deswegen noch lange nicht. Ein Vergleich, der hinter verschlossener Tür für einige Empörung sorgte."

Daran, womit Tauber zuletzt für Empörung sorgte, muss man in diesem Kontext natürlich unbedingt erinnern.

Zwei andere Beispiele dafür, welche Auswirkungen journalistische Arbeit haben kann, lassen sich gerade in Frankfurt und Straßburg ausmachen.

"Die Ermittlungen fußen unter anderem auf Informationen aus den ‚Panama Papers‘, einem Datensatz, der der Süddeutschen Zeitung zugespielt worden war",

berichtet eben diese Zeitung anlässlich der Razzia bei der Deutschen Bank.

Auch tagesschau.de geht auf die journalistischen Leistungen in diesem Zusammenhang ein. Und das EU-Parlament hat gerade beschlossen, "die erste europäische Untersuchung eines Finanzskandals durch die europäischen Finanzaufsichtsbehörden auf den Weg zu bringen", wie der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold meldet". Auslöser in diesem Fall waren - und Giegold erwähnt das auch - die Recherchen zu CumEx von Correctiv, "Panorama" und Co.


Altpapierkorb (Kai Gniffke redet wieder mit Rechten, Pressefreiheit in Ungarn, G20, "Galileo", Charlotte Roche)

+++ "Sie werden noch mit dem Erschießungskommando über das Kaliber der Munition diskutieren wollen", twitterte der Buchautor Marcus Hammerschnitt vor rund einem Monat, nachdem sich "ARD aktuell"-Mastermind Kai Gniffke und ZDF-Chefredakteur Peter Frey auf ein Podium mit AfD-Leuten gehockt hatten. Dass Gniffke seitdem zur Besinnung gekommen ist, lässt sich nicht sagen. Nun hat er getreu dem alten Oliver-Kahn-Motto "Weiter, immer weiter" der Jungen Freiheit ein Interview gegeben. "Was kommt als nächstes? Ein Auftritt mit #Elsässer bei #Compact?", fragt der freie (unter anderem für den MDR tätige) Journalist Silvio Duwe. By the way: Neues im Zusammenhang mit Compact stand am Donnerstag im Politikteil der SZ.

+++ Heute berichtet die SZ über die gerade in Ungarn formierte "mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung": "Zahlreiche Zeitungen, Magazine, TV- und Radiostationen sowie Internetportale, die bisher im privaten Besitz verschiedener Oligarchen aus dem Umfeld von Ministerpräsident Viktor Orbán waren", würden in dieser Stiftung zusammengefasst, schreibt Peter Münch. "Durch diese Blockbildung werden unabhängige Medien zunehmend isoliert." Auf der Meinungsseite der SZ kommentiert Münch: "Schritt für Schritt höhlt Orbán vor den Augen der europäischen Partner so die ungarische Demokratie aus."

+++ Anlässlich des G20 in Buenos Aires hat die taz mit der argentinischen Journalistin Carolina Balderrama gesprochen, die kürzlich von der staatlichen Nachrichtenagentur Télam gefeuert wurde. Die taz fragt: "Sie sind Teil des feministischen Forums gegen G20. Gehören für Sie Journalismus und Aktivismus zusammen?" Balderramas Antwort: "Wenn ich sage, ich bin feministische Journalistin und Dozentin, dann meine ich damit eine gesellschaftliche Position und daran anknüpfend meine politische Perspektive auf die Welt. Journalismus bedeutet für mich notwendigerweise, eine Haltung anzunehmen. Ich glaube nicht an die sogenannte Objektivität."

+++ Ebenfalls in der taz: Pro Siebens Knowledgetainment-Sendung "Galileo" wird am heutigen Freitag 20 Jahre alt.

+++ Aus dem im September erschienenen Jahrbuch Fernsehen 2018 hat die Medienkorrespondenz nun ein Interview Lutz Hachmeisters mit Philipp Käßbohrer, Geschäftsführer der Kölner Produktionsfirma BTF, online gestellt. Zahlreiche Themen - von der von der BTF mitentwickelten "Docupy"-Plattform bis zu Käßbohrers früherer Mitwirkung an der FAS-Kolumne "Teletext" - werden hier mehr als nur gestreift. Herausgegriffen sei ein Zitat des Interviewten zum TV-Fiction-Markt: "Ich vermute (…) dass diese mittelmäßig mutigen Kunst-'Tatorte' das ein oder andere Regietalent auf dem Gewissen haben. Zum Glück wird das System gerade unweigerlich von außen herausgefordert. Durch Netflix, Amazon & Co. ist der deutsche Content-Raum eben nicht mehr abgeschlossen. Diese Partner erwarten, dass man über die Landesgrenzen hinaus denkt. Die Serien werden in 15 Sprachen übersetzt. Zudem ist es durch diese globale Verfügbarkeit für die deutschen Sender schwerer geworden, Programm aus dem Ausland nachzuahmen. Heutzutage nimmt einem das Publikum sowas übel. Oder zumindest das Feuilleton. Immerhin. Es wurde ja jahrzehntelang Programm gemacht nach dem Motto: 'Hat das schon mal irgendwo funktioniert? Können wir das adaptieren?' Das war nicht sehr innovationsfördernd."

+++ Auf den Internationalen Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit, der an diesem Sonntag vergeben wird und darauf, wer eigentlich Johann Philipp Palm war - darauf geht Altpapier-Autor Christian Bartels in seiner Medienkolumne bei evangelisch.de ein.

+++ Zur aktuellen Folge der NDR-Reihe "Die Geschichte eines Abends", die in der Nacht von Freitag auf Samstag läuft, hat Hannah Scheiwe u.a. für die HAZ mit Moderatorin Charlotte Roche gesprochen. Roche sagt: "Die Sendung ist ein richtiges Psycho-Experiment. Wir haben da viele Stunden zusammen verbracht, gemeinsam gekocht, gegessen, gesoffen, gesungen, Lagerfeuer gemacht. Keiner von den Gästen darf Werbung machen. Die dürfen nicht dieser abgefuckte Profi sein, der in der Talkshow sitzt und Werbung für sein Buch macht. Wie ich das sonst immer mache. Es geht um den echten Menschen hinter dem Profi. Das erfordert richtig viel Mut, ernsthaft über seine Ängste zu sprechen oder über seine verstorbenen Eltern und solche Themen." Mittlerweile frei online steht der ausführliche FAS-Text zur Sendung (siehe Altpapier von Montag).

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. Schönes Wochenende!