Das Altpapier am 1. Februar 2019 Alle wollen createn

…Und manche tun’s auch: Nach dem Ende der Spex ist nun das neue spex.de da, und es sieht gut aus. Hinter den Kulissen bei RTL tut sich Kompliziertes, aber Interessantes. Und es gibt ein frisches Beispiel für ARD-Mediatheken-Kuddelmuddel. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Es ist der 1. des Monats, und es beginnt etwas Neues. Nein, es ist nicht die erstmalige Übertragung der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises im Livestream auf wdr.de mit anschließender Zusammenfassung im beliebten öffentlich-rechtlichen Kanal One gemeint (Platz 73 auf der Fernbedienung). Diese Verleihung war schon am 31. Januar, und sie war in den Ausschnitten, die ich gesehen habe – ("Ich bedanke mich bei den Produzenten, die sind heute leider nicht da") – so glamourös, dass man sagen kann: wdr.de war ein angemessen reichweitenstarker Gastgeber.

Nein, was tatsächlich am heutigen 1. Februar an den Start geht, ist das neue spex.de. Nach der nicht überraschenden, aber überraschend kommenden Einstellung des gedruckten Popkulturmagazins ist das die beste Nachricht, die es zum Thema geben kann.

Der spex.de-Chefredakteur Dennis Pohl, der "das Projekt in den vergangenen Wochen in der Redaktion in Berlin-Kreuzberg fast im Alleingang voran getrieben" hat, wie der Tagesspiegel schreibt (was freilich heißt: An den Arbeitsbedingungen der Redaktion hat sich so viel eher nicht geändert), hat angekündigt, "dass wir nicht den bekannten Unkenrufen folgen, nach denen Journalismus im Internet nur mit Massendenken, gefälligem Inhalt und mit hoher Geschwindigkeit in die Welt geschleuderten Neuigkeiten funktioniert."

Pohls Editorial auf der neuen Site geht an dieser Stelle weiter. "Fickt das System!" ist es, höchstens mittelhermetisch, überschrieben, und das System, das Pohl hier meint, ist das "System der Mittelmäßigkeit" des Onlinepublizierens und der "algorithmisch gesteuerten Filterblasen von Spotify, Facebook und anderen Anbietern":

Pohl:

"Allzu sorglos haben wir unsere Diskursräume einer Handvoll IT-Riesen überlassen und dabei schrittweise unser Denken und Schreiben an deren Geschäftslogik angepasst. Was verkauft sich gut? Gute Laune und affirmative Gesten. Oder Hass und kategorische Ablehnung. (…) Ein gut geölter Mechanismus, das Vielfalt und Herausforderndes gezielt unterwandert."

Das ist also die etwas größere Geste, aber dass das neue spex.de mit weniger beginnt als mit der Formulierung eines Gegenentwurfs zu einem Bereich, den man mal Mainstream nannte, hätte man auch nicht unbedingt erwarten dürfen. Geschweige denn wollen.

Wer Pohls Text zu Ende liest oder nach unten scrollt, wird eingeladen, in die Spex Nr. 71 von 1986 reinzulesen, was ein sehr kluger Move ist. Und dass vorher dann der Abschluss eines Digitalabos steht, auch: 12,61 Euro für ein Jahr oder 8,40 Euro für ein halbes (je plus Mehrwertsteuer). Im Tagesspiegel steht, in den kommenden Wochen solle gar "das komplette Archiv aller 'Spex'-Ausgaben" fertig werden. Derzeit gibt es schon einen Sack voller Texte auf der Site; wenn ich das richtig gedeutet habe, sind viele davon aber aus dem jüngsten Heft. Ob in Zukunft dann jeden Tag oder nur jeden vierten oder zwölften etwas Neues auf spex.de gestellt werden kann, wird man erfahren. Aber 12,61 Euro würden viele Leute, die spexaffin sind, womöglich sogar fürs Archiv alleine bezahlen.

Was los is’ beim RTL

Bei RTL scheint es eine leichte Zurückhaltung zu geben, was die Wiederbelebung von Archivinhalten betrifft: Dort feiert man den 35. Geburtstag, der eigentlich am 2. Januar war, heute zwar in einer Liveshow mit den "Recken der ersten Tage", wie Michael Hanfeld in der FAZ schreibt – gemeint sind etwa Ulla Kock am Brink, Katja Burkard, Marijke Amado, Joachim Llambi, Frauke Ludowig, Ulrike von der Groeben. Allerdings läuft die beim kleinen RTL-Ableger RTLplus.

Ansonsten ist die Stimmung dem äußeren Anschein nach ganz gut beim RTL: lauter lachende Gesichter auf dem taufrischen Gruppenfoto der neuen RTL-Gruppen-Führung. Dass die aus sechs Menschen besteht, ist ideal, weil sie sofort den stern.de-Test zur "Kultserie 'Friends'" machen können: "Ross, Rachel, Phoebe, Joey, Monica oder Chandler – welcher der Freunde bist du?" Gut, das Geschlechterverhältnis von "Friends" (3:3) und RTL ist nicht exakt identisch, aber zwei Frauen mehr oder weniger machen das Kraut nicht fett.

Entscheidend an dem, was bei RTL passiert, ist, dass Bertelsmann "das Zeitschriften- und Fernsehgeschäft in Deutschland näher zusammen" rückt. Schreibt die Süddeutsche. Stephan Schäfer, bislang Produktchef von Gruner + Jahr, wird demnach auch Inhaltechef von RTL, wobei es in der FAZ etwas genauer steht, falls jemand bei der nächsten WG-Party ein bisschen Stoff zum Angeben braucht: Schäfer sei nun zuständig für das "Senderportfolio, die Online-Plattform TV Now, Marketing, Produktionsmanagement und Programmeinkauf".

Hanfeld in der FAZ findet jedenfalls den Strukturwechsel zwar "nicht gerade unkompliziert", die entstehende Struktur aber, so steht es in der Print-Unterzeile, "interessant". Den neuen RTL-Chef Bernd Reichart zitiert Hanfeld, dieser glaube, "dass man die Herausforderungen besser als Team bewältige und wolle 'wirklich sicherstellen, dass wir Verantwortungen delegieren’ (…). Er wolle, 'dass wir uns in der Mediengruppe meeten', nicht um Entscheidungsvorlagen zu erstellen, sondern, dass wir meeten', um Entscheidungen zu treffen". Teams funktionierten am besten, wenn sie 'komplementär' und 'heterogen' seien; Führung bedeute vor allem 'Möglichmachen'."

Mediatheken-Kuddelmuddel

Den Realitätscheck hätte zumindest die Sprache der SWR-Serie "nach einer Idee von Harald Schmidt", "Labaule & Erben", damit nebenbei quasi bestanden. Altpapier-Kollege Christian Bartels schreibt in seiner evangelisch.de-Kolumne, er habe "überdurchschnittlich oft gelacht, auch wegen der Bezüge zum Mediengeschäft. Es wird gerne geredet und wenig zugehört und hagelt Anglizismen à la 'Die Leute wollen ja createn!'".

Eigentlich geht es beim Kollegen Bartels aber vor allem um die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen. In einigen findet man auch "Labaule & Erben", die "längst nicht allein für eine Spätschiene im SWR-Fernsehen produziert" worden sei:

"Sie steht noch bis Ende Juni in den Mediatheken. Allerdings nicht in der prominentesten ARD-Marke (mediathek.daserste.de: "Ihre Suche nach 'labaule' ergab keine Treffer").  Ardmediathek.de zeigt bei derselben Suche zwar "Keine Inhalte vorhanden" an, aber doch zugleich die sechs Folgen, bloß mit dem Deutsche Bahn-Problem der umgekehrten Reihung, also von links nach rechts und oben nach unten mit Folge 6/6, Folge 6/6 mit AD (Audiodeskription), Folge 5, Folge 5 mit AD undsoweiter. Allerdings gibt es überdies die Abteilung ardmediathek.de/swr, in der 'Labaule …' derzeit ganz oben und richtig rum, mit Folge 1 als erster, erscheint."

Kuddelmuddel at its finest also, allerdings sei die ARD-Mediathek "vom Erscheinungsbild gar nicht mehr übel" – nur wirke sie halt auch "geradezu entlarvend":

"Wie viele neue Filme mit ähnlichen Titeln und ähnlichen Szenenfotos um Aufmerksamkeit buhlen, zeigt sich umso besser, wenn alles übersichtlich neben- und untereinander steht. (…) ARD und ZDF senden oft noch so, als seien ihre allerwichtigsten Wettbewerber ZDF und ARD. Dabei sind es tatsächlich doch die kostenpflichtigen und (wenn man vom Datenfluss absieht) kostenlosen, nicht sendende, sondern streamende US-amerikanischen Plattformen."

Mit denen wiederum auch RTL und die anderen Privaten zu tun haben:

"Mit seinem Team will der neue RTL-Chef nun das Tempo aufnehmen, das die Sendergruppe braucht, will sie der mächtig investierenden Konkurrenz von Netflix und Amazon und den sich ebenfalls mit ihren Mediatheken aufs Netz und auf Abruf-Fernsehen einstellenden öffentlich-rechtlichen Sendern begegnen."

Schreibt Michael Hanfeld noch weiter in seinem RTL-Artikel in der FAZ. Noch ein wenig weiter im Pingpong mit Christian Bartels’ Kolumne; er schreibt:

"Statt vieler kleiner, einer fürs 'Erste' und einer für die ganze ARD etwa, wären wenige größere, ohne unnötige Datensammlung personalisierbare Plattformen sinnvoll. Sowieso mit dem ZDF, auch mit anderen europäischen Sendern (wie es der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm ohne sehr viel Resonanz in Deutschland vorschlägt) und gerne auch gemeinsam mit Angeboten privater Sender und Presseverlage."

Was – Umsetzungsfragen jetzt mal außen vor – fürs Publikum ganz gewiss nicht schlecht wäre. Das Problem, das alle kostenpflichtigen Streamingdienste haben dürften, ist schließlich, und da gehe ich jetzt von meinem Umfeld aus, dass man nicht alle abonniert, sondern im Zweifel eher mal das 1-Monats- oder gar kostenlose Probeabo abschließt, um sich die eine Sache, die man bei einem Dienst sehen will, anzuschauen und dann wieder die Biege zu machen.

Leonhard Dobusch oder Wie man was movet

Der Wiener Organisationsforscher Leonhard Dobusch, der im ZDF-Fernsehrat sitzt, der am Mittwoch im Grimme-Institut in Marl die "Besondere Ehrung" des Bert-Donnepp-Preises entgegengenommen hat, schlägt ebenfalls einen Ersatz für alle kleinen Mediatheken vor (siehe etwa ein Altpapier aus dem Juni):

"Der Vorschlag einer Internetintendanz bedeutet nicht, einen weiteren Apparat aufzubauen. Dann hätte ich es Internetanstalt genannt. Die Internetintendanz hat auch nicht den Auftrag, Inhalte zu produzieren oder Aufträge dafür zu vergeben. Ihre Aufgaben wären allen voran der Aufbau und Betrieb einer zentralen öffentlichen Plattform, die alle kleinen Mediatheken ersetzt."

Beinahe wünscht man sich, es würde sich innerhalb der werten Entscheidungsfindungszuständigkeit nach dem Vorbild der neuen RTL-Chefetage öfter jemand "'meeten, nicht um Entscheidungsvorlagen zu erstellen, sondern (…) meeten', um Entscheidungen zu treffen".

Den Preis bekommen hat Dobusch allerdings nicht für diese Idee, sondern dass er "für das vom Bundesverfassungsgericht geforderte 'Mindestmaß an Transparenz' im öffentlich-rechtlichen Gremiengefüge" sorge. Er erzählte in Marl, wie man bestimmte Sitzungsvorlagen aus einer öffentlichen Sitzung, die trotzdem nicht an die potenziell räumlich anwesende Öffentlichkeit, die quasi "eine Gerichtsöffentlichkeit" sei, verteilt werden dürften, dann auch wirklich öffentlich mache. Er lese sie laut vor, sagte er. Wenn dann das mündlich Vorgetragene vertwittert würde…

Ja, man muss createn, um was zu moven.

Altpapierkorb (Fernsehpreis, Relotius-Diskussion, Hitzlsperger/ARD, VW, Broder)

+++ Die Preisträgerinnen und Preisträger des Deutschen Fernsehpreises sind übrigens nicht geheim, sie stehen hier oder z.B. bei DWDL, wo es auch ein Liveblog gab.

+++ Neues für ein deutsches Publikum habe ich nicht darin gefunden. Trotzdem vielleicht interessant, dass sich der New Yorker der Relotius-Geschichte angenommen hat.

+++ Andreas Wolfers, Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule, führt die Diskussion zum Thema in der Zeit weiter: "Vor allem Journalisten, die Geschichten erzählen, sollten mehr davon offenbaren, wie diese Geschichten zustande gekommen sind. Kein anderes Genre verlangt einen höheren Vertrauensvorschuss ab als die Reportage. Weil ihr Wahrheitsgehalt sich, anders als etwa bei einer Nachricht, so schwer überprüfen lässt, all diese flüchtigen Momente, beiläufigen Zitate, biografischen Details unbekannter Menschen."

+++ Wir vom Altpapier dürfen, weil unsere kleine mächtige Kolumne beim MDR, also bei der ARD erscheint, Thomas Hitzlsperger weiterhin einen Kollegen nennen, hurra! Hitz, wie wir ihn in der Kantine rufen würden, wenn er oder wir je da wären, bleibt bis Mitte 2020 Fußball-Experte der ARD. Er vereine "'sämtliche Eigenschaften, die bei unseren Zuschauerinnen und Zuschauern gefragt sind: fachliche Kompetenz, Mut zur eigenen Meinung sowie die nötige Lockerheit und Sprachgewandtheit', begründete ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky am Donnerstag in einer Pressemitteilung die Vertragsverlängerung". Heißt es zum Beispiel bei faz.net, um nicht ausgerechnet sportschau.de zu verlinken. Ein Beispiel für die wohl gemeinte Sprachgewandtheit findet man beim SWR online. Ist Hitzlsperger als Botschafter des Deutschen Fußball-Bunds für Vielfalt und als Präsidiumsmitglied des VfB Stuttgart der Richtige, um für die öffentlich-rechtliche ARD – zum Beispiel wieder am 5. Februar – die Ereignisse rund um einen vom DFB ausgerichteten Wettbewerb mitzukommentieren, an dem auch der VfB Stuttgart jedes Jahr teilnimmt? Dass Distanz zum Berichterstattungsgegenstand eigentlich schon auch was Feines ist, haben wir hier schon mal angemerkt. Das müssen wir also nicht nochmal machen.

+++ Stefan Winterbauer kommentiert den sog. Shitstorm, den sich Henryk M. Broder für sein Umarmungsfoto mit Alice Weidel eingefangen hat, bei Meedia: "Hier, in diesem speziellen Fall des Umarmungs-Fotos, hätte man (…) wirklich mal die Füße stillhalten können. Aber das scheint ja nicht zu gehen. Der Reiz der schnellen Klicks und der Instant-Aufmerksamkeit durch Social Media ist für Medien und Journalisten schlicht zu groß. Jeder Witz, jede Pointe muss mitgenommen werden, jeder Affekt muss bedient werden für den schnellen Klick und das schale Like. Sie können offenbar nicht anders." Ein Broder-Interview gibt es auch. Fun fact: In der Nacht zum Freitag meist- und zweitmeistgelesen bei Meedia. Theoretisch hätte man auch die Füße still halten können.

+++ Eine "Debatten-Karambolage" in der Tempolimit-Diskussion sieht Andrej Reisin bei Übermedien: "Würden mit einem Tempolimit auf deutschen Autobahnen weniger Menschen im Straßenverkehr ums Leben kommen? Um diese Gretchenfrage der Tempolimit-Debatte drehen sich seit Tagen praktisch alle Medien im Lande. Und obwohl die Antwort nicht eindeutig ausfällt, suggerieren die meisten von ihnen ihren Leser*innen das Gegenteil." Also Eindeutigkeit. Hier die eine, dort die andere.

+++ "Gängelt Volkswagen tatsächlich Journalistinnen und Journalisten?", wie es am Mittwoch auch hier im Altpapier in Bezug auf Horizont geheißen hatte? Max Hägler sieht die Sache in der SZ differenziert. "Für die Süddeutsche Zeitung waren die Bedingungen letztlich hinnehmbar: Keine Fotos, Check der Fakten, Sperrfrist kommende Woche."

Neues Altpapier gibt es am Montag. Schönes Wochenende!