Das Altpapier am 26. März 2019 Wenn ein Sender Kamele mietet

Ist beim WDR der Programmdirektor mächtiger als der Intendant? Kommt bald eine Art #FridaysforFuture der Medienkritik? Ein Altpapier von René Martens.

Vermutlich endet in Straßburg im Laufe dieses Vormittags "eine selten gesehene Schlacht von Lobbyisten und Meinungsmachern, voller Falschmeldungen und Verschwörungstheorien" (Enno Park, t3n.de). Da die Parlamentssitzung in der Endproduktionszeit dieser Kolumne stattfindet und das Altpapier ja ein Meta-Medien-Format ist, verweisen wir, was die Abstimmung zur Urheberrechtsreform angeht, schon mal aufs morgige Altpapier - und natürlich auf das von beispielsweise Freitag und Montag (und tagesaktuell auf Phoenix).

Ein Text zur Urheberrechtsreform, der vermutlich noch einige Tage nachhallen wird, ist heute auf Seite 17 im Wirtschaftsteil der FAZ (€) erschienen, er dreht sich um die Frage, wie es dazu kam, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier innerhalb von 24 Stunden seine Haltung zu einem entscheidenden Detail umwarf - und was das wiederum zu tun hat mit dem "Streit um die Nord-Stream-2-Gaspipeline" und Mathias Döpfners "direkten Zugängen" zu Ministern, unter anderem zu Altmaier.

Im Altpapier bisher keine Rolle gespielt hat die Kritik an der Berichterstattung über den Fall der seit dem 18. Februar in Berlin verschwundenen 15-jährigen Rebecca R. Was die Bild-Zeitung seitdem mit diesem Fall angestellt hat, rekapituliert der Bildblog. "Mehr als 20" Artikel hat Ben Hoffmann gezählt - erschienen "auf den prominentesten Plätzen im Blatt, riesengroß, fast jeden Tag". Hoffmann schreibt:

"Dass 'Bild' so viel über den Fall Rebecca berichtet, liegt wohl auch daran, dass die Ermittler der Zeitung gegenüber äußerst gesprächig sind. Immer wieder zitiert das Blatt 'aus Ermittlerkreisen', veröffentlicht viele exklusive 'BILD-Informationen', die nur von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft stammen können (…) Auch Verwandte von Rebecca sprachen in ihrer Verzweiflung immer wieder mit Reportern, wurden von der 'Bunten' interviewt, von RTL, von den 'Bild'-Medien (…)."

All das reicht Reichelts Leuten aber nicht:

"Schon zu Beginn des Falls lungerten sie vor dem Haus von Rebeccas Schwager, der zwischenzeitlich als Tatverdächtiger verhaftet wurde, protokollierten, wer ein und aus ging und fotografieren den Mann, sobald er das Haus verließ."

Hoffmann geht in seinem Text auch ein auf die Kritik der Vereinigung der Berliner Strafverteidiger. Die hatte mediale Darstellungen - nicht nur - der Bild-Medien moniert, die "in der frühesten Phase des Verfahrens bewusst das (untergraben), was der Rechtsstaat um seiner selbst willen garantieren will und soll: Unvoreingenommenheit und Fairness gegenüber einem Verdächtigten". Siehe dazu auch einen etwas mehr als zwei Wochen alten Text aus der Welt am Sonntag (€) und die Ende der vergangenen Woche von der Anwältin des Schwagers gegenüber dem RBB formulierte Kritik an "Ermittlern und Medien".

Eilanordnung der Staatsanwaltschaft Frankfurt

Um bei der Bild-Zeitung zu bleiben: Die hat sich gerade als potenzielles Staatsanwaltschafts- bzw. Durchsuchungs-Opfer inszeniert. Woraufhin nun wiederum die angegriffene Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main reagiert hat. Darüber berichtet Konrad Litschko für die taz. Hintergrund sind Ermittlungen gegen Neonazis, die unter dem Namen "NSU 2.0" die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz bedroht haben:

"Nach taz-Informationen soll in einem der Drohschreiben auf einen bild.de-Text verwiesen worden sein. Die Ermittler wollen nun offenbar prüfen, wer alles diesen Artikel aufgerufen hat (… Man habe dem Axel-Springer-Verlag am Freitagabend per Email und Fax eine Eilanordnung zukommen lassen, die diesen zur Herausgabe der Daten verpflichtete, erklärte die (Staatsanwaltschaft) (…) Eine Durchsuchung sei nie beabsichtigt gewesen (…) Es sei nur um die Sicherung der Zugriffsdaten gegangen, um die 'massiven Straftaten mit zeugenschaftlicher Unterstützung durch ein Medienunternehmen aufzuklären'. Der Verlag habe inzwischen zugesichert, die benötigten Daten intern zu sichern und nach Vorlage einer richterlichen Anordnung den Ermittlern zur Verfügung zu stellen."

Die tazzige Headline dazu lautet: "Der 'NSU 2.0' las offenbar bild.de."

Proteste gegen Hamburger Lokalpresse

Jahrzehnte lang eine Schwesterzeitung der Bild-Zeitung war das Hamburger Abendblatt, das mittlerweile bekanntlich bei Funke erscheint, allerdings auch unter neuer Regentschaft so trutschig ist wie ehedem. Andererseits: Wenn es nur trutschig wäre, ließe sich damit ja leben. Und damit schalten wir zu Andrej Reisin von Übermedien:

"Das Hamburger Abendblatt hat aus Antifa-Aufklebern, die in einer Schule gefunden wurden, eine ganz große Geschichte gemacht, und dabei zunächst Interpretation und Wortwahl der AfD in größeren Teilen übernommen. 'Linksextremisten betreiben ungestört Propaganda an Schule', lautete eine der Schlagzeilen."

In einem mittlerweile gelöschten Kommentar aus der Kategorie Abteilung Attacke hatte ein Redakteur geschrieben, dass die "Schule Extremisten (…) den roten Teppich ausrollt" - obwohl dort keineswegs ein Wiedergänger Andreas Baaders mit Waffen aufmarschiert war.

In einer Stellungnahme hatte Ende der vergangenen Woche bereits die betroffene Ida-Ehre-Schule (die nach einer Frau benannt ist, die KZ- und Gestapo-Haft überlebt hat) ihr antifaschistisches Selbstverständnis herausgestellt - und bemängelt, dass das Abendblatt "nahezu vollständig" das "wording" einer Kleinen Anfrage der AfD-Fraktion übernommen habe. Auch andere "Teile der Presselandschaft" hätten dies getan. Was angesichts der schwer zu toppenden Torfnasigkeit der Hamburger Lokaljournalisten allerdings auch kein Wunder ist. Die Schule, so Reisin, werfe mit ihrer Kritik

"ein Kernproblem aktueller Mediendebatten auf: Seit Längerem versucht die AfD zusammen mit rechtskonservativen Kreisen und Medien, jeglichen Antifaschismus als extremistisch zu brandmarken und zu kriminalisieren. Als Vehikel dient dabei das Bild einer 'Antifa', die als zusammenhängende, straff geführte und mächtige Organisation imaginiert wird, die es in Wirklichkeit aber nicht gibt".

Am Sonntag protestierten dann sogar 3.000 Menschen, überwiegend Schüler und Eltern (siehe hier und hier), gegen die durchgeknallte Der-Feind-steht-links-Berichterstattung von Abendblatt und Co. Eine relativ hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass es ein demolastiges Wochenende war (u.a. Proteste in Sachen Artikel 13/Uploadfilter). Vielleicht war es ja der Auftakt zu einer Art #FridaysforFuture der Medienkritik.

Buhrow joggt nicht mehr

Der WDR muss sich derzeit nicht nur mit Kritik an einer neuen Publikumsunterforderungsmaßnahme auseinandersetzen - der geplanten Verwässerung des Formats "Jazz & World" (siehe Altpapierkorb gestern) -, sondern auch mit einem Artikel aus der April-Ausgabe des Manager Magazins, der die fundamentale Ungeeignetheit Tom Buhrows für den Intendantenposten zum Thema hat.

Aus "Kreisen" der "Geschäftsleitung" komme die Kritik, "der Leichtmatrose unter den ARD-Intendanten" (Altpapier) tue sich "mit dem Entscheiden schwer", heißt es in dem Text. Als "heimlicher Herrscher" gelte sowieso Fernsehdirektor Jörg Schönenborn. Buhrow sei "eher Intendant unter ihm".

Neben Bemerkungen zu Buhrows unguter Work-Sport-Balance ("Ehedem Jogger und Marathonläufer, kommt er nur noch selten raus"), behämmerten metereologische Metaphern aus dessen Munde ("Mitten in unsere Transformation hagelte es rein" - Buhrow über die #MeToo-Fälle beim WDR) enthält der Artikel recht viel (freilich nicht substanzarme) Flurfunk-Folklore.

Allemal handfest wird’s gegen Ende des Textes, wenn die MM-Autorin Gisela Maria Freisinger darauf hinweist, dass die WDR-Redakteurin Britta Windhoff, die die im Januar wegen journalistischer Verfehlungen in die Kritik geratene Reihe  "Menschen hautnah" (siehe beispielsweise Altpapier und Altpapier) verantwortet, bereits 2005 zuständig war für eine angeblich weitgehend gescriptete Dokumentation aus Mali, die Ende Dezember jenes Jahres in der Reihe "Abenteuer Glück" lief:

"Kaum etwas von dem, was den Zuschauern als lebensechte Geschichte präsentiert wurde, sei wahr gewesen, sagt der Kameramann Philippe Corvey, der dabei war. Ein schöner Tuareg, angeheuert, um Märchen zu erzählen; die benötigten Kamele, vom WDR angemietet."

Corvey sagt auf Nachfrage von mir, in den Film sei die Realität inszeniert worden, ohne dass dies dem Zuschauer kenntlich gemacht worden sei. Er spricht von einem "Vorläufer" des Falls Relotius.

Was Dürrenmatt über den Spiegel sagte

Apropos Relotius: Lange haben wir ja nichts mehr über den Fall Relotius im Speziellen und sog. Storytelling im Allgemeinen geschrieben. Nun bietet sich ein neuer Anlass, weil Sandro Zanetti für den Blog Geschichte der Gegenwart ein im Januar 1981 von Heinz Ludwig Arnold mit dem Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt geführtes Interview ausgegraben hat. Man kann Zanettis Beitrag als Ergänzung zu Felix Stephans in der SZ ausgeführten Einschätzung lesen, dass Relotius’ Texte "mit Literatur noch weniger zu tun" hätten "als mit Journalismus" (siehe dazu auch Medienkorrespondenz). Nun zum erwähnten Interview (dessen damaligen aktuellen Anlass ich hier mal außen vor lasse).

Dürrenmatt: Den Spiegel muß man wie einen Roman lesen […].

Arnold: Aber Romane sind doch eigentlich Geschichten, die die Wirklichkeit viel dichter, viel intensiver fassen als die Wirklichkeit ist. Ist der Begriff 'Roman' für die Beschreibung dessen, was der Spiegel bietet, nicht viel zu hoch gegriffen?

Dürrenmatt: "Schau jetzt wieder einmal mich an, ein wie höflicher Mensch ich bin. Also wenn ich 'Roman' sage, meine ich Hintertreppenromane."

Der eben gesetzte Link ist natürlich von mir. Zanetti sagt dazu:

"Der letzte Satz ist wichtig. Denn es liegt auch mit Blick auf heutige journalistische Entgleisungen nahe, Fiktion mit Literatur zu verwechseln: Kolportagen als Dichtung zu nobilitieren. Es ist offenbar attraktiv, das unlautere Vorgehen von Journalisten oder von Zeitungen, die lieber von 'Autoren' sprechen und diesen dann auch bereitwillig – wie ehemals bei Tom Kummer – eine Bühne geben, als 'literarische' Freiheit oder gar Qualität zu interpretieren."


Altpapierkorb (Yannic Hendricks, Hermann Röchling, eine erfundene Umfrage, Wölfe in den Medien)

+++ Der Presserat hält es für "unbedenklich", dass die taz den Namen des Abtreibungsgegners Yannic Hendricks nennt. Die Zeitung selbst berichtet in eigener Sache. Hendricks selbst will nicht, dass sein Name in der Öffentlichkeit genannt wird, weshalb er zum Beispiel in Berufung gegangen ist gegen ein Urteil des Düsseldorfer Landgerichts, das es Buzzfeed erlaubt hat, seinen Namen zu nennen.

+++ "Weg von der Unterforderung hin zum Singulären, hin zu Filmen, Serien, Klängen, Dokumentationen und Informationen, die mich da hinbringen, wo ich noch nie war. Also hin zur Überforderung. Der Markt müsste also weg vom Markt". So beschreibt der Schauspieler Fabian Hinrichs sein Wunschbild des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gegenüber Blickpunkt Film.

+++ Die Arte-Dokumentation "Der Stahlbaron – Hermann Röchling und die Völklinger Hütte", die jenen Mann porträtiert, der von Hermann Göring einst zum "Reichsbeauftragten für Eisen und Stahl" ernannt wurde, hinterlässt bei FAZ-Rezensentin Heike Hupertz (Blendle-Link) einen zwiespältigen Eindruck: "Der umfassend recherchierte Film von Nina Koshofer verfolgt zahlreiche Aspekte sachlich im Ton und klar in der Sache und verbindet das historische Material mit Spielszenen, die leider, wie so oft in Dokumentationen, dramaturgisch und vor allem schauspielerisch zu wünschen übrig lassen. Meistens sind sie wenig anschaulich, verdoppeln den Kommentarton im Bild oder konterkarieren ihn sogar."

+++ Ein sächsischer Landtagsabgeordneter der AfD hat bei Twitter eine Umfrage erfunden, weil das Ergebnis einer echten Umfrage nach seiner Ansicht für seine Partei unvorteilhaft ausfiel. Was dann passierte, rekapituliert Thomas Laschyk (Volksverpetzer).

+++ Wovor schüren Journalisten besonders gern Angst? Neben der Antifa (siehe oben) recht hoch im Kurs stehen die Wölfe. Andrea Mertes (Übermedien) ordnet ein: "Menschen sind vom Wolf nicht besonders bedroht, eher von Kühen, die Wanderer tot trampeln. Selbst Bienen oder Wildschweine sind für Menschen gefährlicher, aber trotzdem sind sich viele Journalisten nicht zu schade für immer wahnsinnigere Schlagzeilen, wenn es um den Wolf geht (…) und schüren (…) weiter Angst, und manchmal geraten dann sogar Naturbeobachtungen und Kriegserinnerungen durcheinander." So wie in der Formulierung "Wölfe jetzt schon vor den Toren Wiens". Mertes dazu: "Bei dieser Schlagzeile des österreichischen Boulevard-Portals oe24.at, die an die Türkenkriege erinnert und damit an einen österreichischen Angsttraum."

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.