MEDIEN360G im Gespräch mit... Christian Groß

02. September 2019, 22:20 Uhr

Christian Groß ist Suchttherapeut und 2. Vorsitzender/Pressesprecher des Fachverband Medienabhängigkeit e.V.

Daniel Kehr: Zum Thema Computer- und Videospielsucht sprechen wir heute bei MEDIEN360G mit Christian Groß. Er ist unter anderem Sozial- und Suchttherapeut und außerdem Vorstandsmitglied im Fachverband für Medienabhängigkeit. Herr Groß, Schönen guten Tag!

Christian Groß: Hallo, schönen guten Tag!

Daniel Kehr: Im Mai hat die WHO endgültig Video- und Computerspielsucht, also übersetzt aus dem Englischen „Gaming Disorder“, offiziell als Krankheit anerkannt und in den neuen internationalen Katalog der Krankheiten mit knapp 55.000 Krankheiten aufgenommen. Ist das für Sie ein gutes Zeichen oder eher Zeichen zur Sorge?

Christian Groß 21 min
Bildrechte: MEDIEN360G
21 min

MDR FERNSEHEN Do 08.08.2019 09:50Uhr 21:25 min

https://www.mdr.de/medien360g/medienkultur/interview-christian-gross-102.html

Rechte: MEDIEN360G

Audio

Christian Groß:  Nein, das ist ganz klar ein gutes Zeichen und viel mehr noch als für mich oder Organisationen wie den Fachverband Medienabhängigkeit ist das ein sehr gutes Zeichen, vor allem für die Betroffenen und deren Angehörige. Denn mit der Diagnose oder dem Diagnoseschlüssel gibt es jetzt auch eine Verpflichtung der Kostenträger, die Behandlung für Betroffene von den Kosten her zu erstatten und somit auch für das Versorgungssystem in Deutschland eben die Möglichkeit, ein flächendeckendes Beratungs- und Behandlungsangebot aufzubauen. Und bei steigender Anzahl von Betroffenen halten wir das vom Fachverband und auch andere Verbände in Deutschland für dringend notwendig.

Daniel Kehr: Wie sehen Sie das? Ist das auch ein Zeichen dafür, dass die Krankheit jetzt erst ernst genommen wird?

Christian Groß:  Na ja, zumindest ist es so, in bestimmten Kreisen ist auch die Krankheit oder die Probleme, die mit dieser Erkrankung einhergehen, schon vorher ernst genommen worden. Aber wie sie schon richtig sagen, also in der breiten Bevölkerung, bekommt sie dadurch jetzt mit Sicherheit noch mal mehr Gehör oder auch eine gewisse Anerkennung.

Daniel Kehr: Bemerken Sie denn beim Fachverband Medienabhängigkeit in den letzten Jahren einen Anstieg von Computer- und Videospielabhängigkeit?

Christian Groß:  Der Anstieg kommt ja nicht dadurch, dass das Thema mehr in den Medien ist. Also die Betroffenenzahlen gab es bereits vorher. Insgesamt können Sie sagen, dass die Betroffenen Zahlen steigen, einfach auch, weil es ein modernes Thema und ein modernes Suchtmittel ist, das eben weit verbreitet ist. Allerdings dadurch, dass das Thema jetzt mehr Öffentlichkeit bekommen hat, gibt es eben auch neben den Betroffenenzahlen mehr andere Institutionen oder eben auch öffentliche Medien, die sich mehr für das Thema interessieren. Und das ist vor allem im Hinblick auf die Prävention eben ganz wichtig. Also die Schulen, Bildungsinstitutionen etc. sind darauf aufmerksam geworden, dass wir es hier einer möglichen Erkrankungen zu tun haben und wissen deshalb auch, dass wir jetzt präventiv schon viel früher ansetzen müssen was Medienkompetenzerziehung beispielsweise in den Schulen oder auch in der Erziehung, in den Elternhäusern etc. angeht.

Daniel Kehr: Sie haben es schon angesprochen. Wo sehen Sie denn in der Prävention noch - ich sag mal ganz konkret – Verbesserungspotenzial? Also wer ist denn hier besonders gefordert in Zukunft?

Christian Groß:  Es fühlen sich die Eltern da meiner Erfahrung nach häufig im Stich gelassen. Es alleine den Eltern in der Erziehung quasi aufzuerlegen wäre, glaube ich, eine Überforderung. Denn viele Eltern kennen eben die Onlinewelt nicht so gut wie ihre Kinder, und Sie wissen manchmal auch nicht genau, worauf zu achten ist. Das heißt, es braucht hier Familienberatungsstellen. Es braucht aber vor allem auch Institutionen, die flächendeckend agieren, also Schule, Jugendzentren etc., wo eben frühzeitig schon auf einen kompetenten Medienumgang hingewiesen werden muss und wo möglicherweise dann auch problematisches Nutzungsverhalten früh erkannt wird. Wenn Sie mich fragen, wäre es in unserer modernen Zeit sehr wünschenswert, wenn Medienkompetenzerziehung ein Schulfach beispielsweise werden könnte.

Daniel Kehr: Eine etwas provokante Frage: sind denn Kinder und Jugendliche ihrer Meinung nach schlimmer Suchtgefährdet als Erwachsene?

Christian Groß:  Na ja, grundsätzlich können Sie sagen, dass Kinder und Jugendliche schon alleine, neuronal oder neurophysiologisch im Gehirn eben nicht in der Lage sind, sich derart gut selbst zu steuern oder selbst zu regulieren wie Erwachsene. Das liegt einfach daran, dass das Gehirn sich in dieser Zeit auch noch ausbildet. Das ist gerade in der Pubertät so, dass man dann häufig ganz viele neue Erfahrungen machen möchte, weil die komplexen Systeme des Gehirns sich erst ausbilden. Da ist es eben so, dass Kinder und Jugendliche dann auch die Aktivitäten, an denen sie Freude empfinden, solange einfach weiter betreiben, bis sie keine Freude mehr Macht. Das war bei mir als Kind genauso. Das habe ich auch gemacht und wenn meine Mutter dann nicht manchmal gesagt hätte, so, jetzt ist aber mal gut na, jetzt gehst du auch mal raus oder machst mal irgendetwas anderes. dann hätte ich das weitergemacht. In diesen Phasen, wo eben die Selbststeuerung noch nicht in dem Maße vorhanden ist, braucht es Steuerung von außen. Wenn die nicht da ist, dann sind diese Kinder oder Jugendlichen auch stärker gefährdet als Erwachsene, die sich kritisch reflektieren und ihr eigenes Verhalten. Das kann man so sagen.

Daniel Kehr:  Wie sehen Sie denn da zum Beispiel die Aufgabe des Jugendschutzes, also im Fall von Computer- und Videospielen die USK?

Christian Groß:  Auf jeden Fall ist auch das ein wichtiger Aspekt. Also zum einen geht es uns ja beispielsweise im Fachverband Medienabhängigkeit nicht darum, Videospiele, Computerspiele, moderne Medien oder auch E-Sport zu verteufeln. Im Gegenteil. Es sind ja auch tolle Medien, die auch sehr faszinierend sein können. Nichtsdestotrotz ist schon unser Eindruck, dass eben der Faszination viel Raum gegeben wird, aber die Gefahren häufig dann so ein bisschen unter den Tisch fallen. Der Jugendschutz, die USK und auch die Politik sind unserer Ansicht nach in der Pflicht, eben stärker darüber aufzuklären. Das tun wir ja bei anderen Suchtmitteln auch, in dem wir Warnhinweise auf Zigarettenschachteln schreiben oder Bilder dort abbilden. Auf Videospielen müsste es das in Bezug auf Suchtmechanismen, möglicherweise auch Glücksspiel immanente Faktoren - also viele Computerspiele arbeiten ja heute auch mit käuflichen Items oder Geldeinsätzen. Diese Warnhinweise müsste es geben, damit erstens Eltern Bescheid wissen, aber auch Kinder frühzeitig oder Jugendliche frühzeitig aufgeklärt werden.

Daniel Kehr: Stichwort Lootboxen, Micro-Achievements, Anmelde-Boni - all diese Dinge, die es gibt, um Leute eben immer wieder zurückzuholen oder im besten Fall vielleicht da zu behalten. Wie schätzen Sie denn da die Rolle der Entwickler ein? Also wird denn auf Suchtprobleme achtet oder wird das bewusst gefördert und die Probleme so ein bisschen unter den Teppich gekehrt?

Christian Groß:  Ich glaube, da darf man nicht alle Entwickler über einen Kamm scheren. Also es gibt wirklich Spieleentwickler, die auf gutes Storyboards, wirklich auch hochwertige Grafik, einen tollen Spielflow und so weiter Wert legen. Aber es gibt eben leider auch zunehmend diese Entwicklersparte, die eben hauptsächlich auf monetäre Interessen setzt und auch versucht, wie sie das schon gesagt haben, über Lootboxen über dieses Spiel immanenten Faktoren die Person also den Gamer möglichst stark, auch über finanziellen Einsatz, an den eigenen Avatar oder an das Spiel zu binden. Desto mehr Geld ich dafür eingesetzt habe, desto schwerer ist es auch, das Spiel dann irgendwann wieder aufzugeben. Da kommen sie dann in einen Bereich, den man ähnlich dem Craving beim Glücksspiel beschreiben könnte und - wenn Sie so wollen-  sind derartige Mechanismen wie beispielsweise Lootboxen schon in gewisser Art und Weise illegales Glücksspiel. Da diese Anbieter dann häufig und das auch nicht ohne Grund in irgendwelchen ausländischen Staaten, die Malta oder Isle of Man oder anderen Steuerparadiesen ansässig sind, können Sie natürlich gegen die mit deutschem Recht nicht vorgehen. Das ist schon ein großes Problem in diesem Computerspiel- oder auch Onlineglücksspielbereich ist man aktuell hier in Deutschland für mein Empfinden oder auch auf dem europäischen Markt noch ziemlich hilflos ausgeliefert.

Daniel Kehr:   Gerade die Lootboxen werden ja, wie Sie schon sagten, immer wieder so rücken, immer wieder in den Fokus der Diskussion. Was könnte man denn machen oder wie kann man besser oder mehr einwirken an der Stelle?

Christian Groß:  Also wenn Sie mich fragen, dann ist aktuell einer der einzigen sinnvollen Wege der mir da einfällt, der über die Zahlungsanbieter zu gehen. Also wir kennen das im Glücksspielbereich. Wenn sie sich Onlinekasinos angucken, können Sie beispielsweise Zahlungsanbieter wie Paypal in Regress nehmen, denn er Internetglücksspiel ist in Deutschland illegal. Und wenn in Deutschland lizensierte Zahlungsanbieter wie PayPal beispielsweise Transaktionen zu Online-Glücksspielseiten zulassen, dann genehmigen Sie da illegale Transaktionen? Insofern wäre eine mögliche Chance, eben über die Zahlungsanbieter zu gehen, sofern die in Deutschland lizensiert sind und gegen die eben Ansprüche geltend zu machen, dass sie darauf achten müssen, derartige Transaktionen zu vermeintlich illegalem Glücksspiel nicht zuzulassen. Dafür müssten Sie sowas wie Lootboxen, aber auch erst mal als illegales Glücksspiel in Deutschland definieren, und das ist aktuell ja nicht der Fall. Deshalb können hier auch Kinder und Jugendliche über teilweise dubiose Zahlungswege, jwo sie vor den Deutschen Gesetz eigentlich noch gar nicht geschäftsfähig sind, ebensolche Transaktionen durchführen und für Spiele auch teilweise horrende Summen Geld ausgeben.

Daniel Kehr:   Würden Sie denn als Fachverband für Medienabhängigkeit ein solches Vorgehen gegen zum Beispiel Zahlungsanbieter befürworten?

Christian Groß:  Ja, also, wir würden ganz klar sagen, dass es in Deutschland eine Reglementierung braucht. Dass eben nur bestimmte und lizensierte Zahlungsanbieter in Deutschland derartige Transaktionen zulassen dürfen und die dann eben auch erst ab einem gewissen Alter und das nämlich in Deutschland, wenn ich eben als geschäftsfähig gelte. Also wenn Sie jetzt zum Beispiel Visa oder Mastercard sehen, das sind ja Zahlungsanbieter, da können Sie erst mal als Kind oder als Jugendlicher keine Transaktionen durchführen, da sie keine eigenen Karten beantragen können. Wenn sie sich jetzt sowas wie Paysave oder andere Zahlungsanbieter anschauen, da können Sie halt auch als Zwölfjähriger, als Vierzehnjähriger können Sie ziemlich einfach Transaktionen auch zu Onlineplattformen, Spieleplattformen durchführen.

Daniel Kehr:   Lassen Sie uns noch mal über die Inhalte schauen. Gibt es denn bei interaktiven Inhalten wie eben Computer- und Videospielen Unterschiede zu anderen Medienabhängigkeiten?

Christian Groß:  Also, da müssen Sie halt noch mal differenzieren, denn Internetsucht ist so als Suchterkrankung eben noch nicht anerkannt. Das Einzige, was aktuell anerkannt ist, wofür die Forschung ausreicht, wo wir genügend Evidenz haben, das ist eben der Bereich des der Computerspielsucht. Im Bereich von Social Media oder auch Onlinepornografie beispielsweise, da haben wir Anhaltspunkte. Aber die Forschungslage reicht nicht, um dort schon von weiteren Internet bezogenen Suchterkrankungen zu sprechen. Das heißt, aktuell werden die noch klassifiziert als „weitere internetbezogene Störungen“. In der Regel in Form von exzessivem Nutzungsverhalten. Um auf Ihre Frage zurückzukommen Computerspieler, wenn sie Computerspieler anschauen, finden Sie in der Regel zwei Arten von Computerspielern. Das sind zum einen die sehr leistungsorientierten Gamer, denen es vor allem um Erfolg im Spiel geht und eben eher so die sozialen Gamer, die wie Sie richtig sagen, über die Computerspiele eben in soziale Kontakte kommen. Das hat man immer was damit zu tun, wie sich ihre Realität und ihre reale Lebenswelt abbildet. Wenn sie beispielsweise in der Realität an eigenen Leistungserwartungen scheitern oder sich selber als nicht besonders erfolgreich erleben und sie es plötzlich im Computerspiel tun, dann werden sie folgerichtig, das Computerspielen immer mehr intensivieren, weil sie sich dort als erfolgreich und anerkennenswert empfinden. Wenn sie jetzt in der realen Welt beispielsweise häufiger Ausgrenzung erlebt haben und sie finden jetzt plötzlich im Computerspiel soziale Kontakte, die sich gerne innerhalb des Spiels mit ihnen treffen, connecten, unterhalten etc., dann fühlt sich auch das für sie sehr positiv an. Und sie werden sich immer mehr aus der Realität entfernen. Das heißt, normalerweise führen frustrierte Motive der Realität dazu, dass sie Online kompensieren, ja, das sie dann online versuchen, innerhalb des Computerspiels diese frustrierten Motive nochmal zu befriedigen.

Daniel Kehr:   Sie hatten es selbst schon mehrfach angesprochen, wenn wir jetzt schon bei Unterschieden und Gemeinsamkeiten sind: Wo sehen Sie denn die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von einer Computer- und Videospielsucht gegenüber - ich nenne es mal - analogen Spielsüchtigen?

Christian Groß: Analoge Spielsüchte müssten wir dann also da müssten Sie entweder offline Computerspiele nehmen oder eben Glücksspiele. Terrestrisches Glücksspiel in Spielhallen oder mit Sportwetten? Da ist erstmal der direkt auffallende Unterschied natürlich dieser hohe Community-Charakter in der virtuellen Welt. Das ist sowohl für den Leistungsgamer als auch für den sozialorientierten Gamer von hoher Bedeutung. Wenn sie mit anderen in Challenge treten wollen, also wenn Sie sich in einen Wettkampf begeben wollen, dann brauchen Sie eben andere Mitspieler und desto mehr sie haben und desto stärker das visualisiert wird auf internationalen Server-Ranglisten usw. umso höher ist natürlich die eigene Anerkennung. Auf der anderen Seite ist für denjenigen, der er den sozialen Kontakt sucht und die Flucht aus der Realität, ist natürlich eine hohe Menge an Spielern oft attraktiver, weil die Chance, darunter einige zu finden, mit denen man sich sehr gut versteht,  eben einfach höher. Es ist zum Beispiel auch der Grund, warum viele der Gamer sehr gut Englisch sprechen. Wenn Sie mal in andere Suchtbereiche gucken, sag ich mal Alkohol- oder Drogenabhängigkeit da werden sie ganz wenige Menschen finden, die fließend Englisch sprechen, wenn dann (nur) mit einem bestimmten Hintergrund. Aber sie haben es halt hier mit einem leistungsbezogenen Suchtmittel zu tun, das ganz häufig eben auch sehr leistungsorientierte Personen hervorbringt, die das dann im Game quasi auch ausleben. Die Fähigkeiten, die man dafür braucht oder die Anforderungen dann sich entweder aneignen oder schon vorher mitbringen.

Daniel Kehr:   Hat sich denn der typische, ich sage es mal so, der typische Computer- und Videospieleabhängige in den letzten Jahren verändert, oder gibt es so etwas überhaupt?

Christian Groß:  Na ja, zumindest unterscheidet sich der typische Computerspiel-Patient von den Patienten anderer Suchterkrankungen. Wir haben bei Gamern häufig ein höheres Bildungsniveau. Das kommt schon alleine dadurch zustande, dass viele der Gamer aus leistungsstarken Familien kommen, dann im Game diese Leistungsstrukturen ausleben. Dann beispielsweise, das Game auch Anforderungen stellt wie Sprachkenntnisse in Form von englischer Sprache oder eben kognitive Fähigkeiten, also quasi die Möglichkeit, Dinge schnell zu verknüpfen. In den Spielen möglicherweise auch motorisch relativ, schnell oder flink unterwegs zu sein. Da gibt's halt schon einige Anforderungen, und wenn sie die nicht erfüllen, dann wird Ihnen das Computerspiel langfristig keinen Spaß machen, weil sie dann auch nicht erfolgreich sein. Daran sehen sie, ein Computerspieler investiert mitunter sehr viel, um im Computerspiel erfolgreich zu sein oder auch eben mit anderen in Kontakt zu kommen, die es ihnen anerkennen oder wertschätzen. Wenn Sie sich das beim Alkohol anschauen, dann treffen sich vielleicht ein paar Leute im Park, die dann – ich drück das jetzt ein bisschen polemisch aus - Alkohol in sich reinschütten, aber wirklich viel können müssen sie dafür nicht. Natürlich ist auch da eine Biografie im Hintergrund, die über tragische Ereignisse dazu geführt hat, dass man jetzt ein Leben im Alkohol ertränkt. Nichtsdestotrotz unterscheidet sich der typische Gamer beispielsweise vom typischen Alkoholiker in hohem Maße.

Daniel Kehr:   Sie sind selbst Sozial- und Suchttherapeut. Was für Leute kommen denn hilfesuchend zu ihnen? Also sind das dann die Betroffenen selbst oder sind das beispielsweise auch die Familien.

Christian Groß:  Ich arbeite hier in der stationären Reha, Langzeitrehabilitation, das heißt zu uns kommen nur die Betroffenen, abgesehen jetzt von Angehörigen Gesprächen, die wir auch mal mit der Familie, den Eltern der Partnerin führen, wenn denn eine Partnerin da ist, arbeiten wir hier erst mal nur mit den Patienten an sich. Ich arbeite hier auf einer reinen Stationen für Computerspieler oder Online-Glücksspieler. Das heißt, unser Klientel ist im Durchschnittsalter so 26 bis 28 Jahre alt, teilweise sehr, sehr jung. Wir behandeln ab 18, weil wir Erwachsenen-Psychiatrie sind. Wir haben eine Station mit maximal 30 Spielern. Die leben hier zusammen auf einer Station, wo sie auch unter sich sind und wo es dann in einem Zeitrahmen von 8 bis 26 Wochen je nachdem, wie lange die Patienten bewilligt haben oder auch bleiben wollen, wo es dann eben darum geht, zum einen, sich von der virtuellen Welt und den Computerspielen zu verabschieden, zum anderen auch die Ressourcen, die man dort hatte, wieder in die reale Welt zu transferieren und dann eben im realen Leben wieder Fuß zu fassen.

Daniel Kehr:   Wir erreichten sie, denn sowas also, wie kann ich mir eine Therapie vorstellen? Wie läuft das ab?

Christian Groß:  An erster Stelle steht, häufig erst mal auch der Abschied und der Abschied fällt vielen Gamern nicht leicht. Wenn ich sage Abschied, heißt das natürlich nicht Abschied vom Computer oder Abschied vom Internet. Das können Sie ja im realen Leben gar nicht realisieren, sondern Abschied von bestimmten Computerspielen. Das ist aber oft schon eine hohe Hürde, weil man eben viele Jahre und viel Zeit für das Spiel investiert hat. Nach dem Abschied von einem Computerspiel und einer gewissen Distanz zum Suchtmittel geht es dann wieder darum, auch zu gucken, was hat eigentlich dazu geführt, dass ich mich so stark in die virtuelle Welt verloren habe? Also wieso war die Realität nicht attraktiv genug für mich, dass ich möglicherweise wie andere in meinem Alter eben einen ganz normalen Weg gewählt habe? Wenn sie diese Ursachen erkannt haben, ja, beispielsweise: ich habe Ausgrenzungserfahrungen der Schule erlebt und habe mich in sozialen, realen sozialen Kontakten nicht wohlgefühlt, oder ich bin immer wieder an meinen eigenen oder den Leistungserwartungen von außen gescheitert und konnte meine Ansprüche nicht erfüllen und im Computerspiel konnte ich es halt. Wenn ich diese Sachen dann für mich identifiziert habe, dann geht es darum: „Okay, wie ist wie es damals zustande gekommen und könnte ich es vielleicht in Zukunft anders bewältigen, oder könnte ich in Zukunft etwas dafür tun, damit mir das nicht wieder erneut so passiert? Wenn ich da gute Strategien entwickelt habe, dann geht es eben darum, die auch zu trainieren und das fängt dann schon hier auf der Stationsgruppe an. Hier bin ich ja in sozialen Kontakten mit anderen. Hier geht es auch in der Sporttherapie oder eine Arbeitstherapie, teilweise auch um leistungsbezogene Kontexte und da kann ich mich dann wieder ausprobieren. Innerhalb der Behandlung ist es dann so im letzten Teil bei uns auch üblich, dass die Patienten sich orientieren. Das heißt möglicherweise Bewerbungen schreiben, gucken wo soll es für mich in Zukunft hingehen? Einige sind auch mitten im Studium und kamen in die Behandlung, wo das Studium auf der Kippe steht oder stand, da geht es jetzt wieder darum, das Studium wieder gut aufzunehmen, sich halt einen guten Plan für die Zukunft zu machen und den dann motiviert auch zu gehen. Dabei versuchen wir, die Patienten im therapeutischen Kontext hier zu begleiten. Unsere durchschnittliche Behandlungsdauer liegt nur bei 12 Wochen. Das kann bei manchen, die etwas mehr Zeit brauchen, aber auch durchaus bis 26 Wochen gehen.

Daniel Kehr:   Haben Sie da Zahlen, was Rückfallraten angeht, also durchaus so, dass man sich dann noch einmal wiedersieht oder ist das eine hohe Erfolgsrate?

Christian Groß:  Also wir haben eine Abstinenz-Quote von knapp über 60 Prozent, was eigentlich schon ganz gut ist, so im Mittel würde ich sagen. Aber sie haben natürlich auch die Patienten, also diese 40 Prozent, das muss man eben auch sehen und das ist im Suchtbereich tatsächlich halt auch eine recht hohe Zahl, die dann auch noch mal rückfällig werden. Wobei ein Rückfall nicht automatisch heißt, das danach nicht möglicherweise doch wieder eine Abstinenz erzielt wird, sondern es kann auch sein, dass sie vielleicht noch mal für eine Woche oder was auch immer rückfällig waren, wieder gespielt haben, sich dann aber wieder besonnen haben, beispielsweise über eine Beratungsstelle auch noch Gespräche geführt haben und sich dann wieder stabilisiert haben. Also das erfassen die Zahlen nicht. Der Zahlen erfassen erstmal nur, gab es tatsächlich irgendwann mal einen Rückfall oder eben nicht.

Daniel Kehr:   Was würden Sie sich nach der Einstufung in den Katalog der WHO für die Zukunft wünschen? Wie soll das optimal weiterlaufen?

Christian Groß:  Also das, was ich, was der Fachverband und andere Organisationen in diesem Feld sich am meisten wünschen – denke ich – ist, dass wir mehr Mittel zur Verfügung haben um gute Präventionsprojekte voranzutreiben. Gute Ideen gibt es da. Die Finanzierung hakt noch ein bisschen. Gute Präventionsprojekte wären sinnvoll, dass es nochmal stärker auch in den Bildungsinstitutionen platziert wird, wäre sinnvoll und eben, dass das Behandlungs- und Beratungsangebot flächendeckender ausgebaut wird. Wenn sie in die strukturschwacheren Regionen in Deutschland gucken, da haben sie auch viele Betroffene. Da haben sie aber aktuell so gut wie keine Anlaufstellen, dass darf halt in Zukunft unserer Ansicht nach nicht so bleiben. Es kann nicht zumutbar sein für einen Patienten 1 1/2 Stunden zu einer Therapie- oder Behandlungsstätte zu fahren.

Daniel Kehr:   Herr Groß, vielen Dank für das Interview!

Christian Groß:  Sehr gerne!