RKI-Präsident Lothar Wieler sprach auf der 2. Europäischen Public-Value-Konferenz über Journalismus und Wissenschaft in der Covid-19-Pandemie.
RKI-Präsident Lothar Wieler sprach auf der 2. Europäischen Public-Value-Konferenz über Journalismus und Wissenschaft in der Covid-19-Pandemie. Bildrechte: MDR/PUNCTUM/Stefan Hoyer

2. Europäische Public-Value-Konferenz RKI-Chef Wieler erwartet Unterscheidung zwischen Fakten und Meinung

06. Oktober 2022, 13:40 Uhr

Der Mikrobiologe Lothar Wieler ist seit 2015 Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI). Als Gast der zweiten Europäischen Public-Value-Konferenz beim MDR berichtete Wieler von seiner Arbeit, den Herausforderungen durch die Pandemie und über die Rolle der Medien. "Ich bin mittlerweile in Sachen Medien Halblaie, der in den letzten vier Jahren viel erlebt hat", so Wielers Fazit.

In seinem Vortrag "Wie aus Journalisten Virologen wurden" erläuterte der 61-Jährige Aufgaben und Arbeitsweisen des RKI, das seit 2008 als National Public Health Institute (NPHI) für Deutschland firmiert. Damit ist das Aufgabenspektrum des Instituts enorm erweitert worden. Es ist nun für die so genannten 10 Essential Public Health Functions zuständig. Das RKI ist keine reine Forschungsinstitution für Infektionskrankheiten. Zu seinen Aufgaben gehören im Rahmen der sogenannten "Ressortforschung" als Frühwarnsystem auch Vorlaufforschung und Beratung für die Politik zuständig - und jetzt auch noch alle Bereiche von Public Health.

RKI ist eigentlich nicht für Kommunikation zuständig

Das war am Anfang der Pandemie vielen Journalistinnen und Journalisten nicht bekannt. "Es ist wichtig zu wissen, welche Funktion eine Institution hat und welche Verantwortung sie trägt", sagte Wieler. Denn anders als bei den NPHI-Vorbildinstitutionen in den USA sei das RKI für einen entscheidenden Bereich nicht zuständig - die Kommunikation. "Hierfür gibt es in Deutschland mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine eigene Institution", so Wieler. Daher gäbe es dafür beim RKI "auch nicht die Ressourcen und Kompetenzen". Der Auftrag laute "Beratung für die Politik und die medizinische Fachwelt, nicht für die allgemeine Bevölkerung". Eigentlich, hätte Wieler hinzufügen können. Denn spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 waren das RKI und seine Expertinnen und Expertinnen ständig in den Medien. Dabei musste der RKI-Chef erfahren, dass "politische Kommunikation völlig anders funktioniert als Wissenschaftskommunikation". Am "Anfang hatten wir es hauptsächlich mit Wissenschaftsjournalismus zu tun. Dann wurde es mit der Zeit aber immer mehr zu politischem Journalismus", berichtete Wieler. "Es war gut, dass wir später gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium (BGM) bei der Bundespressekonferenz waren. Der Bundesgesundheitsminister antwortete auf die politischen Fragen und ich auf die wissenschaftlichen Fragen. Vorher habe ich da allein gesessen."

Am Anfang hatten wir es hauptsächlich mit Wissenschaftsjournalismus zu tun. Dann wurde es mit der Zeit aber immer mehr zu politischem Journalismus.

Prof. Dr. Lothar Wieler

Kritik an den Medien

Mit dem Übergang vom Wissenschafts- zum politischen Journalismus beschreibt Wieler einen Wandel, den auch MDR MEDIEN360G in seinen Dossiers zu Corona und Medien seit 2020 dokumentiert hat.

Die Pandemie hat vielen Medien einerseits Nutzungsrekorde beschert: Informationen wurden gezielt gesucht, am Anfang standen klar Orientierung und Ratgeberfunktion im Vordergrund. Lokale Angebote konnten mit ihrer Nähe zu ihren Nutzerinnen und Nutzern punkten. Grundsätzlich waren diese auch mit der Arbeit der Journalistinnen und Journalisten zufrieden. Doch im Verlauf der Pandemie änderte sich das Bild. Drei Vorwürfe an die Adresse der Medien waren dabei besonders häufig: Corona nehme zu viel Raum ein, die Berichterstattung sei einseitig und zu regierungs- und staatsnah. Ein anderer Kritikpunkt lautete dagegen, die Politik würde sich hinter der Wissenschaft verschanzen und nur technokratisch deren Ansagen umsetzen. "Ich habe das persönlich nie so empfunden, dass wir plötzlich in Technokratie leben, das ist machiavellistischer Ansatz", hielt Wieler dagegen. Zumal das RKI nur "empfehlen, aber nichts durchsetzen" könne. "In Krisenfällen entscheiden in Deutschland die Landratsämter und Oberbürgermeister und Oberbürgermeisterinnen", dazu kamen im föderalen Deutschland ganz unterschiedliche Maßnahmen der 16 Bundesländer. "Da spreche ich Themen an, die die ARD-Rundfunkanstalten mit ihrer föderalen Struktur sicher nachvollziehen können", meinte Wieler mit Blick auf das vorrangig öffentlich-rechtliche Publikum bei der Public-Value-Konferenz.

Visualisierung war anfangs ein Problem

Mit seinen Empfehlungen in der Pandemie habe das RKI richtig gelegen. Nur "haben wir am Anfang zu wenig visualisiert. Bilder sind wichtig. Aber wir hatten fast keine technischen Möglichkeiten ", so Wieler. "Wir haben bisher keine einzige unserer Empfehlungen vom Netz nehmen müssen", allerdings seien diese Empfehlungen, wie in der Wissenschaft üblich, stets an neue Erkenntnisse und Bedingungen angepasst worden." Gerade dieses Prinzip der wissenschaftlichen Hinterfragung und Falsifikation hatte vor allem zu Beginn der Pandemie zu Irritationen und Missverständnissen auch in der medialen Berichterstattung geführt. Der Journalistik-Professor Holger Wormer von der TU Dortmund warnte seinerzeit davor, in der Corona-Krise Journalismus und Wissenschaft gegeneinander auszuspielen.

Erstmals gezielte Desinformationskampagnen

"Wir haben sehr viel gelernt. Corona ist die erste große Krise, wo soziale Medien eine große Rolle gespielt haben und bei der es gezielte Desinformation gab", so Wieler. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen seien gezielt instrumentalisiert worden. Dazu kam der Trend der Personalisierung in der Berichterstattung. Menschen wurden mit Institutionen verknüpft. Die Folgen bekam auch Wieler zu spüren: "Ich habe Situationen erlebt, wo versucht wurde, mich zu missbrauchen". Auch das RKI habe erst lernen müssen, mit Desinformation umzugehen. Dabei sei auch der klassische Journalismus nicht immer über jeden Zweifel erhaben. "Ich erwarte von Journalistinnen und Journalisten, dass sie zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden", so der RKI-Chef. "Doch heute lese ich Artikel, über denen nicht 'Kommentar' steht und die trotzdem vor allem Meinung sind."

Ich erwarte von Journalistinnen und Journalisten, dass sie zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden.

Prof. Dr. Lothar Wieler

"Infodemie" vermischt Fakten und Falschinformationen

Aktuell macht Wieler noch eine weitere Entwicklung Sorgen. Es gebe zu viele und vor allem zu wenig überprüfte Informationen im Zusammenhang mit der Pandemie. WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom spricht hier von einer "Infodemie". Die Öffentlichkeit suche nach vertrauenswürdigen Informationen, könne aber zwischen belastbaren Fakten und Desinformation nicht unterscheiden. "Eine Infodemie ist eine schnelle und weitreichende Verbreitung sowohl richtiger als auch falscher Informationen über beispielsweise eine Krankheit", so Wieler. Vor allem in Afrika seien die Impfraten bis heute deutlich geringer. Wo das Vertrauen in öffentliche Institutionen wie den Staat und die Medien gering sei, gebe es weniger Impfungen. Auch hier sind National Public Health Institute wie das RKI gefragt, "denn sie können dazu beitragen, diese Fehlinformationen zu widerlegen".

Seine Einschränkungen sprächen aber ausdrücklich nicht gegen Vielfalt und Diversität in der Berichterstattung, sagte Wieler und spielte damit auf den Schwerpunkt der Public-Value-Konferenz an. Die steht schließlich unter dem Titel "Gemeinwohl durch Vielfalt in den Medien". Vielfalt und Diversität seien "große und wichtige Eigenschaften", meinte der Mikrobiologie Wieler, schließlich "stärken sie auch Bakteriengesellschaften."