Meinung zu Gast Anna Hähnig – Ostdeutschland und das Wokesein 3 min
Audio: "Meinung zu Gast"-Autorin Anne Hähnig sagt, dass die Ostdeutschen mit woker Identitätspolitik auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen. Bildrechte: picture alliance / Geisler-Fotopress | Max Patzig/Geisler-Fotopress - Felix Adler

"Meinung zu Gast" Ostdeutsche Identitätspolitik: Wir sind nicht nur Opfer

01. November 2024, 10:14 Uhr

Die Ostdeutschen machen mit woker Identitätspolitik auf ihre Bedürfnisse aufmerksam, sagt "Meinung zu Gast"-Autorin Anne Hähnig. Dabei entstehe die Beschreibung einer Gruppe von Ausgelieferten, kritisiert sie.

Es gäbe wohl kaum jemanden, der Ostdeutschland als eine besonders woke Gegend bezeichnen würde. Woke, vielleicht muss man das hier kurz erklären, ist erst seit ein paar Jahren in Deutschland ein gängiger Begriff. Er kommt aus dem Englischen, und er beschreibt Menschen, die im hohen Maße sensibel sind für die Nöte und Bedürfnisse zum Beispiel von Minderheiten. Die sehr feine Antennen haben für Diskriminierungen aller Art. Die zum Beispiel dort beklagenswerten Sexismus wittern, wo andere eher einen Altherrenwitz erkennen. Einen, den man besser ignoriert statt skandalisiert. Woke, das sind nicht nur, aber doch häufiger Großstädter, Akademiker, Leute aus dem links-grünen Milieu.

Anne Hähnig Anne Hähnig ist Redaktionsleiterin von "ZEIT ONLINE". Zuvor leitete sie das Ressort "ZEIT im Osten" beziehungsweise das Leipziger Korrespondentenbüro der ZEIT.

Ostdeutschland ist nicht besonders woke. Außer, es geht um die eigenen Bedürfnisse. Denn die Mode des Woken hat man sich in dieser Gegend durchaus zunutze gemacht. Zuletzt verging kein Jahr ohne eine große Ost-Debatte. Jede davon kreiste irgendwie darum, ob die Menschen aus dieser Region diskriminiert werden. Ob sie ausreichend im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen sind. Ob sie sich in ausreichender Zahl in der Bundesregierung wiederfinden. Ob ostdeutsche Unternehmen weiterhin eine besondere Förderung verdienen. Und so weiter.

Offensive Identitätspolitik aus Ostdeutschland

All diese Fragen wurden gestellt und diskutiert. Und nichts daran ist falsch. Im Gegenteil: Viele Ostdebatten waren überfällig. Aber sie waren eben auch: Teil einer neuen, woken, ostdeutschen Identitätspolitik. Also einer Politik, die vor allem die Bedürfnisse der eigenen Gruppe betont. Keine andere deutsche Region hat zuletzt dermaßen offensiv Identitätspolitik betrieben wie Ostdeutschland. Nicht einmal Bayern. Und all das wäre weder besonders erwähnens-, geschweige denn beklagenswert, wenn diese Entwicklung nicht manchmal absurde Züge annehmen würde. Aber das tut sie.

Meinung zu Gast In der Rubrik "Meinung zu Gast" analysieren und kommentieren Medienschaffende aus Mitteldeutschland Transformations- und Veränderungsthemen: faktenbasiert, pointiert und regional verortet. Die Beiträge erscheinen freitags auf mdr.de und in der MDR AKTUELL App. Hören können Sie "Meinung zu Gast" dann jeweils am Sonntag im Nachrichtenradio MDR AKTUELL.

Das zuletzt meistverkaufte Buch über Ostdeutschland hat Dirk Oschmann geschrieben, ein Germanist der Uni Leipzig. Es heißt: "Der Osten, eine westdeutsche Erfindung". In Oschmanns Welt ist der Osten das arme Opfer eines boshaften Westens. Wie im Märchen der Gebrüder Grimm. Hier gut, dort böse. Als hätten die Ostdeutschen mit ihren eigenen Erfolgen und Misserfolgen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Warum Oschmann das tut, ist leicht erklärt. Er will diese Region voranbringen, also Identitätspolitik betreiben, zumindest publizistisch. Und Identitätspolitik lebt von der Eindeutigkeit. Sie lebt von der Idee, dass es einerseits eine diskriminierte Gruppe und andererseits eine ignorante Mehrheitsgesellschaft gebe. Ambivalenzen stören da nur.

Autor Dirk Oschmann mit kurzen grauen Locken und einer Brille. 2 min
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Der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann findet, dass sich Ostdeutschland in der öffentlichen Wahrnehmung verändert hat. Das sagte er im MDR-Gespräch:

MDR KULTUR - Das Radio Di 09.01.2024 12:57Uhr 02:25 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/leipzig-osten-ostdeutschland-berichterstattung-fairer100.html

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Absurde Züge

Und das ist das Absurde an Identitätspolitik, das ist ihre große Schwäche. Sie war gedacht als Mittel der Ermächtigung. Und neigt doch dazu, die jeweilige zu begünstigende Gruppe als Ausgelieferte zu beschreiben.

Wir hier im Osten sind nicht nur arme Opfer.

Eine Gesellschaft aber, die sich als ausgeliefert begreift, der fehlt etwas. Ihr fehlt – pathetisch gesagt – Kraft und Kreativität. Ihr fehlt das Vermögen, sich selbst zu hinterfragen, sich selbst zu verbessern. Ihr fehlt das Vertrauen darin, das eigene Schicksal aus eigener Kraft verändern zu können. Aber war das nicht die große Geschichte von 1989? Wir hier im Osten sind nicht nur arme Opfer, wir sind auch die Autoren unserer eigenen Geschichte.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 03. November 2024 | 10:04 Uhr

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