Zur Vernichtung abgegebene und gesammelte Medikamente
Opioide werden vor allem in der Schmerztherapie eingesetzt, aber auch immer häufiger illegal konsumiert und machen extrem schnell abhängig. Bildrechte: picture alliance/dpa/AP/Keith Srakocic

Suchtforscher im Interview Warum Prävention im Suchtbereich so wichtig ist

10. Februar 2024, 08:22 Uhr

Daniel Deimel ist Professor für Klinische Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Einer seiner Schwerpunkte ist die Suchtforschung. Im Interview spricht er über die Gefahr einer Verbreitung von synthetischen Opioiden auch in Deutschland und Europa – betont aber auch, was aktuell noch zur Prävention getan werden könnte.

MDR AKTUELL: Derzeit besteht große Sorge, dass sich Fentanyl im Suchtbereich auch in Deutschland ausbreitet. Aber was ist Fentanyl eigentlich?

Daniel Deimel: Fentanyl ist ein Medizinprodukt. Ein sehr starkes Schmerzmittel, das zum Beispiel in der Schmerzbehandlung bei Tumorpatientinnen und -patienten angewendet wird. Häufig wird es auch als Pflaster aufgetragen. Wir haben zwar relativ viele Verordnungen in Deutschland, aber wir sind ja auch eine relativ alte Gesellschaft. Das ist also erst einmal nicht unbedingt ungewöhnlich.

Welche Entwicklung bereitet Ihnen aktuell aber Sorge?

Wir haben gerade eine Situation, in der ungefähr 170.000 Menschen in Deutschland abhängig von Opioiden sind, in der Regel von Heroin. Das sind Menschen, die sich häufig in einer offenen Drogenszene aufhalten, vor allem in großstädtischen Räumen. Und gerade sehen wir, dass Heroin immer knapper wird.

Warum?

Suchtforscher Daniel Deimel
Suchtforscher Daniel Deimel Bildrechte: katho/privat

Das Heroin, das hier konsumiert wird, kommt überwiegend aus Afghanistan. Heroin wird aus Schlafmohn gewonnen. Und die Taliban, die in Afghanistan an der Macht sind, haben 2023 ein Verbot der Produktion von Schlafmohn erlassen und umgesetzt. Im Zuge dessen ist auch die Produktion von Heroin eingebrochen. Und das wird große Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Heroin auf dem Drogenmarkt in Europa haben. Wir befürchten, dass sich der Drogenmarkt dadurch verändert. Hier kommen nämlich die synthetischen Opioide ins Spiel. Das Heroin, das jetzt noch verfügbar ist, könnte zum Beispiel durch synthetische Opioide gestreckt wird, um es potenter zu machen. Synthetische Opioide haben ein ähnliches Wirkspektrum wie Heroin, sind aber deutlich stärker und dadurch nicht gut dosierbar. Und deswegen ist die Gefahr von tödlichen Überdosierungen deutlich größer. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht hat bereits eine Warnung ausgesprochen, man möge sich auf aufkommende synthetische Opioide vorbereiten und entsprechende Maßnahmen einleiten.

Wie nah ist das Ganze mittlerweile an uns dran?

Im Herbst und Winter vergangenen Jahres ist es in Europa regional schon zu Clustern gekommen, in denen es verstärkt Überdosierungen gegeben hat: In der Region rund um Dublin und in Birmingham, also in Irland und Großbritannien. Rund um Dublin hat es innerhalb von vier Tagen 54 Überdosierungen gegeben. In Birmingham hat es innerhalb von zwei Monaten 30 Tote gegeben. Also das heißt, das sind lokale Cluster, die man jetzt schon feststellen kann. Und der Drogenmarkt ist eben international. Deswegen ist unsere Sorge groß, dass solche Befunde auch hier auftauchen werden.

Und um das zu überwachen, hat der Drogenbeauftragte der Bundesregierung das Modellprojekt "Rapid Fentanyl Tests in Drogenkonsumräumen" (RAFT) beauftragt, das gemeinsam mit der Deutschen Aidshilfe umgesetzt wurde?

Ja, die Ergebnisse werden jetzt an das Bundesgesundheitsministerium übermittelt. Und es ist klar, dass drei Prozent der untersuchten Proben positiv auf Fentanyl getestet wurden. Es taucht also schon auf, nicht in sehr hohen Maße, aber punktuell. Und diese Testungen funktionieren sehr gut. Die Zielgruppe ist auch bereit, diese Tests einzusetzen und sich so auch selbst zu schützen. Kein Konsument hat Interesse an einer Überdosierung.

Bräuchte es nicht mehr solcher Programme?

Solche Testprogramme müssten jetzt deutlich ausgeweitet werden, ja. Wir brauchen eine Testinfrastruktur. Einerseits in Drogenkonsumräumen, aber wir müssen auch Konsumentinnen und Konsumenten die Möglichkeit bieten, solche Test mit nach Hause nehmen können und doch dort Testungen durchzuführen. Es gibt ja auch nicht in jeder Kommune frei zugängliche und geschützte Konsumräume. Und darüber hinaus brauchen wir ein Monitoring. Wir müssen diese Testungen und deren Ergebnisse auch sammeln und auswerten. Wir müssten eine Kommunikationsstrategie aufbauen und überlegen, ab welchem Punkt zum Beispiel auch öffentliche Warnungen ausgesprochen werden müssen. Das hat man in Dublin zum Beispiel recht früh gemacht.

Was könnten Bund und Länder noch tun?

Wir haben jetzt erstmalig eigentlich die Situation, dass wir sozusagen vor der Lage sind. Wir können jetzt präventiv handeln. Das ist sehr ungewöhnlich für den Suchtbereich. Konkret sollte die Infrastruktur für Drogenkonsumräume ausgebaut werden. Es ist ganz zentral und wichtig, dass wir sichere Orte haben, an denen eben Leben gerettet wird. Und wir müssen eigentlich dafür sorgen, dass viel mehr Menschen auch in substitutionsgestützte Behandlungen kommen. Denn anders als bei Crack zum Beispiel gibt es ja eine medikamentöse Behandlungsmöglichkeit bei Opioidabhängigkeit.

Welche Entwicklungen beobachten Sie darüber hinaus in Deutschland und Europa?

Wir beobachten schon seit 2016 in ganz Europa einen massiven Anstieg von Kokain. Nicht nur, was den Konsum betrifft, sondern auch die Beschlagnahmungen. Kokain wird in sehr hohem Maß nach Europa gebracht, aus Südamerika, vor allem aus Kolumbien. Der Markt wird regelrecht geflutet mit hochreinem Kokain. Und dieser sehr hohe Reinheitsgrad, mit dem das Kokain nach Europa gelangt, ist auch ein Indikator dafür, dass sehr viel auf dem Markt verfügbar ist. Kokain wird, ganz im Gegensatz zu Opioiden, aber vor allem in der Mitte der Gesellschaft konsumiert.

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Eine junge Frau mit den Händne vorm Gesicht - dahinter Medikamente. Symbolbild Medikamentenabhängigkeit 27 min
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In Deutschland scheint vielerorts auch immer mehr Crack konsumiert zu werden.

Ja, in den offenen Drogenszenen beobachten wir das auch seit 2016 zunehmend, vor allem in Großstädten in Westdeutschland. Abhängige, die auch zuvor schon regelmäßig Kokain konsumiert haben, gespritzt oder nasal, sind dazu übergegangen, es selbst zu Cracksteinen aufzukochen. Das geht relativ simpel – mit Backpulver. Crack wirkt sehr viel stärker als Kokain. Und auch die Verelendung ist deutlich, deutlich stärker. Das merken wir auch im öffentlichen Raum, wir sehen mehr crackabhängige Menschen, die wirklich stark verelendet sind. Für Stimulanzien wie Crack gibt es aber auch kein Substitut, also keinen medizinischen Ersatzstoff, und Suchtmediziner stehen hilflos da.

Sie sprechen von Westdeutschland. Auf Mitteldeutschland trifft das nicht zu?

Bei Ihnen in der Gegend ist es bisher nicht so auffällig. Vermutlich liegt das daran, dass im Osten grundsätzlich eher Methamphetamin konsumiert wird, auch eine hochpotente Stimulanz. Ein Hypothese könnte sein, dass die Konsumentinnen und Konsumenten dann gar nicht zu Crack greifen, weil eben viel Methamphetamin auf dem Markt ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 10. Februar 2024 | 08:11 Uhr

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