Gängige Medikamente können als Nebenwirkung eine Depression hervorrufen.
Benzos und Opioide haben ein sehr hohes Suchtpotenzial. Bildrechte: imago images/Future Image

Süchtig auf Rezept Benzos, Tilidin & Co: Warum Jugendliche Medikamente missbrauchen

20. März 2023, 17:00 Uhr

Etwa 2,3 Millionen Menschen in Deutschland sind medikamentenabhängig. Häufig sind es Opioide oder Benzodiazepine ("Benzos"), Schmerz- und Beruhigungsmittel, von denen die Menschen nicht mehr loskommen. Während der Pandemie wurden sie auch Jugendlichen immer häufiger verschrieben. Und wer kein Rezept hat, geht auf die Straße oder zum Dealer im Netz. Im Gespräch mit jungen suchtkranken Menschen wird deutlich, dass die Abhängigkeit oft aus dem Versuch entsteht, in der Gesellschaft zu funktionieren.

"Dir wird auf einmal extrem warm um die Beine und deinen Körper und du fühlst so ein Glücksgefühl im Magen. Es ist, als wärst du in Watte eingerollt. Und alles ist komplett egal, es geht nur um diesen Moment. Alles ist so extrem schön, dass man sich wünscht, dass es immer so bleibt." So spricht der 18-jährige Maurice* von Tilidin.

Als Maurice das verschreibungspflichtige Schmerzmittel zum ersten Mal genommen hat, war er noch minderjährig. Eine befreundete Krankenschwester hatte die Tabletten aus dem Krankenhaus mitgehen lassen. Dass einer seiner Freunde zuvor wegen eines ähnlichen Medikaments, das mit Fentanyl gestreckt war, im Krankenhaus gelandet ist, hielt ihn nicht ab.

Ängste und Depressionen selbst therapieren – mit Benzos und Opiaten

Tilidin war nicht die erste Droge, die Maurice genommen hat. Er raucht zuvor schon regelmäßig Gras, nimmt am Wochenende Ecstasy. Das Tilidin habe er wegen Depressionen, Angststörungen und anderen Dingen in seinem Kopf probiert, erzählt er. "Um mich zu entspannen, damit mein Kopf nicht durchgängig auf 120 Prozent arbeitet."

Doch auch dabei blieb es nicht. Auf den Geschmack gekommen, durchsuchte Maurice die Hausapotheke seiner Mutter und fand dort Tavor und Lorazepam. Das sind keine Schmerzmittel sondern Benzodiazepine, kurz "Benzos".

Benzodiazepine Benzos sind Medikamente, die nur ein Arzt oder eine Ärztin verschreiben dürfen.  Sie können Menschen mit psychischen Erkrankungen kurzfristig helfen, zum Beispiel bei Angststörungen, Panikattacken oder Schlafproblemen. Sie docken an den so genannten GABAA-Rezeptoren im Gehirn an und sorgen dafür, dass die Neuronenmembranen weniger stark erregt werden. Patienten empfinden das dann als beruhigend.

Doch die Wirkung hält je nach Medikament nur ein paar Stunden bis maximal einen Tag an. Danach können die Symptome, die man eigentlich lindern wollte, wiederkommen. Wer deshalb zu oft hintereinander Benzos nimmt, kann nach nur wenigen Wochen süchtig werden. Alleine in Deutschland gibt es rund 50 verschiedene Benzo-Präparate von unterschiedlichen Herstellern. Sie gelten weltweit als die Medikamente mit der höchsten Missbrauchsrate. Bundesärztekammer

Maurice konsumiert über Monate, beliest sich in Internetforen, erweitert seinen Kreis an Dealern, probiert immer mehr verschiedene Medikamente aus. Als er schließlich versucht, die Benzos abzusetzen, kommen seine Ängste zurück – schlimmer als zuvor. "Wenn man die Benzos nicht mehr nimmt, bekommt man erst recht Ängste. Man muss sie dann immer öfter nehmen, damit die Ängste wieder verschwinden."

Maurice hat versucht, sich mit den Benzos gewissermaßen selbst zu therapieren. Und da ist er kein Einzelfall: "In Zeiten von Krisen wie Corona oder dem Ukraine-Krieg sind Drogen wie Benzos und Opiate gefragt, um runterzukommen und zu entspannen. Jugendliche erhoffen sich, dass sie das wegbringt von Unsicherheiten und Problemen", erklärt Matthias Rost von der Jugenddrogenberatungsstelle K(L)ICK in Leipzig.

Die jungen Menschen nehmen Upper, dann Downer, versuchen das eine mit dem anderen zu regulieren, sodass ein größerer Kreis an Substanzen zusammenkommt.

Dr. Brütting Psychiater

Wenn Drogen im Freundeskreis dazugehören

So wie Maurice ist auch die 18-jährige Emma* durch ihre Freunde zum ersten Mal mit Opiaten und anderen Drogen in Kontakt gekommen: "Auf meiner ersten Hausparty, hat jemand gefragt, ob ich Lust hätte, was zu nehmen. Und es haben halt alle genommen. Also dachte ich mir, kann ja nicht so schlimm sein, wenn ich eine halbe Tablette probiere."

Doch das war nur der Anfang. Emma hängt mit älteren Jungs ab, manche drängen sie, auch andere Substanzen auszuprobieren. Der Konsum wird häufiger, ist schon bald ein normaler Teil der gemeinsamen Freizeit. Ihre damals beste Freundin landet sogar wegen Heroin in einer Klinik, erzählt sie. Eigentlich eine abschreckende Erfahrung, doch Emma konsumiert weiter: "Oxycodon, Koks, Pep, Codein, alles Mögliche."

Die Konsequenz: Depressionen, die sie schon länger hatte, wurden schlimmer. Für die Schule fehlte ihr jede Motivation: "Es ist dir einfach komplett egal. Du hast keinen Plan für die Zukunft. Gar nichts." Weil sie merkt, dass es ihr immer schlechter geht, hört sie schließlich auf zu konsumieren. Dabei zu bleiben, ist nicht leicht: "Weil die Drogen noch ständig um dich rum sind. Du bleibst ja in deinen Kreisen."

Corona-Pandemie: Drogenmissbrauch bei Jugendlichen gestiegen

Laut Bundesgesundheitsministerium sind 2,3 Millionen Menschen in Deutschland medikamentenabhängig. Zum Vergleich: Als alkoholabhängig gelten "nur" etwa 1,6 Millionen Menschen. Es sind mehr Frauen als Männer, die Medikamente missbrauchen. Das liegt daran, dass ihnen Studien zufolge Benzodiazepine, die ein sehr hohes Suchtpotenzial haben, häufiger verschrieben werden als Männern. Gründe für die Verschreibung von Benzodiazepinen sind für gewöhnlich Schlafprobleme oder Ängste.

Während die Verschreibungen bei Erwachsenen seit einigen Jahren sinken, steigen sie bei den Jugendlichen an. Menschen mit Privatrezept, die ihre Medikamente selbst bezahlen, sind dabei in dieser Statistik der gesetzlichen Krankenkassen noch gar nicht erfasst. Die Dunkelziffer könnte also wesentlich höher sein.

Die steigenden Verschreibungszahlen deuten jedoch bereits einen Trend an: Immer mehr Jugendliche nehmen Benzos und Opioide. Die Corona-Krise könnte ein Auslöser dafür gewesen sein. Dr. Michael Brütting, Oberarzt auf der psychiatrischen Station der Uniklinik Halle, sagt: "Ich gehe davon aus, dass diese Zeit keinen guten Einfluss auf die Jugendlichen hatte. Das zeigen auch Studien. Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind die Behandlungszahlen exorbitant gestiegen."

Der Mediziner erklärt, dass während der Pandemie soziale Isolation und Ängste eine sehr große Rolle gespielt hätten. "Dann haben eben auch junge Menschen zu Substanzen gegriffen, um diese Missempfindungen, diese Gefühle in den Griff zu bekommen."

Bei dem Versuch, sich selbst zu therapieren, seien die Jugendlichen dann teilweise in die Sucht hineingerutscht. "Mein Eindruck ist, dass bei jungen Menschen selten isolierte Benzodiazepin-Abhängigkeiten auftreten. Stattdessen nehmen sie Upper, dann Downer, versuchen das eine mit dem anderen zu regulieren, sodass ein größerer Kreis an Substanzen zusammenkommt", erklärt Brütting.

Rap und Benzos: Medikamentenmissbrauch in der Popkultur

Einer, der sich auch selbst therapiert hat, ist Rapper t-low. Der heute 21-Jährige hat im Alter von 16 Jahren eine Panikstörung entwickelt, traute sich auf einmal kaum mehr unter Menschen. Im Internet fand er einen scheinbar einfachen Ausweg: Benzos. Die besorgte er sich und sie halfen ihm auch – am Anfang: "Du nimmst so eine Pille und 40 Minuten später bist du der sozialste Mensch überhaupt. Du kannst in riesige Menschengruppen rein, das Panik-Gefühl existiert gar nicht mehr. Ist eigentlich klar, dass man da süchtig wird. In der Öffentlichkeit klarzukommen, ist schließlich ein riesiger Teil des Lebens."

t-low konsumiert nicht nur, er rappt auch darüber: "Weil das das Hauptthema meines Lebens ist. Ich glaube, das ist bei jedem Suchtkranken so." Seine aktuelle Platte "Percocet Party" ist auf Platz 3 der deutschen Albumcharts eingestiegen. Eine Single hat sogar Platinstatus erreicht. Percocet ist ein opioidhaltiges Medikament, das nur bei sehr starken Schmerzen verschrieben werden darf.

Über soziale Medien wie Instagram lässt t-low seine 264.000  Followerinnen und Follower an seinem Leben teilhaben. Die bekommen dadurch auch einen Einblick in seinen Drogenkonsum und seinen Kampf gegen die Sucht. Dabei seien Benzos für ihn im Moment kein Problem mehr, erzählt t-low: "Ich konsumiere nur noch während Live-Shows".

t-low geht mit seiner Medikamentenabhängigkeit sehr offen um. In seinen Musikvideos und auf seinem Instagram sieht man Berge leerer und halbvoller Medikamentenverpackungen. In seinen Texten beschreibt er die Highs, aber eben auch, wie kaputt ihn die Drogen gemacht haben. Welche Wirkung hat das auf seine teils minderjährigen Fans? T-low hält sich irgendwie schon für ein Vorbild: "Wer richtig hinhört, der versteht, dass ich die Drogen nicht glorifiziere. Bleibt weg von den Medikamenten, von allem – das ist auf jeden Fall der bessere Weg."

Emma erklärt den Einfluss, den Musik auf ihren Konsum hat, so: "Wenn man bestimmte Musik auf Drogen hört, dann verbindet man die damit. Und manchmal denkt man sich auch, dass es irgendwie ganz cool ist das zu machen. Aber ich hab nie was ausprobieren wollen, nur weil jemand drüber rappt."

Prävention: Mehr Aufklärung zu mentaler Gesundheit

Wie umgehen mit den steigenden Zahlen Medikamentenabhängiger? Dr. Brütting findet, man müsse schon sehr frühzeitig in der Schule, sogar im Kindergarten, anfangen Wissen über die mentale Gesundheit Heranwachsender zu vermitteln: "Das geht mit gesunder Ernährung los, aber auch ein gesundes Gleichgewicht zwischen Stress und Entspannung gehört dazu."

Ein anderer Weg, dem Missbrauch von Medikamenten entgegenzutreten, wäre dafür zu sorgen, dass man nicht mehr so leicht an gefälschte Rezepte kommt. Rezepte seien als physische Dokumente anfällig dafür, kopiert oder selbst gedruckt zu werden, erklärt Dr. André Said, Apotheker Leiter der Geschäftsstelle der Arzneimittelkommission. Bei Privatrezepten sei das besonders leicht, weil diese kein einheitliches Format haben. "Am Ende reicht jedes Schriftstück eines Arztes, der per Stempel dieses Privatrezept ausstellen kann. Insofern ist es ungemein schwierig für Apotheker, dort Fälschungen zu erkennen."

Die Einführung eines E-Rezeptes könnte hier Abhilfe schaffen. Doch wann das geschehen soll, ist unklar. Auf Anfrage des MDR erklärte das Bundesgesundheitsministerium schriftlich: "Die nächsten Schritte für eine bundesweit verbindliche Einführung des E-Rezepts in den (Zahn-)Arztpraxen und Krankenhäusern werden von den Gesellschaftern der Gematik zeitnah festgelegt. [...]"

Suchtberatungsstellen in Mitteldeutschland

In Sachsen gibt es 45 Suchtberatungs- und Behandlungsstellen, die auf sachsen.de aufgeführt sind. In Sachsen-Anhalt kann man über den Suchthilfewegweiser der Landesstelle für Suchtfragen Hilfe finden. In Thüringen kann man sich an den Verein "Suchthilfe in Thüringen", die AWO oder die Suchtberatung des "Jugendschutz Thüringen e.V." wenden. Auch die digitale Suchberatung hilft Betroffenen und Angehörigen weiter.

*Name geändert (Anm. d. Red.)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt - Die Story | 29. März 2023 | 20:45 Uhr

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