Sexualisierte Gewalt K.-o.-Tropfen beim Feiern verabreicht: Warum die Zahl der Betroffenen unklar ist

11. November 2022, 19:30 Uhr

Auch in Sachsen-Anhalt sind K.-o.-Tropfen, auch als Date-Rape-Drogen oder GHB bekannt, ein Problem. Doch wie groß dieses ist, weiß man nicht. Denn K.-o.-Tropfen werden in der Statistik der Polizei nicht gesondert erfasst. Wir erklären, warum es schwierig ist, Zahlen zu erheben und wie man sich vor Angriffen schützen kann.

Seit diesem Jahr häufen sich Nachrichten und Berichte Betroffener von sogenanntem "Needle Spiking" in Berlin. Das Phänomen, bei dem Menschen in Clubs oder Diskotheken heimlich mit einer Nadel K.-o.-Tropfen verabreicht werden, ist vor allem aus Großbritannien und Frankreich bekannt, wird aber zunehmend auch in Clubs oder auf Festivals in Deutschland beobachtet.

Vor einer Woche hatte es offenbar den ersten bekannten Fall in Thüringen gegeben: In der Nacht zu Dienstag, dem 18. Oktober, soll eine junge Frau vor dem Club "Kassablanca" in Jena heimlich mit einer Nadel in den Hals gestochen worden sein.

Wenn von K.-o.-Tropfen oder auch "Date-Rape"-Drogen gesprochen wird, ist meistens GHB oder GBL gemeint, als Party-Droge auch als "Liquid Ecstasy" bekannt. Laut der Berliner Kampagne "K.-o.-Tropfen – Nein Danke" werden auch Ketamin, Benzodiazepine wie Rohypnol oder andere Downer genutzt, um Menschen wehr- oder willenlos zu machen und sie zu vergewaltigen oder auszurauben. Der Name "K.-o.-Tropfen" täusche, denn die gemeinten Drogen seien nicht immer flüssig, sondern können auch Tabletten- oder Pulverform haben.

Was sind "Downer"?

Downer sind Drogen, die müde machen, die Muskeln entspannen und einschläfernd wirken. Sie können einen benommenen, träumerischen Zustand herbeiführen. Ein Beispiel ist GHB oder Liquid Ecstasy, das weder chemisch mit Amphetaminen oder Ecstasy (MDMA) verwandt ist, noch eine ähnliche Wirkung hat.

K.-o.-Tropfen tauchen in der Statistik der Polizei nicht auf

Ist "Needle Spiking" auch in Sachsen-Anhalt ein Problem? Dem Landeskriminalamt sind keine Fälle bekannt. Präventionsprojekte gegen K.-o.-Tropfen gebe es auch nicht, so das Landeskriminalamt auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT. Weder "Needle Spiking" noch K.-o.-Tropfen werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik berücksichtigt.

Fälle gibt es aber in Sachsen-Anhalt durchaus: Beispielsweise mussten im August beim Forest Jump Festival in Pretzier bei Salzwedel fünf Menschen aufgrund von K.-o.-Tropfen ins Krankenhaus gebracht werden.

Bei einer Anzeige wird dem Landeskriminalamt zufolge oft nicht der tatsächliche Tatort aufgenommen, sondern der Ort, an dem die Betroffenen die Symptome bemerken. Es sei außerdem davon auszugehen, dass viele Fälle gar nicht angezeigt würden und es eine große Dunkelziffer gebe.

Wenn das Verabreichen von K.-o.-Tropfen angezeigt wird, werden die Fälle teils unter schwerer Körperverletzung, teils als Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz geführt. Dem Landeskriminalamt zufolge kann es auch sein, dass die K.-o.-Tropfen lediglich als Tatmittel aufgeführt werden und nicht das Verabreichen an sich angezeigt wird. Während GHB beispielsweise durch das Betäubungsmittelgesetz verboten ist, ist GBL in Deutschland legal. Die Verabreichung von GBL an Personen gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen ist aber strafbar.

Zahlen aus anderen Bundesländern sind nicht vergleichbar

In anderen Bundesländern scheint die zahlenmäßige Erfassung von Fällen, in denen Menschen K.-o.-Tropfen verabreicht wurden, allerdings möglich zu sein: Wie die Berliner Zeitung im Juni berichtete, habe die Polizei Berlin von Januar bis Mai 2022 sieben Fälle von K.-o.-Tropfen registriert. Aus dem Jahr 2021 seien 22 Fälle von K.-o.-Tropfen bekannt.

Auch die Polizei Sachsen hat Zahlen zu 2021 veröffentlicht: So seien vergangenes Jahr in Sachsen 47 Anzeigen zu Straftaten im Zusammenhang mit K.-o.-Tropfen aufgenommen worden, mehr als doppelt so viele wie in Berlin. In 20 Fällen seien Bars, Clubs und Diskotheken als Tatort angegeben worden.

Laut einer Recherche von BuzzFeed News Deutschland vom September 2019 werden Zahlen zu K.-o.-Tropfen von verschiedenen Bundesländern, wenn überhaupt, auf verschiedenste Art und Weise erfasst. Die Zahlen seien deshalb nicht vergleichbar.

Auch das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen", das von Gewalt betroffene Frauen kostenlos per Telefonhotline berät, führt keine eigene Statistik zu Betroffenen von K.-o.-Tropfen. Laut dem Hilfetelefon sind K.-o.-Tropfen nur in sehr wenigen Beratungen ein Thema. Man erhebe generell keine personalisierten Daten, um eine anonyme Beratung zu gewährleisten. Ein Anstieg der Vorfälle sei nicht zu erkennen.

Der Verdacht kommt meistens zu spät

Carina Walofsky von der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt Wildwasser e. V. Magdeburg meint ebenfalls, dass es schwierig ist, Zahlen zu Betroffenen von K.-o.-Tropfen zu erfassen. Die Beratungsstelle begleite seit Jahren Menschen, die Übergriffe nach dem Verabreichen von Drogen erlebt haben. Den wenigsten Betroffenen sei unmittelbar nach der Tat bewusst, dass sie wahrscheinlich unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen standen, so Walofsky.

Häufig bleibe es nicht mehr als eine vage Vermutung, dass Substanzen eine Rolle gespielt haben, so Walofsky. Wenn Betroffene einen Verdacht äußern, seien mögliche K.-o.-Tropfen im Blut oder Urin oft nicht mehr nachweisbar. Laut der Kampagne "K.-o.-Tropfen – Nein Danke" ist das schon nach etwa zwölf Stunden der Fall.

Oft liegt der Nachweis auch gar nicht im Bedarf der Betroffenen, meint Walofsky. Es gehe vielen in erster Linie darum, Bewältigungsstrategien zu entwickeln und die sexualisierte Gewalt zu verarbeiten.

Betroffene leiden häufig unter Schuldgefühlen

Laut Carina Walofsky leiden Betroffene auch häufig unter Schuldgefühlen. Sie plage oft der Gedanke, dass sie den Übergriff selbst verursacht haben oder dass sie ihn hätten verhindern müssen. "Was natürlich nicht stimmt", sagt Walofsky entschieden, "die Verantwortung liegt immer beim Täter oder der Täterin".

Trotzdem könne man verschiedene Vorsichtsmaßnahmen treffen, so Walofsky. Man solle sein Getränk nicht unbeobachtet stehen lassen und es mit einer Kappe oder einem Stöpsel, durch den ein Strohhalm geschoben wird, verschließen.

Ein weiteres Problem: Die Wirkung von K.-o.-Tropfen komme ganz auf die bestimmte Substanz, die Dosis und die Rahmenbedingungen an, so Walofsky. Wenn Menschen beispielsweise in einem Club K.-o.-Tropfen verabreicht bekommen, sei oft Alkohol im Spiel, was die Wirkung beeinflusse. Laut dem Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland kann GHB in Verbindung mit Alkohol und anderen Drogen lebensgefährlich sein.

Manchmal verspüren Betroffene auch nur Lust auf Sex, ein Gefühl von Enthemmung oder besonders viel Spaß und Freude, so Walofsky. Und das falle nicht negativ auf: "Wenn man zusammen feiert, dann hat man eben auch Spaß. Und da braucht es ein aufmerksames Umfeld, das merkt, wenn sich jemand plötzlich anders verhält als sonst", so Walofsky.

Carina Walofsky rät Frauen, vorsichtig mit dem Annehmen von Getränken zu sein. Man solle zwar nicht ängstlich durchs Leben gehen, aber Übergriffe grundsätzlich als Möglichkeit erachten. "Wenn ich wahrnehme, dass eine Freundin von mir sich anders verhält als sonst oder mit Personen mitgeht, die sie frisch kennengelernt hat, sollte man einfach mal eine Nachfrage stellen. Auch wenn ich die Person gut gelaunt erlebe und nicht, was man vielleicht erwarten würde, durcheinander oder ängstlich."

Walofsky zufolge werden Menschen nicht nur auf Partys Opfer von Straftaten in Zusammenhang mit K.-o.-Tropfen. Zum Beispiel gebe es nicht selten die Vermutung, dass Bekannte oder Partner den Betroffenen GHB oder ähnliches verabreicht haben. Man könne es grundsätzlich nicht verhindern, Opfer zu werden, weil die Täter und Täterinnen sehr zielgerichtet vorgehen, warnt Walofsky. Aber man könne viel tun, um das Risiko zu verringern. 

Was kann ich tun, um mich und andere zu schützen?

  • keine offenen Getränke annehmen und Getränke nie unbeaufsichtigt stehen lassen oder mit anderen Teilen
  • bei Unwohlsein oder Übelkeit sofort die Menschen, die mit einem unterwegs sind, das Barpersonal oder das Sicherheitspersonal ansprechen
  • zusammen kommen, zusammen gehen und aufeinander achten 
  • den Club oder die Party verlassen, wenn man sich nicht sicher fühlt
  • der Darstellung Betroffener glauben und anderen Menschen helfen
  • im Zweifel die Polizei oder den Notruf anrufen und sich auf Rohypnol / Flunitrazepam, Fentanyl, Scopolamin, Propofol, GHB / GBL, Ketamin oder andere Downer testen lassen 
  • bei körperlichen Verletzungen Medikamente zur HIV- und Hepatitis-Postexpositionsprophylaxe nehmen
  • bei K.-o.-Tropfen-Test-Armbändern beachten, dass diese nur auf GHB testen

Beratungsangebote zum Thema 

  • Liste der Frauenberatungsstellen in Sachsen-Anhalt: gewaltfreies-sachsen-anhalt.de
  • Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 116016
  • Opfer-Telefon vom Weissen Ring: 116 006
  • Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten: Zentrum für sexuelle Gesundheit der Aidshilfe Sachen-Anhalt

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MDR (Marie Zinkann)

7 Kommentare

hilflos am 12.11.2022

@haller, nun Anfang/Mitte der 1980er Jahre war noch Frieden bei der Party und im Studentenklub. In Ostberlin war es höchsten ein Gintonic, ein Bier oder sonst etwas zu viel...

Haller am 12.11.2022

Selig kann man nicht sagen, und da ist man unabhängig vom Geschlecht nicht geschützt vor.
Einmal, vor rund 25 Jahren hatte ich einen Ausfall der ggf. darauf zurückzuführen war.

hilflos am 12.11.2022

Nun, als junger Kerl ist man abends mit klarem Ziel losgezogen. Ko Tropfen brauchte es nicht, denn damals wollten die Mädchen auch oft.... Und falls nicht, dann war es auch noch so.

Allerdings habe ich Zweifel am unbemerkten Stich in den Hals...

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