Isabelle Lehn 7 min
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"Remigration" ist "Unwort des Jahres". Der verharmlosende Begriff ist gefährlich, hat aber durch die aktuelle Offenlegung auch seine manipulative Macht verloren, meint die Leipziger Sprachwissenschaftlerin Isabelle Lehn.

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Unwort des Jahres Leipziger Sprachwissenschaftlerin über Begriff "Remigration"

16. Januar 2024, 08:58 Uhr

"Remigration" ist das Unwort des Jahres 2023, das hat die Jury am Montag entschieden. Die Leipziger Sprachwissenschaftlerin und Rhetorikerin Isabelle Lehn erklärt im Interview mit MDR KULTUR, wie der eigentlich ideologiefreie Begriff von Rechtsextremen missbraucht und verharmlosend verwendet wird. Sie spricht über sprachliche Manipulation und darüber, wie ein kritischer Blick auf die Sprache helfen kann, Lügen zu entlarven.

MDR KULTUR: Wie sehen Sie das Wort "Remigration"? Sprachwissenschaftlich bezieht es sich ja auf "Migration", was von "Wanderung" kommt, und inzwischen vor allem "Einwanderung" heißt. Bezeichnet die Silbe "Re" schlicht die Gegenbewegung?

Isabelle Lehn: Ja, ursprünglich schon. Genau! Deshalb ist das Wort "Remigration" an sich auch erst mal unproblematisch, da es eigentlich aus einem ideologiefreien Kontext stammt, nämlich aus der Wissenschaft. Zum Beispiel aus der soziologischen Migrationsforschung, wo es rein deskriptiv verwendet wird für Phänomene, die eigentlich harmlos sind, nämlich dass viele Migranten im Lauf ihres Lebens die Entscheidung treffen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Und das aus ganz unterschiedlichen Gründen. Sei es, dass sie das Rentenalter erreicht haben, dass sie mit ihren Familien wieder vereint sein wollen, aus wirtschaftlichen Gründen, warum auch immer.

Isabelle Lehn, eine Frau mit schwarzem Haar und schwarzer Brille sitzt vor einer Wand und blickt nachdenklich an der Kamera vorbei.
Die Leipziger Sprachwissenschaftlerin, promovierte Rhetorikerin und Schriftstellerin Isabelle Lehn. Bildrechte: Sascha Kokot

Aber all diesen Anlässen ist gemeinsam, dass sie auf Freiwilligkeit basieren. Es ist eine freie Entscheidung, ein Land wieder zu verlassen. Genauso wie die Migration in dieses Land eine freie Entscheidung ist.

Und problematisch wird es jetzt, wenn wir dieses Wort in einen ideologischen Kontext transferieren und es verwenden, um von einer erzwungenen Rückkehr, einer erzwungenen Rückführung, einer Ausweisung zu sprechen, die unter Ausübung von Gewalt und Zwang geschieht. Denn dafür haben wir eigentlich ganz andere, sehr viel klarere Begriffe, nämlich "Abschiebung" oder "Deportation", die diesen Gewalt- und Zwangaspekt nicht ausblenden.

Interessant ist demnach die Spannung von Bedeutung und Kontext. Man verbreitet einen Begriff, der technisch klingt, der aus einem wissenschaftlichen Kontext kommt, ein bisschen bürokratisch ist und der vor allem sachlich klingt – um damit was zu erreichen?

Das muss man sich fragen: Was wird bezweckt, wenn man die Dinge nicht beim klaren Namen nennt, sondern diese diffusere, etwas unaufgeregt anmutende Begrifflichkeit verwendet? Wie geschehen beim Geheimtreffen der AfD mit Rechtsextremisten in Potsdam. Da war "Remigration" wohl ein zentraler Begriff – um zu verschleiern natürlich. Um zu verharmlosen, was sich dahinter verbirgt: die gewalttätige, erzwungene Ausweisung, Vertreibung von Menschen, die nicht deutsch genug scheinen. Menschenverachtende, demokratiefeindliche Praktiken.

Teilnehmer einer Demonstration der rechtsextremistischen Bewegung Pegida
Rechtsextreme nutzen den Begriff "Remigration" schon lange, hier bei einer Demonstration von Pegida am 18. Dezember 2023 in Dresden. Bildrechte: picture alliance/dpa/Robert Michael

Diese Täuschungsabsicht geschieht natürlich, um sich weniger extremistisch zu geben, sich einen bürgerlichen Anstrich zu verleihen, harmloser zu wirken – und im Zweifel für größere Bevölkerungsgruppen auch wählbar zu sein.

Das heißt also, die AfD und andere Rechtsextreme versuchen, mit dem Begriff "Remigration" auch eine Bewertung durchzusetzen – was man in Ihrer Fachwelt "Framing" nennt – und die Öffentlichkeit an diese Bewertung zu gewöhnen, sodass Massendeportationen legitim sind?

Ja. Was zum Glück aber nicht ohne weiteres gelingt, muss man sagen. Es gibt diesen berühmten Satz von Victor Klemperer, der unter den Nationalsozialisten als Jude verfolgt und aus seiner Romanistik-Professur an der TU Dresden verjagt wurde. In seiner Studie zur Sprache des Dritten Reichs findet sich der Satz "Die Sprache lügt nicht." Es sind immer die Menschen, die lügen, indem sie die Sprache zu manipulativen Absichten einsetzen.

Und im Umkehrschluss bedeutet das, dass der kritische Blick auf die Sprache eben auch dabei helfen kann, diese Lüge zu entlarven. Und zu erkennen, wenn Menschen mit Täuschungsabsichten sprechen. Und auch zu erkennen, dass man diesen Menschen nicht trauen – und sie eben ganz sicher auch nicht wählen sollte.

Gibt es nicht auch das Risiko bei solchen Tarnworten, dass ihnen die pure Wiederholung schon nützt? Also auch die kritische Wiederholung! Feiern die rechten Ideologen jetzt das Unwort des Jahres?

Das glaube ich eher nicht. Wiederholung ist zwar ein ganz starkes und wirkungsvolles Mittel der Manipulation. Aber Aufmerksamkeit, die erlangt wird, ist ein notwendiges, aber kein hinreichendes Ziel zur Überzeugung. Und hier ist das Reframing, die kritische Einordnung doch so stark und eindeutig, dass es hoffentlich nicht länger möglich ist, diesen Begriff weiterhin unkritisch zu betrachten und zu gebrauchen.

Das Gespräch hat Carsten Tesch für MDR KULTUR geführt. Redaktionelle Bearbeitung: op

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. Januar 2024 | 16:10 Uhr

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