Fallzahlen steigen "Antisemitismus ist fest in unserer Gesellschaft verankert"

25. Februar 2024, 10:07 Uhr

Direkt nach dem mörderischen Angriff der Hamas in Israel gab es in Thüringen einen sprunghaften Anstieg judenfeindlicher Vorfälle. Die Folge: Jüdinnen und Juden sind hierzulande noch mehr auf der Hut, sich in der Öffentlichkeit als solche erkennen zu geben. Denn es ist kaum noch erkennbar, wer Freund und wer Feind ist.

Leo Schneiders* Vertrauen ist erschüttert. Das sind zum einen die gewaltigen Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus - nebst Davidsternen unter der Losung "Nie wieder ist jetzt" - zum anderen die verhältnismäßig überschaubaren Solidaritätsbekundungen für Israel nach dem Überfall der Hamas im Oktober letzten Jahres.

Schneider ist jüdischen Glaubens, Anfang 30, Mitarbeiter an einer Thüringer Hochschule, und wundert sich: Wo waren die ganzen Menschen, nachdem 1.200 Juden abgeschlachtet worden? "Das Schweigen vieler Menschen, die laut aufschreien, wenn der Antisemitismus aus der rechten Ecke kommt, war ohrenbetäubend. Es ist schwer zu begreifen, wie Menschen zwischen verwerflichen und weniger verwerflichen Antisemitismus unterscheiden können."

Kippa Träger
Eine Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen, ist für Leo Schneider derzeit unvorstellbar. Um sich zu schützen, versucht er als Jude nicht aufzufallen. (Symbolbild) Bildrechte: imago images/NurPhoto

Schneider engagiert sich selbst gegen Rechtsextremismus, war auch auf den Demos für Demokratie und Toleranz. Aber mit einer gewissen Verunsicherung. "Wo stehen diese Leute, mit denen man demonstriert, im Ernstfall, wenn der Antisemitismus aus einer anderen Ecke kommt? Von links oder aus migrantischen Milieus?

Nicht auffallen ist des beste Schutz

Das ist das Grundrauschen, vor dem sich Leo Schneiders Leben derzeit abspielt. Die größte Gefahr für sich und andere Jüdinnen und Juden gehe aber von rechts aus, glaubt er. "Über 30 Prozent der Leute in Thüringen vertreten Positionen, vor denen ich Angst habe. Und nicht nur ich, sondern auch andere Leute. Es sind ja nicht nur Jüdinnen und Juden, die davon bedroht sind." Um sich zu schützen, versucht er als Jude nicht aufzufallen. An seiner Bürotür in der Hochschule steht kein Name, Schneider verzichtet auf jüdische Symbole in der Öffentlichkeit. Verbalen oder körperlichen Attacken konnte er so bislang entgehen.

Das Phänomen kennt Susanne Zielinski von RIAS Thüringen, der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Nicht erst seit dem 7. Oktober herrschen große Verunsicherung und Ängste bei den Mitgliedern der für bundesdeutsche Verhältnisse kleinen jüdischen Community in Thüringen. Jüdinnen und Juden machen sich möglichst unsichtbar. Das stimmt bedenklich, sagt Zielinski.

Sprunghafter Anstieg antisemitischer Vorfälle seit Oktober

Allein 29 Vorfälle von israelbezogenen Antisemitismus wurden RIAS in der ersten Woche nach den terroristischen Angriffen der Hamas gemeldet. Im gesamten Vorjahr waren es nur drei Vorfälle, die sich in konkretem Zusammenhang mit Israel ereigneten. Auch wenn die Meldestelle noch dabei ist, die aktuellen Zahlen aller antisemitischen Vorfälle in Thüringen auszuwerten, bestätigt Zielinski ein weiterhin hohes Niveau insgesamt.

Dabei geht es zum Beispiel um Angriffe auf die Erinnerungskultur: Auf Stolpersteine wird das Wort "Täter" geschrieben oder es werden Gedenkstätten und -orte beschmiert. RIAS musste Vorfälle bei pro-palästinensischen und pro-israelischen Kundgebungen registrieren, in Seminaren und Vorlesungen Thüringer Hochschulen, aber auch privat geht es häufiger antisemitisch zur Sache: beim Feierabendbier oder in der Kneipe.

Antisemitismus ist überall

Interessanterweise sind bei den Vorfällen selten Betroffene involviert. Dieser "Antisemitismus ohne Jüdinnen und Juden überwiegt in Thüringen", sagt Susanne Zielinski. Eine spezifische Gruppe, von der Judenhass besonders ausgehe, kann sie nicht festmachen. "Antisemitismus ist leider fest in unserer Kultur verankert. Das ist ein ganz großes Problem. Es gibt ihn überall."

Antisemitismus ist nicht nur eine Bedrohung für Jüdinnen und Juden, sondern für die Demokratie insgesamt, findet Zielinski. "Um ihn zu überwinden, brauchen wir mehr Aufklärung und müssen ein Umfeld schaffen, in dem Menschen sich auch selbst kritisch hinterfragen können." Wenn einem Antisemitismus begegnet, müsse man Haltung zeigen und den Betroffenen helfen.

* Name geändert

MDR (ask)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | THÜRINGEN JOURNAL | 23. Februar 2024 | 19:00 Uhr

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