Chancengleichheit Initiative fördert Studium von "Arbeiterkindern"

14. Januar 2023, 15:23 Uhr

Die Herkunft entscheidet in Deutschland häufig über die Zukunft. Das trifft zumindest auf sogenannte Arbeiterkinder zu - also Kinder, deren Eltern keinen Uniabschluss haben. Nach Angaben des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft studieren nur 27 Prozent der Arbeiterkinder, wohingegen es bei Akademikerkindern 79 Prozent sind. Eine bundesweite Initiative, die das ändern will, heiß Arbeiterkind.de. In Thüringen ist sie in Weimar, Erfurt und Jena aktiv.

Als Thomas Prochazka angefangen hat zu studieren, hat er mit dem Leben an der Universität gefremdelt. Prochazka ist Arbeiterkind, das heißt, seine Eltern haben nicht studiert. So viel Theorie in kurzer Zeit zu lernen, sei ihm zum Beispiel schwer gefallen.

Auch die Partymentalität seiner Kommilitonen, lieber erstmal zu feiern statt zu büffeln, sei ihm neu gewesen. Bei ihm zu Hause habe eine andere Arbeitsmoral geherrscht: "Setz dich hin, lerne und arbeite etwas. Spaß kannst du haben, wenn du mit dem Lernen fertig bist."

Wir hören dir auf Augenhöhe zu, wir verstehen dich. Das hat für mich viel ausgemacht.

Thomas Prochazka

Prochazka hat einen steinigen Weg hinter sich. Nach dem Abitur 2003 hat er erst eine Ausbildung abgebrochen, dann ein Studium geschmissen und war vorübergehend auch arbeitslos. 2016 hat er seinen Abschluss in Elektrotechnik dann schließlich doch noch in Jena gemacht.

Während dieser Zeit erfährt er durch seinen Mitbewohner von der Initiative Arbeiterkind.de. Er geht auf ein Treffen der Ortsgruppe und fühlt sich dort auf Anhieb wohl: "Ich habe persönlich gemerkt: Ja, das bin ich. Ich passe dazu. Und dann kam bei dem Treffen noch dieses Willkommensgefühl dazu: Wir hören dir auf Augenhöhe zu, wir verstehen dich. Das hat für mich viel ausgemacht."

Fehlendes Wissen im Elternhaus als Nachteil im Studium

Die Initiative Arbeiterkind.de ist 2009 gegründet worden, um Menschen wie Prochazka zu unterstützen, die als Erste in ihrer Familie studieren wollen. Es geht dabei vor allem darum, Arbeiterkinder mit Informationen über das Studium zu versorgen - zum Beispiel, wie man ein Studium überhaupt finanziert.

Das Elternhaus gibt Arbeiterkindern solche Informationen nicht immer mit. Dadurch haben diese häufig Schwierigkeiten während des Studiums. So war es zumindest bei Aron Bernt, auch er ist Mitglied in der Ortsgruppe Jena: "Ich habe mich immer so ein bisschen im Nachteil gefühlt. Alle hatten immer einen akademischen Hintergrund und wussten von den Erfahrungen ihrer Eltern oder ihrer Freunde. Und ich bin halt irgendwie ins kalte Wasser geworfen worden und habe keine Hilfe gehabt."

Auch Bernt hat keinen geradlinigen Lebenslauf. Nach der Schule begann er eine Ausbildung zum Metallbauschlosser, war damit aber nicht zufrieden. Während er Vollzeit arbeitete, holte er sein Abitur an der Volkshochschule nach. Im Anschluss studierte er Politik und Wirtschaft, brach aber nach wenigen Semestern wieder ab. Durch eine Doku entdeckt er Arbeiterkind.de.

Mein Leitspruch ist: Einen guten Job kann man verlieren, eine gute Bildung behält man aber ein Leben lang.

Aron Bernt

Arbeiterkind.de in Thüringen bisher nur in Weimar, Erfurt und Jena

Arbeiterkind.de ist bundesweit in Ortsgruppen organisiert. Die Jenaer Gruppe von Prochazka und Bernt ist neben Weimar und Erfurt eine der drei Lokalinitiativen in Thüringen. Anna Chombe ist die hauptamtliche Ansprechpartnerin von Arbeiterkind.de in Thüringen.

Wenn es nach ihr geht, soll es aber nicht bei den Ortsgruppen bleiben: "Wir würden uns auch wünschen, an anderen Hochschulstandorten Gruppen zu initiieren. Wer also zum Beispiel an der Hochschule Schmalkalden oder Nordhausen studiert, darf sich sehr gerne angesprochen fühlen."

Das Ziel: Voneinander lernen

In den Gruppen organisieren Arbeiterkinder zum Beispiel Infoveranstaltungen an Schulen, um Jugendlichen Mut zu machen, an die Universität zu gehen. Die Arbeit ist dabei fast ausschließlich ehrenamtlich. Die Mitglieder der Ortsgruppen treffen sich aber auch zu Stammtischen, um Erfahrungen zu teilen und voneinander zu lernen.

Prochazka erklärt: "Der eine weiß zum Beispiel viel über Stipendien. Der zweite weiß etwas über Studienfinanzierung. Der dritte weiß, wie organisiere ich mich. Der vierte weiß, welche Tipps gibt es fürs Lernen und der fünfte kennt Studienzweifel und psychische Probleme."

Ein weiteres Angebot ist außerdem das sogenannte Mentoring, bei dem sich ein Gruppenmitglied speziell um eine Person kümmert und sie bei ihrem Weg unterstützt. In der Ortsgruppe Jena hilft Prochazka zum Beispiel gerade Aron Bernt bei der Studienwahl. Bernt will es nämlich in jedem Fall nochmal mit einem Studium probieren: "Mein Leitspruch ist: Einen guten Job kann man verlieren, eine gute Bildung behält man aber ein Leben lang."

MDR (nis)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit des Tages | 14. Januar 2023 | 18:00 Uhr

16 Kommentare

Atze1 am 15.01.2023

Ob Deutschland noch mehr Studierende braucht? Wir leben im Kapitalismus und Planung ist ihm fremd. Unglaublich, dass wir volle Gymnasien haben und ungenügend viele Lehrer, Ärzte usw. Deshalb ist es schon berechtigt, dass es den Ruf nach einer Steuerung z.B. auch für Berufe des Handwerks geben sollte. In meiner Klasse in den 60 er gingen 2 zur EOS. (Erweiterte Oberschule) Und das war so in jeder Klasse! Trotzdem hatten wir in der DDR genug Intelligenzler und keinen Mangel. Heute werden Produktivkräfte, ja auch Hochschulkader, verschlissen. Menschlich ist das nicht.Da braucht man sich nicht wundern, wenn so Mancher orientierungslos ist. Deshalb Arbeiterkinder weiter unterstützen. Prima.

Anita L. am 15.01.2023

Laut Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) schon. Die Studie wird (fast jährlich) durchgeführt und untersucht die Ursachen von Studienabbrüchen. Leider funktioniert die Seite bei mir gerade nicht, weshalb ich keine aktuelle Statistik abrufen kann, aber in der Studie von 2017 fand man heraus, dass lediglich 16 Prozent der Abbrecher aus Familien mit zwei Akademikereltern kommen (Spiegel online: Wer schmeißt hin und warum?, 01.06.2017). Noch schwieriger ist es für Studenten aus Migrationsfamilien, und noch einmal schwieriger, wenn sie da das erste Kind mit Studienambitionen sind. Aktuell werden die Abbruchquoten auch noch durch die Coronapandemie und ihre Auswirkungen beeinflusst.

Ralf G am 15.01.2023

Hallo Anita L, ich habe mich im ersten Halbsatz unglücklich ausgedrückt. Statt Studienabbrecher hätte da 'Studenten' stehen müssen. Ich glaube nicht, dass Studenten aus Nichtakademiker-Familien häufiger abbrechen.

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