Freiwillige Amputation Mit beiden Prothesen fest im Leben
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18. Juni 2023, 07:51 Uhr
"Lieber Bein ab, als arm dran!" Das ist das Lebensmotto von Michél Schulze. Infolge eines Schlaganfalls ließ sich der junge und lebenslustige Oettersdorfer beide Beine amputieren, obwohl ihm Ärzte davon abrieten. Heute lebt er in Schleiz im Saale-Orla-Kreis und meistert seinen Alltag auf zwei Hightech-Prothesen.
- Der Schlaganfall und 18 Operationen
- Freiwillige Amputation muss wiederholt werden
- Wunderwerk der Technik: Die Hightech-Beine
- Michél Schulze: Trotz allem eine Frohnatur
Fußball spielen - das war immer das Größte für Michél Schulze. Schon mit drei Jahren hat er angefangen, gegen den Ball zu treten. Bei seinem Heimatverein, dem LSV 49 Oettersdorf e.V., spielte er in der Abwehr und als Torwart, bis er für seine Koch-Ausbildung nach Österreich ging.
Ob Rasen oder Bolzplatz: Überall, wo ein Ball rollt, fühlt sich Michél wohl. Seit 2014 schwingt aber immer etwas Wehmut mit: "Das Einzige, was mir fehlt, ist das Fußball spielen."
Denn am 27. August 2014 wurde ihm das rechte Bein auf Höhe des Oberschenkels amputiert, am 31. August 2019 folgte das linke unterhalb des Knies. "Immer, wenn ich an einem Fußballplatz vorbeikomme, denke ich: Verdammt, hier werde ich nicht mehr spielen", sagt er. Wenn das die Ironie des Schicksals ist, einem Fußballer seine Beine zu nehmen, dann hat das Schicksal einen fragwürdigen Humor.
Am Kiosk
Am Dienstag nach Pfingsten geht es am Kiosk in Schleiz zu wie im Taubenschlag. Zeitungen kauft fast niemand, aber die Leute möchten wissen, ob ihre Lottoscheine was eingebracht haben. Manche wollen auch ein Paket aufgeben, Tabak kaufen oder über Fußball reden. Denn am Samstag waren ja doch wieder die Bayern Meister geworden. Also kommen viele vorbei, um mit Kioskverkäufer Michél Schulze darüber zu sprechen, wie sein BVB die sicher geglaubte Meisterschaft doch noch aus der Hand geben konnte.
"Na das war wohl nix am Samstag", flachst ein Bayern-Fan. "Halt's Maul", fährt ihn Michél an. Dann lachen beide. Mit vielen Kunden hat er ein fast freundschaftliches Verhältnis. Es wird gescherzt, geschwätzt und es werden Grüße an die Familie bestellt. In einer Kleinstadt wie Schleiz kennt man sich. Und den Michél mit den Roboterbeinen kennt ohnehin jeder. Ob in kurzen Hosen auf dem Weihnachtsmarkt oder ohne Beine im Schwimmbad, er ist ein "Hingucker", wie Michél selbst sagt.
Seit einem Jahr arbeitet er im Kiosk - nicht, weil er muss, sondern weil er will. Zuhause würde ihm die Decke auf den Kopf fallen und hier sei immer was los, sagt er. Der Bayern-Fan ist noch nicht fertig: "Einen Elfmeter darfst du in so einem Spiel nicht verschießen." Michél lacht und nimmt es gelassen: "Jetzt ist es vorbei. Jetzt genießen wir die Sonne und warten auf August, wenn's weitergeht." Mit Rückschlägen kann Michél Schulze umgehen, denn darin hatte er in seinem Leben schon viel Übung.
Der Schlaganfall und 18 Operationen
An einem Sonntagabend im Jahr 2013 fällt Michél auf dem Nachhauseweg einfach um. Mitten in Neustift, einem Tiroler Bergstädtchen, wo er damals als Koch arbeitet. Seine Beine sind taub und reagieren nicht mehr.
Vier Tage suchen die Ärzte im Innsbrucker Krankenhaus nach einer Ursache. Als sie ihm schließlich Nervenwasser aus dem Rückenmark entziehen, stellen Sie fest, dass seine Gefäße verengt sind. Diagnose: Schlaganfall im Rückenmark - begünstigt durch Arbeitsstress und den Diabetes, der bei ihm schon im Kindesalter festgestellt wurde.
Es folgen 18 operative Eingriffe, bei denen Gefäßchirurgen versuchen, seine Arterien freizulegen. Als es schließlich gelingt, ist die Freude groß. Endlich kann Michél seine Beine wieder fühlen - doch was er auch fühlt, ist Schmerz.
Freiwillige Amputation
Wochen und Monate vergehen. Michél ist als gesund aus dem Krankenhaus in Innsbruck entlassen worden. Er nimmt seine Arbeit als Koch wieder auf und spielt auch wieder Fußball. Aber von Zeit zu Zeit schmerzen ihm die Beine. Wenn er lange stehen muss, hat er plötzliche Krämpfe. Bei der Arbeit versucht er den Schmerz zu ignorieren. Er nimmt Tabletten, versucht es mit Massagen und Kühlung. Doch nichts hilft, stattdessen werden die Beine dick. Socken und Schuhe zu tragen, wird zur Qual. Und am Abend, wenn der Körper zur Ruhe kommt, brennen ihm die Beine wie Feuer.
Im Juli 2014 wird der Schmerz übermächtig. Michél weist sich selbst ins Freiburger Universitätsklinikum ein. Die Ärzte diagnostizieren eine Entzündung und verschreiben Antibiotika. Zwei Wochen vergehen und trotz verschiedener Therapiebemühungen verbessert sich seine Lage nicht. Nichts scheint zu helfen. Die Beine brennen und brennen. Wie groß die Schmerzen und die Verzweiflung darüber gewesen sein müssen, lässt sich nur erahnen - aber sie führen dazu, dass er darüber nachdenkt, wie ein Leben ohne Beine wäre.
Lieber Bein ab, als arm dran
Er recherchiert dazu im Internet. Tagelang klickt er sich durch Erfahrungsberichte, den medizinischen Forschungsstand und die Gesetzeslage. Dann zieht er einen Arzt ins Vertrauen. "Als Mediziner hat er mir abgeraten. Eine Amputation sei das letzte aller Mittel", erzählt Michél. "Doch dann hat er mit mir privat gesprochen und seine persönliche Sicht geschildert. Er sagte: 'An deiner Stelle, würde ich genauso reagieren'." Michél entscheidet sich: lieber Bein ab, als arm dran! Bis heute ist das sein Lebensmotto.
Die Geschichten seiner Amputationen (zu hören hier im Audio-Interview) sind so emotional und aufwühlend, dass sie Stoff für eigene Artikel wären. Nur so viel: 2014 verblutet Michél Schulze in Freiburg fast im OP-Saal aufgrund eines medizinischen Fehlers. 2019 - als die Schmerzen im linken Fuß schlimmer werden - sind es Thüringer Ärzte, die eine Amputation nahelegen. Doch bei der Operation am Fuß pfuscht ein Chirurg (der inzwischen seine Approbation verloren hat) so schwer, dass ein weiteres Mal amputiert werden muss - etwas weiter oben, am Unterschenkel. Am BG Klinikum Bergmannstrost in Halle wird der Fehler schließlich korrigiert.
Wunderwerk der Technik: Die Hightech-Beine
Mit jeder Amputation musste Michél das Laufen neu lernen. Hilfe bekam er dabei vom Sanitätshaus Rosenau in Triptis. Als er 2015 mit nur noch einem Bein nach Schleiz zurückzieht, stellt ein alter Freund aus dem Fußballverein den Kontakt her. Das Team habe großen Spaß an dieser Herausforderung gehabt, erinnert sich Tobias Hähnel, der Geschäftsführer des Sanitätshauses. "Heute kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Michél prothetisch Highend versorgt ist", sagt Hähnel stolz.
Tatsächlich sind Michéls Carbon-Prothesen Wunderwerke der Technik. So orientiere sich sein rechtes Kniegelenk "wie ein Hubschrauber" mittels eines Gyroskops im Raum, erklärt Hähnel. Außerdem erkenne ein Computerchip "Belastungsphasen in Echtzeit" und reagiere damit auf Bewegungen von Michél oder äußere Einflüsse. Michél spricht deshalb auch gern von Roboter- oder Elektrobeinen und führt sie interessierten Menschen auch mal vor. Dann klappt er beispielsweise das Knie hoch und nimmt kurzerhand die Batterie aus seinem Bein oder zeigt auf seinem Handy die App, mit der er seine Beine feinjustieren kann.
Bezahlt werden die Hightech-Beine von der Krankenkasse: "Bei der Prothetik reden wir immer von dem bestmöglichen Behinderungsausgleich, der allerdings auch wirtschaftlich sein muss", führt Hähnel aus. "Wenn so eine Prothese mehrere Zehntausend Euro kostet, der Mensch damit aber seinen Alltag allein organisiert, sich gesund erhält und sogar wieder in die Krankenkasse einzahlen kann, dann gibt es wenig Diskussionsbedarf."
Anders ist das bei Freizeitprothesen. Hier übernimmt die Krankenkasse seit der Entscheidung des Bundessozialgerichts 2009 eine wasserfeste Zweitprothese. Wer aber zum Beispiel einen Marathon mit Sportprothesen laufen will, muss diese in der Regel selbst finanzieren oder auf eine Förderung hoffen - es gibt aber auch Ausnahmen.
Frohnatur
Bei seiner Arbeit im Kiosk fallen seine Prothesen schon fast niemanden mehr auf. Michél läuft umher, sortiert die Regale, kümmert sich um Lieferungen und steht am Verkaufstresen. Nur manchmal setzt er sich auf einen Barhocker, um seine Elektrobeine etwas zu entlasten. "Probleme gibt's da eigentlich keine", sagt Michél. "Es gibt sogar Tage, da merke ich gar nicht, dass ich Prothesen dran habe, weil es einfach perfekt passt."
An diesem Dienstag kommt auch Kathrin Schulze-Rennert vorbei, Michéls Mutter. Sie herzt ihren Sohn und fragt nach dem Wochenende. Wie es im Stadion gewesen sei, ob er sehr enttäuscht wäre? "Nein, schon vergessen", gibt Schulze lachend zurück, der jedes Jahr - trotz der weiten Entfernung - ein Dutzend Spiele von Borussia Dortmund live im Stadion verfolgt. Dort steht er dann auf der Südtribüne zwischen 25.000 Menschen, die ähnlich fußballverrückt sind wie er.
"Das ist unser Michél", sagt Mutter Kathrin. "Bevor er sich daheim verkrümelt, ist er unterwegs." So sei er schon immer gewesen, meint sie. Auch im neuen Job mache er sich gut. "Da ist er unter Menschen, das macht ihm Spaß. Das kann er: Auf Leute zugehen." Diese Frohnatur und Offenheit habe er schon immer gehabt.
"Lebensfroh" und "immer ein Lächeln im Gesicht" - so beschreibt ihn auch Tobias Hähnel vom Sanitätshaus Rosenau. Michél sei aufgrund seines offenen Umgangs ein Mutmacher für andere Menschen mit Prothesen. Hähnel kennt auch andere Geschichten; wenn Menschen nach einer Amputation in ein mentales Loch fallen, frustrieren oder verbittern.
Mit beiden Prothesen fest im Leben
Doch aufzugeben war für Michél nie eine Option. Im Gegenteil: Er steht mit beiden Prothesen fest im Leben und bestreitet seinen Alltag mit einem bemerkenswerten Optimismus und Frohsinn. Dabei scheut er auch keine Herausforderungen. "Ob ich den Rennsteig wandern könnte? Ja, warum nicht? Gut, über einen Baum oder großen Stein zu steigen, wäre schon schwierig. Aber ich würde es mir zutrauen."
Mit dieser Einstellung hat er auch dem humorlosen Schicksal schon so manches Schnippchen geschlagen. Vor Kurzem war er nämlich doch wieder auf dem Fußballplatz. Zusammen mit seiner zehnjährigen Nichte hat er ein paar Bälle hin und her gekickt. "Rennen ist schwierig, aber ein paar Pässe spielen, das geht schon noch", sagt Michél und lacht.
MDR (ask)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Der Nachmittag | 18. Juni 2023 | 15:43 Uhr
Lisl am 18.06.2023
"Hut ab! Ein starker Charakter, ein toller Typ! Da können sich sicherlich viele Menschen ein Beispiel nehmen, auch daran, etwas leisten, etwas beitragen zu wollen!
Tamico161 am 19.06.2023
Und die Krankenkasse das alles. bezahlt!?