Barockgebäube mit gelblich gestrichener Fassade, Totale mit einem Reiterdenkmal im Vordergrund
Vor 100 Jahren tagte der Thüringer Landtag in der heutigen Musikhochschule Franz Liszt. Bildrechte: imago/Karina Hessland

Weimarer Republik Vor 100 Jahren: Die "Schicksalswahl" in Thüringen 1924

10. Februar 2024, 09:39 Uhr

Vor 100 Jahren, im Februar 1924, gab es eine sogenannte Schicksalswahl in Thüringen. Erstmals wurden Rechtsextreme zu Mehrheitsbeschaffern. Was daraus zu lernen wäre? Zwei Thüringer Historiker analysieren.

Fast 90 Prozent Wahlbeteiligung und ein Sieger, der knapp die absolute Mehrheit verfehlt. Das ist das Ergebnis der Landtagswahl im Freistaat Thüringen im Februar 1924. Mit 48% holt der Thüringer Ordnungsbund die meisten Stimmen, gefolgt von SPD (23 %) und KPD (18%). Als bürgerlich-konservatives Bündnis vereint der Thüringer Ordnungsbund Bauern (Thüringer Landbund), Deutsch-Nationale (DNVP), und sowie National- und Linksliberale (DVP und DDP). Als "Schicksalswahl" aber wird dieser Urnengang bezeichnet, weil die Vereinigte Völkische Liste (VVL) mit neun Prozent der Stimmanteile zum Zünglein an der Waage wird.

Der berühmt-berüchtigte Hitler-Putsch war gerade mal ein Vierteljahr her. Hitler sitzt in Haft, die Partei ist verboten und aber die übliche Taktik damals war sich unter anderem Namen oder in anderen Bewegungen zu verstecken. Und hinter diesen sieben Abgeordneten des völkisch sozialen Blocks verbargen sich drei NSDAP-Mitglieder und vier Völkische.

Dr. Steffen Raßloff Thüringer Regionalhistoriker

Diese rechtsradikalen Kandidaten nehmen massiv Einfluss auf die Regierungsbildung. Erstmals in einem deutschen Landtag und in der Weimarer Republik wird eine Minderheitenregierung gebildet, die von der Duldung der völkisch-nationalen Fraktion abhängig ist.

Pöbeln, Schwurbeln, Auftrumpfen

Deren Vorsitzender ist der Schriftsteller Artur Dinter. Sein Bestseller-Buch "Die Sünde wider das Blut" behauptet, ein einziger Geschlechtsverkehr einer nicht-jüdischen Frau mit einem Juden würde ihre Erbgesundheit nachhaltig schädigen. Im Landtag macht Dinter die Zustimmung seiner Fraktion davon abhängig, dass "die Regierung nur aus deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern besteht".

Der liberale Eduard Rosenthal (DDP), Jura-Professor in Jena und Vater der Thüringer Verfassung, wurde so geschasst, ebenso der von der SPD ins Amt gehobene Landesbankpräsident Walter Loeb - beide nach antisemitischen Anfeindungen.

Schnittmengen mit den Konservativen

Raßloff erklärt, dass antisemitische Gedanken bereits in den frühen 1920er-Jahren weit verbreitet waren, auch in bürgerlichen Kreisen. "Insofern gab es da natürlich schon ideologische Schnittmengen, die auch geholfen haben, diese Tolerierung auf dem Weg zu bringen."

Für den Historiker Jens-Christian Wagner ist das der Zivilisationsbruch, der den Nazis den Aufstieg ebnen sollte:

Im Grunde heißt es, dass rassistisches, das völkisches, antisemitisches Gedankengut in die politische Kultur des damaligen Landes Thüringen 1924 eingezogen ist und sich festgesetzt hat.

Jens Christian Wagner Historiker mit Spezialgebiet NS-Diktatur

Jens-Christian Wagner
Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Bildrechte: IMAGO / Jacob Schröter

Die sieben Parlamentarier von Rechtsaußen erwirkten, dass sehr bald das Verbot der NSDAP aufgehoben wurde - auch das mit gravierenden Folgen. Denn die Nationalsozialisten konnten Thüringen fortan als "Schutz- und Trutz-Gau" nutzen, also als eine Region in Deutschland, in der sie Rückzugsräume hatten und schnell besonders stark wurden.

Der erste reichsweite Parteitag der NSDAP 1926 wurde in Weimar veranstaltet, wo Hitler sehr oft zu Besuch war. Thüringen war tatsächlich, so muss man das formulieren, das Sprungbrett für die Nazis. Und hier wurde de facto in den 20er-Jahren bereits vorbereitet, was dann 1933 reichsweit umgesetzt wurde.

Jens-Christian Wagner, Historiker mit Spezialgebiet NS-Diktatur

Ab 1930 ist mit Wilhelm Frick der erste NS-Funktionär ein Minister in Koalition mit den Konservativen, ein Doppelminister mit dem Bildungs- und dem Innenressort. Es nazifiziert die Schulpolitik und die Kultur, setzt Parteigenossen als hohe Polizeibeamte ein, macht sich beliebt bei Hitler, der ihn später zum Innenminister des Reiches ernennen wird.

Reichsminister des Inneren Wilhelm Frick und Joseph Goebbels
Reichsminister des Inneren Wilhelm Frick (2.v.r.) und Joseph Goebbels. Bildrechte: imago/Arkivi

Vor diesem Hintergrund weist Steffen Raßloff auf die reichsweite Situation Mitte der 1920er-Jahre hin. In den anderen deutschen Landen und in der Republik sei es immer wieder gelungen, dass Sozialdemokraten, Liberale und Konservative Koalitionen schmiedeten und Kompromisse eingingen. So wurde Extremismus verhindert. Raßloff verweist zum Beispiel auf Preußen, wo in den "goldenen Zwanzigern" die katholische Zentrumspartei (eine Vorgängerin der CDU) in wechselnden Koalitionen mit Liberalen und Sozialdemokraten regierte.

"Was den Aufstieg des Nationalsozialismus in Thüringen damals so massiv beschleunigt hat, war einfach diese extreme Polarisierung in rechtes Bürgerlager und linkes Arbeiterlager. Und man war nicht mehr bereit, miteinander zu koalieren. Also waren salopp gesagt, die Bürgerlichen auf die Nazis angewiesen. Und das würde ich mir wünschen, dass so was dann auch hier in Thüringen nicht wieder eintritt."

Steffen Raßloff Historiker

Der Historiker Dr. Steffen Raßloff
Dr. Steffen Raßloff Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Was wäre aus der Thüringer Schicksalswahl 1924 zu lernen? Für den Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora steht fest:

"Wenn eine Partei erwiesenermaßen antidemokratische Ziele vertritt, wenn eine Partei erwiesenermaßen daran arbeitet, die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland umzustürzen, dann muss eine Demokratie wehrhaft sein und eine solche Partei verbieten. Insofern spricht aus meiner Perspektive mit Blick auf die AfD sehr viel dafür, tatsächlich diese Partei zu verbieten, weil sie, wenn man sich die Schriften und Äußerungen zum Beispiel von Björn Höcke hier in Thüringen ansieht, ganz eindeutig nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht."

Jens-Christian Wagner Historiker

Wir haben nun einmal, sagt Jens-Christian Wagner, die historische Erfahrung gemacht, was für ein Horror entsteht, wenn völkisch-nationalen Gedanken sich mit der Macht verknüpfen.

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MDR (cfr)

327 Kommentare

Tschingis1 vor 13 Wochen

@martin
Auch wenn es die Freistaaten Bayern, Sachsen und Thüringen sowie die Freien und Hansestädte gibt, so sind diese im förderalen Verbund fest im GG verankert und können diese auch nicht verlassen. Artikel 20 GG.

hinter-dem-Regenbogen vor 13 Wochen

@Wessi

Das "Ihre" bitte in der Mehrzahl betrachten .
Wenn die Einen von "Unserer Demokratie" reden , dann bleibt den Anderen nur übrig, von Ihrer Demokratie zu reden.

PS:
Über die Stärke einer Demokratie kann man nicht verhandeln. Demokratie erfüllt den Zweck einer Zustandsbeschreibung. Ist dieser Zustand erreicht , dann ist die Demokratie da . Große oder Kleine Demokratie gibt es nicht , genauso wie starke oder schwache Demokratie .
Es ist die Stärke der Menschen, die sich der Demokratie verschrieben haben, die letzendlich über den Status entscheidet.

und diese Stärke wiederum, zeichnet sich durch einen demokratischen Wahlvorgang aus. Da spielt die Frage nach "Rechts" oder nach "Links" , noch "Oben" oder nach "Unten", überhaupt keine Rolle.
Es gibt quasi keine nach "Rechts" oder nach "Links" ausgerichtete Demokratie.


Beispiel:
Wenn die Farbe "Rot" ist , dann ist sie rot . Sollte sie Lila oder Rosa sein, egal aus welchen Gründen, dann ist es auch kein "Rot" mehr.

hinter-dem-Regenbogen vor 13 Wochen

Ein Rat oder eine vielzahl von Räten, werden nicht von den Regierenden gewählt.

Hinter jedem Rat verbirgt sich ein Interesse. Der so gegründete und von den Interessenteilnehmern bestätigte Rat, bildet praktischen eine eigene, wenn auch kleine Regierung - die wiederum ihr Interesse dann an den demokratisch gewählten Staatlichen Institutionen zur Behandlung deliegiert.

Letztendlich kann man einen Rat auch als Versammlung, Kammer oder einen Verein bezeichnen - nur eben, der "Rat" hört sich besser, vor allem offizieller und fast schon Staatstragend an. Ein Rätebeschluß bedarf zu seiner "Ratifikation", immer einer staatlichen Legetimierung . . . . und da scheiden sich die Geister im Juni 1919 , in der provisorischen Nationalversammlung.
Der plötzliche Regierungsaustausch am 20 Juni 1919 hing unmittelbar mit dem vorbestimmten Abstimmverhalten der Nationalversammlung zum "Versailler Papier" zusammen.

Aus heutiger Sicht, so kann man sagen, war all das eine einzige Inszenierung.

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