Ein Zug beladen mit Panzern und anderem Kriegsgerät passiert eine Bahnschranke in Sewerodonezk.
Die Kontaktlinie, an der die ukrainische Armee gegen die von Russland unterstützten Separatisten kämpft, liegt rund 100 Kilometer von Sewerodonezk entfernt. Bildrechte: MDR/Elisabeth Lehmann

Musikprojekt in der Ostukraine Wie aus Nachbarn plötzlich Feinde wurden

18. August 2019, 05:00 Uhr

Zwischen den Bewohnern der selbsternannten Volksrepublik Luhansk und den angrenzenden ukrainischen Gebieten herrscht eine tiefe Spaltung. Ein deutsches Musikprojekt versucht, die Gräben zu überwinden.

Sergej Dorofeev klettert auf einen Stuhl, kramt in der obersten Reihe seiner Schrankwand und zieht einen Stapel Fotos hervor. "So sah das Theater aus, als wir es übernommen haben." Dorofeev legt die großformatigen Bilder auf seinen Schreibtisch und blättert sie durch. "In dem Zustand war die Bühne, da tropfte es rein. Von dem Stuck konnten wir aber ein bisschen retten." Hinter dem Schreibtisch steht eine mannshohe unkrainische Flagge.

'Wir', das sind er und sein kleines Team aus Schauspielern und Theatermitarbeitern des "Luhansker regionalen akademischen ukrainischen Musik- und Dramatheaters". Der Name ist irreführend, denn das Theater steht nicht in Luhansk, sondern in Sewerodonezk, einer kleinen Industriestadt, etwa 100 Kilometer von Luhansk entfernt. Doch seit die Separatisten die Stadt Luhansk übernommen und dort eine Volksrepublik ausgerufen haben, kann das Theater nicht mehr arbeiten, ist ins Exil gegangen.

Theaterdirektor Sergej Dorofeev unterhält sich mit Projektorganisator Peter Schwarz und einer Mitarbeiterin.
Theaterdirektor Sergej Dorofeev (li.) und Peter Schwarz setzen schon das dritte Projekt in Sewerodonezk gemeinsam um. Bildrechte: Elisabeth Lehmann

"Unser Land bleibt die Ukraine"

Dorofeev kommt auch aus Luhansk, war dort an der Philharmonie beschäftigt, hat 2014 die Gefechte in der Stadt miterlebt und irgendwann beschlossen: "Ich kann hier nicht bleiben. Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit gegangen bin, habe ich mich gefühlt wie ein Verbrecher." Dorofeev gestikuliert viel, sucht nach den richtigen Worten, um das zu beschreiben, was so schwer greifbar ist. "Ich meine, ich habe niemanden umgebracht. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass das nicht richtig ist, die Besetzung der Stadt, die Ausrufung einer Volksrepublik." Er macht eine kleine Pause, seine eisblauen Augen starren ins Leere. "Meine Kollegen haben immer von 'unserer Republik' gesprochen. Was ist denn bitteschön 'unsere Republik', habe ich sie dann gefragt. Unser Land ist und bleibt die Ukraine!" Doch das haben nicht alle so gesehen, viele seiner Kollegen hätten sich mit den neuen Machthabern arrangiert, hätten akzeptiert, dass nun eben russische Autoren aufgeführt werden, auf Russisch gespielt und gesungen wird in der Philharmonie. Also ist Dorofeev gegangen.

Musikprojekt soll Gräben zwischen den Menschen schließen

Er schaut auf die Uhr: "Oh, das Konzert beginnt!" Dorofeev schließt die Tür seines Büros hinter sich, an dem ein unauffälliges Schild mit der Aufschrift "Direktor" hängt. Er läuft ins Foyer des kleinen Theaters und begrüßt die ersten Gäste. Unter ihnen ist Peter Schwarz. Das Konzert, das heute hier stattfindet, war seine Idee. Er hat ein Orchester zusammengestellt – bestehend aus Belarussen, Armeniern, Georgiern, Russen und Ukrainern aus allen Teilen des Landes. Sie alle haben sich erst in Sewerodonezk kennengelernt, haben zwei Wochen lang geprobt und sollen heute Abend das erste Mal vor Publikum Mozart, Monteverdi und Berezowksi spielen.

Das Orchester macht ein Gruppenfoto.
Peter Schwarz (vorne im grauen T-Shirt) hat Musiker aus Armenien, Georgien, Belarus, Deutschland, Russland und der ganzen Ukraine zusammengebracht. Bildrechte: Elisabeth Lehmann

Peter Schwarz ist eigentlich Jurist mit einem Hang zu klassischer Musik. Er hat lange in Russland gelebt, kannte die russische Perspektive auf den Krieg. Vor fünf Jahren, kurz nachdem die Separatisten sich aus Sewerodonezk zurückgezogen hatten, war er zufällig in der Stadt, wollte auch die ukrainische Seite verstehen. Damals war er aus der Westukraine gekommen, hatte die Gruselgeschichten gehört, die sich die Menschen dort über die Ostukraine erzählten. "Irgendwann hatte ich die Idee, dass sich all diese Menschen, die so viele Vorurteile übereinander hatten, einfach mal treffen müssten, etwas Schönes zusammen machen müssten und dann sehen würden, dass alles nicht so schlimm ist." Er suchte Partner vor Ort. 2015 sei "dieser Deutsche" in sein Büro gekommen, erinnert sich Sergej Dorofeev, und habe ihm seine Idee vorgestellt. "Ich habe einfach mal ja gesagt und gedacht, den sehe ich sowieso nie wieder." Dorofeev legt Schwarz die Hand auf die Schulter, beide lachen herzlich, denn die Premiere heute Abend ist nun schon das dritte Projekt, das sie zusammen realisieren.

Eine Mutter mit Kinderwagen sitzt auf einer Bank in Sewerodonezk. Der Platz um sie herum ist verfallen.
Einst hatte Sewerodonezk rund 110.000 Einwohner. Seit dem Krieg sind 58.000 Binnenflüchtlinge in der Stadt registriert. Seitdem habe die Armut in der Stadt zugenommen, sagen die Einheimischen. Bildrechte: Elisabeth Lehmann

58.000 Binnenflüchtlinge sind in Sewerodonezk registriert

Langsam füllt sich der Saal. Viele der Zuschauer kennt Dorofeev persönlich. Sewerodonezk ist klein, meist sind es dieselben Besucher, die ins Theater kommen. Die Stadt wurde in den 1930er Jahren gebaut, für die Arbeiter der örtlichen Düngemittelfabrik "Asot". Sewerodonezk ist praktisch angelegt. Ein Zentralmarkt, ein Park im Zentrum, ein Kulturpalast der Chemiearbeiter. Das Werk hielt die Stadt am Leben, bis der Krieg ausbrach. Heute funktioniert es nur noch rudimentär. Etwa 110.000 Menschen lebten vor dem Krieg in Sewerodonezk. Als die Kämpfe ausbrachen, sind viele weggegangen, nach Kiew oder Russland. Dafür kamen rund 58.000 Binnenvertriebene aus Luhansk.

Oleksandra Litwinienko steht vor einer Karte der besetzten Gebiete Luhansk und Donezk.
Oleksandra Litwinienko und ihre acht Mitarbeiter kümmern sich vor allem um die Zivilbevölkerung entlang der Kontaktlinie, aber auch um Binnenvertriebene. Bildrechte: Elisabeth Lehmann

Für viele war Sewerodonezk nur eine Zwischenstation, doch die, die geblieben sind, sind auf die Hilfe des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR angewiesen, das seit dem Ausbruch des Krieges ein eigenes Büro am Stadtrand hat. Anfangs habe es Spannungen gegeben zwischen den zeitweise Vertriebenen und der örtlichen Bevölkerung, erzählt Leiterin Oleksandra Litwinienko: "Als die Umsiedler kamen, sind die Preise gestiegen, vor allem für Wohnungen und Lebensmittel, plötzlich gab es nicht genug Kindergartenplätze. Auch mit den Schulen war es vorher einfacher."

Viele in Luhansk haben sich mit den neuen Machthabern arrangiert

Eine Situation, der sich Olga Borisowa nie aussetzen wollte. Die 43-Jährige sitzt am Ende des Theatersaals in einer kleinen Kabine über den Köpfen der Zuschauer. Sie hat eine Partitur vor sich, wird den Technikern gleich Anweisungen geben, nach welcher Note sie das Licht dimmen sollen, damit das Orchester optimal ausgeleuchtet ist. Borisowa kommt auch aus Luhansk, ist aber nur zu Besuch in Sewerodonezk, extra für das Projekt angereist. "Ich habe allen von Anfang an gesagt, dass ich aus Luhansk komme. Dann konnte sich jeder entscheiden, ob er mit mir arbeiten will oder nicht." Menschen wie sie, die sich mit den neuen Machthabern arrangiert haben, sind nicht gern gesehen im ukrainisch kontrollierten Gebiet, gelten als Verräter. Auch zu Hause – sie arbeitet in der Luhansker Verwaltung – hat sie lieber nicht erzählt, dass sie nach Sewerodonezk fährt, dort in einem Projekt mit Ukrainern und Exil-Luhanskern zusammenarbeitet.

"Ich habe am Anfang des Krieges ein halbes Jahr lang geputzt in Odessa. Und irgendwann hatte ich keine Lust mehr. Ich habe zu Hause angerufen, ob es Wasser und Strom gibt. Tja, und jetzt habe ich eben russische Rubel in der Tasche und schaue russisches Fernsehen", erzählt Borisowa mit ein bisschen Trotz in der Stimme. Aber immerhin könne sie sich selbst versorgen und lebe in ihrer eigenen Wohnung.

Sie gibt den Technikern ein Zeichen. Das Licht geht aus. Das Konzert beginnt. Sergej Dorofeev hat sich einen Platz am Rand gesucht. Er schaut sich um. Der Saal ist voll. Zwei Stunden lauschen die Zuschauer der Musik, zwei Stunden, in denen es keine Rolle zu spielen scheint, woher jeder einzelne hier kommt.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL HÖRFUNK | 17. August 2019 | 07:40 Uhr

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