Interview Putins Militäraufmarsch: Drohkulisse mit mehreren Adressaten

16. April 2021, 14:31 Uhr

Seit Wochen konzentriert Russland enorme Militäreinheiten an der Grenze zur Ukraine und auf der annektierten Krim. Die Situation beunruhigt nicht nur die Ukrainer. Doch auf eine Militärintervention deutet nichts hin, meint Poitikwissenschaftler und Russland-Experte Manfred Sapper. Putin führe vielmehr ein regelrechtes Spektakel auf, das die Ukraine einschüchtern und Putins angeschlagene Macht im Inland festigen soll. Und: Er schaffe sich eine Verhandlungsmasse für einen Deal mit den USA, der die umstrittene Ölpipeline Nord Stream 2 betreffen könnte.

Panzer bei einer Militärübung
Nach ukrainischen Schätzungen sollen sich je 40.000 russische Soldaten auf der Krim und an der ukrainischen Ostgrenze befinden. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Heute im Osten: Was will Russland mit seinem Militäraufmarsch erreichen?

Dr. Manfred Sapper: Russland baut geradezu theatralisch eine Drohkulisse auf. Damit ist klar: Es geht nicht um einen massiven Blitzkrieg, sondern um eine Botschaft an verschiedene Adressaten. Der erste ist die Ukraine, die Putin einschüchtern will. Der zweite, viel wichtigere Adressat sind die USA unter dem neuen Präsidenten Joe Biden. Putin prüft, wie stark Bidens Unterstützung für die Ukraine tatsächlich ist. Außerdem will er von den USA auf Augenhöhe behandelt werden, und das ist ein Mittel dazu. Schließlich verfolgt Putin innenpolitische Interessen: Er möchte vom Fall Nawalny ablenken, Elite und Militär einigen und die Bevölkerung durch ein Freund-Feind-Szenario hinter sich bringen.

Warum greift Putin aber zu einer derart massiven Kriegsdrohung?

Die Militarisierung der Außenpolitik resultiert daraus, dass die anderen Ressourcen der Putinschen Macht erschöpft sind: seine Dynamik, sein Charisma. Steigende Ölpreise sind Geschichte. Die Wirtschaft stagniert seit Jahren. Um die Macht zu sichern, setzt das Putin-System im Inneren zunehmend auf Repression und in der Außenpolitik auf imperiales Gehabe und Säbelrasseln.

Porträt Manfred Sapper
Bildrechte: Manfred Sapper/MDR

Zur Person: Dr. Manfred Sapper studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie in Frankfurt/Main, Siena und Moskau. Er wurde mit einer Arbeit über die Auswirkungen des Afghanistankrieges auf die Sowjetgesellschaft promoviert. Seit 2002 ist er Chefredakteur der Zeitschrift "Osteuropa".

Wie werden die USA auf Russlands Muskelspiele reagieren?

Die USA haben kein Interesse daran, dass der Konflikt in der Ostukraine eskaliert. Aber anders als Trump wird Biden zeigen, dass es den USA nicht egal ist, was in der Ukraine passiert. Alleine Bidens Ankündigung, zwei Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu verlegen, hat Moskau beeindruckt. Ein solch klares Signal der Abschreckung kam unerwartet.

Wie geht es nun weiter?

Die russländischen Truppen werden einige Wochen bleiben. Ich gehe nicht davon aus, dass es einen massiven Bodenkrieg geben wird. Dem widerspricht der langsame, inszenierte und demonstrative Aufmarsch. Putin hat sich durch diese militärische Drohgebärde Verhandlungsmasse geschaffen. Es könnte in einem Dialog mit den USA auf einen Deal hinauslaufen: Wir sehen von einem großen Krieg gegen die Ukraine ab und ihr hört auf, unsere Nord-Stream-Pipeline mit Sanktionsdrohungen zu belegen.

Ist es denkbar, dass die Nato der Ukraine hilft?

Die Nato ist wichtig, aber in diesem Konflikt relativ zahnlos. Es wird keine direkte militärische Unterstützung der Ukraine durch die Nato geben. Militärische Beistandspflicht gibt es nach Artikel fünf der Atlantik-Charta nur für Mitglieder der Nato. Die Ukraine ist kein Mitglied. Sie kann allenfalls mit der Lieferung von Rüstung durch einzelne Nato-Staaten rechnen. Die Türkei hat Drohnen an die Ukraine verkauft, die USA panzerbrechende Waffen und Abschuss-Systeme.

Wie kann die EU auf Putins Konfrontationskurs reagieren?

Moskau muss wissen, dass eine militärische Eskalation Russland sehr teuer zu stehen käme. Der Westen hat nichtmilitärische Möglichkeiten, um Gegendruck aufzubauen. Wenn Putin die Lage eskalieren sollte, sollten die EU und die westlichen Staaten Härte zeigen. Russland könnte aus dem internationalen Zahlungsverkehr, dem Swift-Abkommen, ausgeschlossen werden. Dann sollte kein Gas durch Nord Stream 2 fließen. Und die EU-Staaten sollten den Kauf von Öl und Kohle aus Russland drastisch reduzieren. All das würde dem Putin-Regime, das primär vom Rohstoffexport lebt, erheblich wehtun! Ich plädiere für ein klares und entschiedenes Auftreten gegen den Aggressor, der vor sieben Jahren die Krim annektiert hat und den Krieg in der Ostukraine am Köcheln hält.

Was steht geopolitisch langfristig auf dem Spiel?

Eine demokratische Ukraine ist ein Stachel im Fleisch der autoritären Regime im postsowjetischen Raum. Auf dem Spiel steht die unabhängige Nations- und Staatsbildung der Ukraine. Diese vollzieht sich allen Rückschlägen und Niederungen zum Trotz langsam aber sicher. Es gibt eine mündige Zivilgesellschaft und freie Wahlen. Herrschende können abgewählt werden! Das ist für die Putins, Lukaschenkas, Alijews der reine Horror. Deshalb tut das Putin-System alles, um den Aufbau einer modernen Ukraine zu verhindern. Die Annexion der Krim, den Krieg in der Ostukraine auf niedriger Flamme am Köcheln zu halten und das momentane Säbelrasseln an der Grenze sind Mittel zu diesem Zweck.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 17. April 2021 | 07:15 Uhr

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