Weltkriegsgedenken Der Zweite Weltkrieg begann in Wieluń

01. September 2019, 05:00 Uhr

Das erste Opfer der deutschen Bomben im Zweiten Weltkrieg war die polnische Stadt Wieluń, die noch vor der Westerplatte von der Luftwaffe beschossen wurde. Mit Frank-Walter Steinmeier reist 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges erstmals ein deutscher Bundespräsident nach Wieluń.

Jan Tyszler steht vor Gartenzaun. 1 min
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Jan Tyzler aus dem polnischen Wieluń erinnert sich noch heute an den Ausbruch des 2. Weltkrieges in seiner Heimatstadt.

Mo 02.09.2019 16:44Uhr 00:39 min

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Jedes Jahr am 1. September ist Jan Tyszler dabei, wenn im polnischen Wieluń in der Morgendämmerung die Alarmsirenen heulen und sich die Einwohner der Stadt zum Gedenken an den Kriegsausbruch versammeln. Der 86-Jährige hat dieselben Sirenen auch schon vor 80 Jahren gehört.

"Ich sollte am Montag zum ersten Mal zur Schule gehen. Ich hatte sogar so einen Schulrucksack aus Pappe, den ich schon ein paar Mal ausprobiert habe, um zu wissen, wie es ist, Schüler zu sein. Doch es wurde nichts aus der Schule, weil die Jungs von der Luftwaffe schneller waren. Sie haben sich am Freitag, dem 1. September um 4:35 Uhr, eine Übung über der lebenden, schlafenden Stadt organisiert", erzählt Tyszler. 

Eine altes Foto von einem Mann und einer Frau
Jan Tyszler mit seiner Schwester Maria im Jahr 1938. Bildrechte: MDR/Monika Sieradzka

Das erste deutsche Kriegsverbrechen

Der Junge erwachte aus dem tiefen Schlaf, sprang vom Bett und sah seine Eltern auf dem Balkon stehen. "Die Mutter sagte zum Vater, dass es wohl ein Probealarm ist. Vater dachte es auch und wunderte sich, dass der Alarm zu so einer frühen Stunde kommt". Tatsächlich waren es deutsche Bomben, die auf Wieluń fielen. Es waren die ersten Bomben des Zweiten Weltkriegs.

Jan Tyszler erinnert sich zwar, dass Ende August 1939 "der Krieg schon in der Luft lag" und ständig darüber geredet wurde. Doch niemand hätte geahnt, dass ausgerechnet seine Stadt zum Angriffsziel werden könnte.

Wieluń, heute eine Kreisstadt etwas mehr als 200 Kilometer südwestlich von Warschau gelegen, befand sich 1939 nur 20 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt und hatte kaum strategische Bedeutung. Keine Verkehrsknoten, keine Brücken, die man hätte verteidigen müssen. Deshalb waren hier nur wenige polnische Soldaten stationiert.

Auf der Flucht

"Schon bei den ersten Bomben sind wir auf den Hof nebenan geflüchtet, wo mein Vater, der Schlosser war, eine Autowerkstatt hatte. Dort saßen wir in den Gruben, die zur Kontrolle der Autos dienen. Wir zitterten vor Angst. Am Nachmittag war unser Haus das einzige, das noch stand. Alle anderen Gebäude in der Nachbarschaft waren Ruinen."

Ein älterer Mann deutet auf ein Bild
Jan Tyszler zeigt auf einem historischen Foto, wo das Haus seiner Eletern stand. Bildrechte: MDR/Monika Sieradzka

Jans Familie, wie viele andere Einwohner auch, versuchte die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Man wusste nicht, ob und wie viele Angriffe noch folgen würden. Als sie flohen, fiele weitere Bomben. "Flugzeuge tauchten auf und wir warfen uns in einen Graben neben dem Weg. Ein Teil von Wieluń stand in Flammen, es war eine große Menschentragödie".

In mehreren Bombenangriffen zwischen 4.35 Uhr und 14.00 Uhr wurde das Städtchen zu 70 Prozent zerstört. 1.200 von 16.000 Einwohnern kamen ums Leben. Als die Wehrmacht in die Stadt einmarschierte, befanden sich nur noch ein paar Hundert Einwohner in Wieluń.

Der Angriff auf die Westerplatte

Nur wenige Minuten nach der ersten Attacke auf Wieluń, griffen die Deutschen ein polnisches Munitionslager auf der Westerplatte in Danzig an. Der Angriff dauerte eine Woche lang. Während die Zahl der dabei gefallenen Deutschen auf 3.400 geschätzt wird, gab es auf polnischer Seite nur 15 Tote.

In Polen wird die Verteidigung der Westerplatte angesichts der überwältigenden militärischen Übermacht des Gegners als Symbol des polnischen Heldentums im Zweiten Weltkrieg geehrt. Seit Jahrzehnten lernen polnische Schulkinder, dass deutsche Offiziere aus Respekt für den unglaublich mutigen Kampf vor den polnischen Soldaten salutiert haben, als diese nach der Kapitulation die Westerplatte verließen. Bisher standen Danzig und die Westerplatte symbolisch für den Beginn des Krieges.

Geschichte: Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Dass es dieses Jahr anders ist und Polens Präsident Andrzej Duda nicht nach Danzig, sondern nach Wieluń reist, hat politische Gründe. Danzig ist eine der letzten Bastionen der Opposition in Polen, daher werden die dortigen Gedenkfeierlichkeiten stark von Oppositionspolitikern geprägt. Die Westerplatte selbst ist zum Streitthema zwischen der PiS und dem mehrheitlich liberal besetzten Danziger Rathaus geworden, weil die PiS auf der Westerplatte ein neues, staattliches Museum bauen lassen möchte, obwohl es dort bereits ein kleines städtisches Museum gibt. Damit soll die Westerplatte zu einem weiteren Instrument der Geschichtspolitik der PiS-Regierung werden.

"Mit Sicherheit ist es einfacher, über die Gedenkfeier mit jemandem zu reden, der sich gegenüber den Machtzentren in Polen entgegenkommend zeigt, als mit Personen, die es nicht tun", sagte der Pressesprecher des Präsidenten, Blazej Spychalski, schon im Frühjahr, als die Entscheidung fiel, die Gedenkfeier nach Wieluń zu verlegen. Damit zielte er auf die politische Stimmung in Danzig ab. Die Menschen dort stehen nach der Ermordung des langjährigen liberalen Bürgermeisters Pawel Adamowicz Anfang 2019 noch immer unter Schock. Mit einem "Entgegenkommen" kann die PiS in der weltoffenen Stadt nicht rechnen.

Die Sirenen: eine Mahnung vor dem Krieg

Jan Tyszler steht vor Gartenzaun. 1 min
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Wenn dieses Jahr in der Morgendämmerung des 1. September in Wieluń wieder die Sirene heult, ist auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dabei. "Es ist gut, dass so ein hoher deutscher Politiker nach Wieluń kommt. Unsere Tragödie sollte in der Welt bekannt werden", sagt Jan Tyszler, der es für eine längst überfällige Geste hält. "Ich möchte, dass wir immer nur diese symbolischen Alarmsirenen und nie mehr die echten hören müssen", sagt er. Für ihn sind sie Jahr für Jahr eine Mahnung vor dem Krieg.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 30. August 2019 | 17:45 Uhr

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