Rabbiner Daniel Fabian
Bildrechte: Daniel Fabian

MDR Kultur | 14.06.2024 Schabbat Schalom mit Rabbiner Daniel Fabian: Warum Verzicht sich lohnt

14. Juni 2024, 10:48 Uhr

Manchmal ist es gut, auf etwas zu verzichten oder eine Auszeit zu nehmen. Dabei geht es nicht um Askese, sondern um erreichbare Ziele, betont der Magdeburger Rabbiner Daniel Fabian in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Nasso". Das kann helfen, einen neuen Blick auf sich selbst und auch ein neues Selbstbewusstsein zu gewinnen, wenn diese Ziele dann tatsächlich erfüllt wurden.

Ich habe mich schon oft gefragt: Wer kennt einen eigentlich am besten? Wer weiß eigentlich wirklich, wer ich tief im Inneren bin? Mein Partner oder meine Kinder, denen man nichts vormachen kann? Meine Freunde, die mich uneigennützig anschauen und nur mein Bestes im Sinn haben? Aber sind nicht die Wahrnehmungen von all den Genannten auch durch deren eigene Persönlichkeit und momentane Herausforderungen im Leben beeinflusst? Vielleicht kenne ich mich selbst ja am besten? Andererseits: Belüge ich mich nicht selbst auch oder mache mir selbst etwas vor?

Vom Sinn des Verzichts: Sich zum Nasiräer erklären

Im dieswöchigen Wochenabschnitt, Nasso, lesen wir vom Konzept eines Nasirs. Zu biblischen Zeiten hatte ein Mensch die Möglichkeit, sich für eine begrenzte Zeit zum Nasiräer zu erklären und sich damit zu verpflichten, auf bestimmte Sachen zu verzichten, nämlich unter anderem auf das Schneiden der Haare und den Genuss von Wein. Der wahrscheinlich berühmteste Nasir aller Zeiten war die biblische Persönlichkeit Samson, mit seiner großen Haarpracht und seinen immensen Kräften.

Die grundlegende Motivation, das sogenannte Nasiräertum auf sich zu nehmen, ist nach Ansicht der Tora folgende: Wenn einem Menschen droht, dass er die Kontrolle über seine Triebe und sein Verlangen verliert, kann er durch diesen gezielten Verzicht versuchen, wieder auf den rechten Weg zu kommen. Statt allem zu entsagen, nimmt er nur diese bestimmten Dinge auf sich und übt sich in Disziplin und Achtsamkeit und baut sein Selbstbewusstsein wieder auf, indem er Erreichbares schafft.

Es ist nicht der jüdische Weg, sich in absolute Askese zu begeben.

Nach Beendigung der Zeit der Abstinenz soll der Nasiräer ein bestimmtes Opfer bringen. In diesem Kontext lesen wir eine erstaunliche Formulierung: Er bringe sich selbst zum Eingang des Stiftszelts.

Was heißt hier: "Er bringe sich selbst? Er komme zum Eingang!

Neue Perspektive auf sich selbst gewinnen

Der lettische Kommentator des 19. Jahrhunderts, Rabbi Meir Simcha haCohen aus Dwinsk, genannt der Meshech Chochmah, sieht in dieser Formulierung eine tiefere Bedeutung. Nehmen wir mal folgende Situation an: Wir befinden uns in einem Restaurant. Ein offensichtlich stark übergewichtiger Mann bewegt sich auf das "All you can eat"-Buffet zu und schaufelt sich massenhaft Essen auf den größten Teller, den er finden kann. In dem Moment denken wir sicher: "Es ist total klar, was hier Problem ist. Weil er zu viel und zu ungesund isst, hat dieser Mann ein Gewichtsproblem."

Ich kann sein Problem in einem Moment erfassen, denn ich schaue auf eine andere Person.

Das Ziel der Nasiräer-Zeit ist es, eine neue, objektivere Position und Sichtweise auf sich selbst zu bekommen, als ob man jemand anderen anschauen würde. Wenn man in der Lage ist, seine persönlichen Herausforderungen so anzuschauen, als ob sie von jemand anderem wären, dann hat man einiges erreicht. Dann belügt man sich weniger, steht nicht mehr so sehr unter dem Einfluss der eigenen Bedürfnisse und geht objektiver mit sich selbst ins Gericht.

Wenn ich also in der Lage bin, mich selbst wie eine dritte Person zum Tempel zu bringen, dann hat die Zeit der Abstinenz ihren Sinn erfüllt. Und dann ist es auch wieder Zeit, sich die Haare zu schneiden und mit einem Glas Wein anzustoßen.

In dem Sinne: Lechaim und Schabbat Schalom!

Zur Person: Daniel Fabian Der Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt wurde 1974 in Israel geboren und wuchs in Deutschland auf. Ein Studium der Biologie schloss er mit einem Diplom an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Von 2007 an war Daniel Fabian einer der ersten Studenten am Rabbinerseminar zu Berlin. Die feierliche Ordination zum orthodoxen Rabbiner erfolgte im Jahr 2011. Bereits während seines Studiums hatte Fabian in jüdischen Bildungseinrichtungen unterrichtet, ab 2011 übernahm er verschiedene Leitungsfunktionen in der Stiftung Lauder Yeshurun. 2021 wurde Fabian Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt, seit 2022 nimmt er dort auch die Aufgabe des Polizeirabbiners wahr. Daniel Fabian ist verheiratet und hat fünf Kinder.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Jüdisches Leben

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 14. Juni 2024 | 15:45 Uhr