Der Religionssoziologe Detlef Pollack in Münster 8 min
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Mehr als eine halbe Million Menschen sind im Jahr 2022 in Deutschland aus der katholischen Kirche ausgetreten. Julia Hemmerling hat dazu den Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack befragt.

MDR KULTUR - Das Radio Mi 28.06.2023 15:30Uhr 07:44 min

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Interview Katholische Kirche vermeldet neuen Austrittsrekord: "Es ist nicht nur eine Kirchenkrise"

28. Juni 2023, 17:30 Uhr

Mehr als eine halbe Million Menschen sind im Jahr 2022 in Deutschland aus der katholischen Kirche ausgetreten. Das sind laut Deutscher Bischofskonferenz so viele wie noch nie und mehr als 2021, als es mit knapp 360.000 Austritten bereits einen Negativrekord gab. Wir haben den Religionssoziologen Detlef Pollack gefragt, ob sich der Abwärtstrend noch stoppen lässt und was es gesellschaftlich bedeutet, wenn die Kirchen immer kleiner werden.

MDR KULTUR: Insgesamt hat die katholische Kirche in Deutschland 2022 mehr als 700.000 Mitglieder verloren. Mehr als eine halbe Million Menschen sind aktiv ausgetreten. Haben Sie diese Zahlen überrascht?

Detlef Pollack, Religionssoziologe: In dieser Höhe schon. Ich habe damit gerechnet, dass sie höher ausfallen als die Zahlen für die evangelische Kirche, die mit 380.000 Mitglieder für 2022 auch schon sehr hoch waren.

Die Erzbistümer Köln und München verzeichnen prozentual die meisten Austritte. In München bescheinigte ein Gutachten der Leitung Versäumnisse im Umgang mit den Missbrauchsopfern über Jahrzehnte, was Josef Ratzinger, also auch den späteren Papst Benedikt betrifft. In Köln wird Kardinal Rainer Maria Woelki mangelnde Aufarbeitung vorgeworfen. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Meineids gegen ihn. Gestern gab es eine große Razzia in seinem Wohnhaus und anderen Gebäuden des Erzbistums. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht der Umgang mit dem Missbrauchsskandal bei den Austritten?

Eine ganz große Rolle. Das lässt sich auch beziffern, denn es gibt dazu große Befragungen. Die Art und Weise wie die Kirche damit umgeht, empört viele Menschen und ist ein wesentlicher Austrittsgrund. Selbst Menschen, die hoch verbunden sind mit der Kirche, treten aus.

Doch es gibt daneben auch eine langfristige Entwicklung; nämlich dass Menschen sagen: "Ich kann mit dem Glauben nichts mehr anfangen." Das heißt:

Es ist nicht nur eine Kirchenkrise, es ist auch eine Glaubenskrise.

Detlef Pollack, Religionssoziologe Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Und das geht im Prinzip so seit den Sechziger, Siebziger Jahren, seitdem haben sich die Wertorientierungen der Menschen stark verändert. Individualismus, Selbstbestimmung spielt seitdem eine größere Rolle. Das steht in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu, dass die Kirche einem vorgibt, was man glauben soll.

Viele sagen auch, dass sie die Kirchensteuer nicht länger bezahlen wollen, zumal sie ja zum großen Teil selber nicht mehr die kirchlichen Angebote in Anspruch nehmen. Also wollen sie auch nicht dafür bezahlen, dass sie in der Kirche sind.

Auch die evangelische Kirche verzeichnet ja steigende Austrittszahlen, obwohl sie nicht in gleichem Maße vom Missbrauchsskandal betroffen ist. Im vergangenen Jahren haben 380.000 Menschen die evangelische Kirche verlassen. Worin besteht also diese Glaubenskrise?

Das ist eine sehr gute Frage. Also wir bemühen ja heute nicht mehr unbedingt Gott, um irgendwelche Dinge zu erklären. Wir rufen auch nicht mehr unbedingt Gott an, wenn wir Hilfe brauchen. Manche Menschen machen das, die meisten nicht. Sie erfahren zum Großteil auch gar nicht die Hilfe durch den Glauben, die ihnen gewissermaßen versprochen wird, sodass etwas leer bleibt. Viele Menschen sagen: "Also, ich bin nicht glaubenslos. Ich glaube etwas. Aber sie kommen mit dem, woran sie glauben, eigentlich nicht in eine Interaktion. (...) Ich würde von einer Verflüssigung der Glaubensvorstellungen sprechen, die dann damit einher geht, dass man diesen Glaubensinhalten nicht mehr so eine große Bedeutung für die eigene Lebensführung zuspricht.

Gibt es denn eine Hoffnung, diesen Abwärtstrend zu stoppen oder gar das Steuer rumzureißen?

Die Kirche versucht es ja seit Jahrzehnten. Seit den Sechziger Jahren, als Austrittszahlen vergleichsweise hoch waren. Seitdem versucht die Kirche, sich zu reformieren, sich umzustellen, die Menschen ernst zu nehmen, die Mündigkeit zu respektieren, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, dialogischer zu sein, politischer und so weiter.

Die Kirche hat sich verändert, aber obwohl sie sich verändert hat, hat sie diesen Abwärtstrend nicht aufhalten können. Vielleicht wäre der aber noch schlimmer ausgefallen, wenn sie das nicht gemacht hätte. Im Kleinen kann man möglicherweise Menschen ansprechen und wiedergewinnen. Das sind immer nur ganz wenige. Eigentlich sehe ich nicht, dass durch Reformen wirklich sehr viel bewirkt werden kann. Es ist sogar fast noch dramatischer, obwohl die Kirchen eigentlich eine lebendige Gemeinschaft bilden und immer menschenfreundlicher geworden sind, wenden sich die Menschen von der Kirche ab.

Nun spielen Kirchen im ehrenamtlichen Bereich eine ganz große Rolle, in Schulen, Kindergärten, sozialen Einrichtungen. Was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn Christinnen und Christen zusehends in die Minderheit geraten und die Kirchen immer mehr Mitglieder verlieren?

Das ist schon dramatisch. Die Kirchen selber sagen ja, dass sie zu einem großen Teil auf das Engagement der Ehrenamtlichen vertrauen. In der evangelischen Kirche sind das etwa 700.000 Menschen, die sich da engagieren. Und wenn das immer weniger werden, dann fehlen auch zivilgesellschaftliches Engagement und kulturelle Lebendigkeit.

Das zeigen viele Untersuchungen, dass Menschen, die in der Kirche sind, die glauben, sich stärker zivilgesellschaftlich engagieren. Darauf bauen die Kirchen. Und insofern würde ich schon sagen, dass das auch ein Verlust ist.

Die Verluste sind signifikant, bedrohen aber nicht den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Detlef Pollack, Religionssoziologe Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Allerdings muss man auch sagen, es gibt noch andere Quellen des ehrenamtlichen Engagements, der Beteiligung an der Zivilgesellschaft. Die Verluste, die eintreten werden, sind schon signifikant, aber vielleicht nicht so bedeutsam, dass man das sagen muss, der Zusammenhalt der Gesellschaft ist bedroht. Das glaube ich nicht.

Das Gespräch führte Julia Hemmerling, MDR KULTUR.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 28. Juni 2023 | 16:10 Uhr