Welttag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember "Die Chefin bin ich": Wie Sarah Lenz für selbstbestimmtes Leben kämpft
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Mit 20 ins Pflegeheim – für Sarah Lenz aus Leipzig war das keine Option. Sarah lebt mit Muskelschwund – und in ihren eigenen vier Wänden, eine persönliche Assistenz leiht ihr Arme und Beine. Was für andere selbstverständlich ist, wird für Sarah so erst möglich: essen, aufs Klo gehen und Freund:innen treffen, wann und wie sie das möchte. Bis heute kämpft Sarah um kleine Freiheiten, für sich selbst und andere Menschen mit Behinderung. Fabian Stark hat sie begleitet.

Ich kenne wenige Menschen, die so unkompliziert sind wie Sarah. Der Dreh war kurzfristig geplant, schon in wenigen Tagen sollte unser Team Sarah für insgesamt 20 Stunden daheim begleiten – und damit Sarahs Assistenz Ulrike, ihren Freund Daniel und Hund Fito. Nervös rief ich sie an und fragte, ob es so bald ginge, das Team sei schon angefragt. Sarah machte kein Aufheben: "Klar!"
Alltag als Gratwanderung: Unterstützung auf Abruf
Sarah wurde mit spinaler Muskelatrophie geboren. Die Krankheit führt dazu, dass die Muskeln schwinden. Sarah kann ihren Kopf noch bewegen und ihre Hände. Und sie weiß, was sie will.
In einer eigenen Wohnung leben, einen Hund haben, Freunde und Familie treffen: Mit Assistenz kann ich diese Dinge tun, wann und wie ich das möchte. Das ist für mich Selbstständigkeit.
Für ihre Assistentin Ulrike ist Sarah Arbeitgeberin und Chefin. Wasser einschenken, die Tür aufmachen, Nagellack bringen – nicht Pflege, sondern alltägliche Handgriffe stehen für Ulrike im Vordergrund ihrer Arbeit. Sarah weist an, Ulrike führt aus:
"Bei Sarah ist es eben so, dass sie einen sehr starken Willen hat. Ich unterstütze sie durch meine körperliche Kraft." Würde Ulrike ihrer Klientin ein Kissen bringen, nur weil sie vermutete, Sarah könnte es brauchen: Damit würde sie als Assistenz wohl schon eine Grenze verletzen – eine Gratwanderung.
Ich suche keine Freundin, sondern eine Assistenz, habe ich am Anfang gesagt. Das hat, glaube ich, einfach ein bisschen Druck weggenommen – die Freundschaft hat sich dann entwickelt.
Ulrike ist eine von fünf Haupt-Assistenzen, die sich nach Dienstplan abwechseln. Die Kosten belaufen sich auf etwa 15.000 Euro im Monat. Andernorts kann der finanzielle Aufwand für eine 24-Stunden-Assistenz anders ausfallen, denn die Kommunen bzw. Träger entscheiden über die Höhe der Entlohnung. Fest steht: Es ist Geld, das sie oft nicht bereit sind aufzubringen. Das Recht auf Assistenz ist zwar gesetzlich verankert – aus Kostengründen schlagen die Träger aber Pflegedienste vor oder ein Leben im Heim.
Dass Sarah mit Assistenz in ihrer eigenen Wohnung leben darf, hat sie sich vor Gericht erstritten. Der Streit ging bis in die zweite Instanz und dauerte über zwei Jahre – ein selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen, ist für viele Menschen mit Behinderung noch lange keine Selbstverständlichkeit.
Was Teilhabe bedeutet
Sarah regt das auf. Niemand beantrage eine 24-Stunden-Assistenz, weil ihm oder ihr nichts anderes einfalle, sondern weil Hilfe im Alltag nötig sei: "Prinzipiell ist jeder Mensch froh, so viel wie möglich selbst zu machen. Da hole ich mir nur Unterstützung, wenn es anders nicht geht", sagt sie auch mit Blick auf ihre Begegnungen im Muldentaler Assistenzverein. Dort berät sie 25 Stunden die Wochen Menschen, die wie sie eine Assistenz oder mehr Unterstützung brauchen.
Die Politik wirft häufig mit dem Schlagwort "Inklusion" um sich, Sarah findet den Begriff inzwischen "ausgeleiert". Sie sagt, viele würden nicht wissen, was Inklusion überhaupt bedeute: eben nicht, dass behinderte Menschen als besondere Gruppe auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben könnten, sondern dass "Gesellschaft so gestaltet ist, dass es keine Unterschiede gibt zwischen behindert und nicht behindert". Also keine Sonderschulen mehr, egal unter welchem Namen; die Möglichkeit zu studieren und zu arbeiten; ein Zugang zu Kneipen, Kino und Konzerten – nicht als Sonder-Event, sondern als Selbstverständlichkeit. Wann, wie und wo ein Mensch das möchte.
Sarah will dann mal weg ...
Autonomie verschaffe ihr vor allem der Rollstuhl, sagt Sarah. Schaltet sie auf Höchstgeschwindigkeit, hält man als Fußgänger kaum mit. Bei Konzerten, erzählt sie, könne sie den Rollstuhl hochfahren, um die Bühne besser zu sehen. Eine kleine Freiheit, von der sie sich mehr wünschte. Beispielsweise, dass nicht allein öffentliche Gebäude, sondern jedes Geschäft mit dem Rollstuhl zugänglich wäre. Erleichterungen verspricht sie sich von der fortschreitenden Technologie, von einem Smart Home mit einem Türschloss oder Bett, deren Höhe sie per App verstellen könnte. Das fände sie toll. Sarah recherchiert, ob und wann diese Dinge endlich entwickelt werden. Dafür ruft sie schon mal bei Firmen an und fragt nach.
Für nächstes Jahr plant Sarah eine lange Pilgerwanderung, gemeinsam mit Ulrike. Und sie träumt davon, nach New York zu fliegen.
Nicht mehr und nicht weniger
Ein ganz normaler Alltag wäre für alle Menschen möglich. Nicht weniger und nicht mehr steckt hinter den Schlagwörtern Teilhabe und Inklusion. Von einer inklusiven Gesellschaft aber sind wir weit entfernt, und Teilhabe müssen sich Menschen mit Behinderung meist hart erkämpfen. Das haben mir die 20 Stunden bei Sarah gezeigt.
Faktencheck: Wie das Recht auf Assistenz geregelt ist
Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, ein persönliches Budget und die Assistenz ist im Bundesteilhabegesetz (BTHG) festgeschrieben.
Das BTHG soll für behinderte Menschen die "volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" fördern, "Benachteiligungen vermeiden oder ihnen entgegenwirken". Dazu gehören Assistenz-Dienste, die in vielen verschiedenen Bereichen des Alltags geleistet werden können, bei der Arbeit, bei der Lebensplanung, in der Freizeitgestaltung. Assistenz wird von Pflegediensten bereitgestellt oder beruht – wie bei Sarah – auf dem Arbeitgeber:innen-Modell. Dabei tritt der Mensch mit Assistenzbedarf als Chef bzw. Chefin auf, stellt Dienste ein und verteilt Schichten. Die Kosten werden je nach Fall von unterschiedlichen Stellen getragen, zum Beispiel vom Sozialamt, der Kranken- oder Pflegekasse, der Renten- oder Unfallversicherung oder der Arbeitsagentur. Je nach dem, woher eine Erkrankung oder Behinderung rührt oder in welchen Lebensbereichen die Assistenz Teilhabe ermöglichen soll.
Häufig braucht es ein Zutun, damit diese Rechte umgesetzt werden. Ergänzende Unabhängige Teilhabe-Beratungsstellen (EUTB) leisten Unterstützung – wie etwa der Muldentaler Assistenzverein, für den Sarah arbeitet. Auf Bundesebene setzt sich die Initiative Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Assistenzbedarf ein.
Es besteht keine amtliche Statistik darüber, wie viele Menschen in Deutschland Assistenz-Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Das Netzwerk für Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz (NITSA e.V.) schätzt auf Anfrage des MDR, dass im Land Sachsen 400 bis 500 Menschen mit Assistenz leben.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 03. Dezember 2020 | 22:40 Uhr