Donnerstag 27.06.2019: Rededuell
Was hat denn das mit Sport zu tun? Falsche Frage. Vettel rollt gerade in die Boxengasse. Jetzt muss es schnell gehen. Neue Reifen. Ob der Vorsprung reicht? Oder muss er sich nach dem Stop hinter seinem Konkurrenten einreihen? Es scheint nur zwei Welten zu geben. Vettel oder Hamilton; Ferrari oder Mercedes? Der Mensch hat Freude am Wettstreit. Auch dann, wenn er selbst nur Zaungast ist. Die Welt teilt sich ein in Schwarz oder Weiß, in Gewinnen oder Verlieren. Vereinfachung. Für wen bist du? Und wer ist dein Gegner?
Vor 500 Jahren war es nicht anders. Am 27. Juni 1519 traten zwei Kontrahenten gegeneinander an. Martin Luther aus Wittenberg und Johannes Eck aus Ingolstadt. Der eine Reformer. Der andere Papstgetreuer. Beide Theologen. Sie reisten an nach Leipzig, jeder mit seinem Gefolge. Auf der Pleißenburg fand das Rededuell statt. Da, wo heute das neue Rathaus steht. Was als akademisch-sportliches Wortgefecht gedacht war, geriet unter der Hand zu einer Weichenstellung beim Umbruch der europäischen Gesellschaft im späten Mittelalter. Natürlich gab es Sachthemen, über die gestritten wurde: Wer hat höhere Autorität? Die Heilige Schrift oder der Heilige Stuhl? Sind die Beschlüsse aus den Zusammenkünften der Bischöfe bindend oder können Konzilien nicht auch irren? Es gab festgelegte Gesprächsregeln wie beim Sport. Und nicht immer ging es um Sachargumente, sondern es war auch viel Taktik im Spiel. So gelang es Johannes Eck, seinen Kontrahenten dazu zu bringen, einige Aussagen von Jan Hus zu bestätigen. Der war 100 Jahre zuvor in Böhmen als Ketzer verurteilt worden. Luther sollte sich durch die Nähe zu ihm um Kopf und Kragen reden. Nach drei Wochen Rededuell ging die Luther-Fraktion zunächst als Verlierer vom Platz, aber die Ideen der Freiheit aus Glauben ließen sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Allmählich kippte die Einschätzung der Leute.
Wie letzte Wahrheit sich durchsetzt im Gezänk und allzu menschlichen Streit der Welt, das bleibt ein großes Geheimnis. Luther hatte bei allem Eifer wohl auch die innere Gelassenheit, den Lauf der Dinge letztlich dem Höchsten anzuvertrauen. Solches Grundvertrauen wünsche ich uns auch heute im mehr oder weniger fairen gesellschaftlichen Streit um Meinungen.
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