Schmelzende Gletscher Forschende beunruhigt: Grönland hatte vor 416.000 Jahren deutlich weniger Eis als heute
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28. Juli 2023, 12:49 Uhr
Grönland war vor rund 416.000 Jahren grüner als heute, zeigen neue Bohrkerndaten und könnte sogar ganz eisfrei gewesen sein. Wissenschaftler schließen, dass der Eispanzer schneller schmelzen kann, als bislang angenommen.
Grönland hatte vor 416.000 Jahren höchstwahrscheinlich schon westentlich mehr eisfreie Gebiete, als heute. Das legt die Analyse eines Bohrkerns nahe, der im Nordwesten Grönlands genommen wurde und der einige Meter Boden unterhalb des Eises enthielt. Wie das Team um Paul Bierman, Tammy Rittenour und Andrew Christ im Magazin Science berichtet, zeigen die Daten, dass der Boden damals mit Luft und Licht in Berührung gekommen sein muss. Auch einige Reste von Pflanzen waren enthalten.
Warmperiode vor 400.000 Jahren: Temperaturen über dem heutigen Niveau
Klimawissenschaftler sind über das Ergebnis beunruhigt, da es aus ihrer Sicht bedeutet, dass der Eispanzer auf Grönland viel sensibler für Temperaturveränderungen ist als bislang angenommen. Bisher gingen viele Forschende davon aus, dass die Insel in den vergangenen 2,5 Millionen Jahren ununterbrochen von Gletschern bedeckt war. Jetzt aber zeigt sich, dass vor rund 400.000 Jahren mindestens ein Großteil des Eis geschmolzen war. Damals gab es eine etwa 40.000 Jahre andauernde Warmzeit namens "Marines Isotopenstadium 11 (MIS 11)".
Die MIS 11 Periode war durch relativ warme Temperaturen geprägt, die wohl etwas höher waren als die heutigen Durchschnittswerte. Zugleich war der CO2 Gehalt in der Atmosphäre etwa auf dem Niveau vor der Industrialisierung, die Einstrahlung der Sonne aber wohl deutlich stärker. Der globale Meeresspiegel lag laut Berechnungen zwischen 1,4 und 5,5 Meter über dem heutigen Niveau.
Simulationen: Grönländischer Eisschild könnte auch vollständig abgeschmolzen sein
Neben der Auswertung des Bohrkerns simulierten die Forschenden, wie stark sich das Eis zurückgezogen haben muss, um die Fläche im Nordwesten Grönlands freizugeben. Bei dieser Berechnung haben die Wissenschaftler allerdings nicht berücksichtigt, ob möglicherweise auch ein sogenannter Kipppunkt erreicht wurde. Denn andere Geologen erwarten, dass der Eisschild vollständig kollabiert, wenn die obersten Schichten soweit abschmelzen, dass die Oberkante des Schilds vollständig in wärmeren Luftschichten liegt. Zu diesem Ergebnis war eine bereits 2014 erschienene Studie in Nature gekommen.
Möglicherweise also könnte Grönland während dem MIS 11 auch vollständig eisfrei gewesen sein. "Wir konnten auch abschätzen, dass das Gebiet nicht länger als etwa 15.000 Jahre eisfrei war. Wenn also zu diesem Zeitpunkt ein Kipppunkt überschritten wurde, dann wissen wir, dass der Eisschild auch ziemlich schnell wieder gewachsen sein muss", sagt Benjamin Keisling, Co-Autor der Studie von der Universität in Austin, Texas..
Bohrung: Ursprünglich für die Stationierung von Atomwaffen in Grönland gedacht
"Es ist alarmierend, dass die heutigen CO2-Konzentrationen 1,5 Mal höher sind", sagt Studien-Co-Autorin Tammy Rittenour. Die Forschenden vermuten, dass das aktuelle CO2-Nivaeu zu einer langanhaltend steigenden Erwärmung führt, die deutlich über das Niveau von MIS 11 hinausgeht und daher auch zu einem noch stärkeren Schmelzen der Eisflächen führen wird. Das könnte für Milliarden von Menschen lebensbedrohlich sein, die in den hoch konzentrierten Ballungsräumen und Megastädten entlang der Küsten leben.
Neben dieser Erkenntnis ist auch die Geschichte des Bohrkerns interessant. Dieser wurde bei Erkundungen des US-Militärs in den 1960er Jahren genommen, ursprünglich, um neue Möglichkeiten zu erschließen, Atomwaffen in Grönland zu stationieren und auf die Sowjetunion richten zu können. Der Bohrkern lagerte dann mehrere Jahrzehnte in Archiven und wurde erst jetzt wiederentdeckt.
Korrekturen 25. Juli
In einer ersten Version dieses Beitrags vom 24. Juli hieß es, die Studie zeige, dass Grönland während der MIS-11 Periode eisfrei gewesen sei. Das ist falsch. Richtig ist, die Studie zeigt einen umfassenden Eisverlust in Grönland, der mindestens Gegenden im Nordwesten und Süden Grönlands eisfrei werden ließ.
Außerdem wurde in der ersten Version ein berechneter Anstieg der Meeresspiegel von 1,6 Metern berichtet. Richtig ist, dass die Berechnungen der Forschenden einen Anstieg von 1,4 bis 5,5 Metern zeigen.
Dieses Thema im Programm: Das Erste | ttt - titel thesen temperamente | 04. September 0022 | 23:46 Uhr
MDR-Team am 25.07.2023
@Goffman (Teil 3)
3. 1,4 Meter ist hier das angegebene Minimum, allerdings, das findet sich in der Notiz der Herausgeber, beziehen sich diese 1,4 Meter auf Bedingungen, bei dem unsere heutige Temperatur sich das damalige Niveau erreicht hat. Während MIS-11 war es wärmer und zwar, so finden wir es in verschiedenen anderen Beiträgen zu der Studie, so warm, wie es aktuell für das Jahr 2100 erwartet wird. Die 1,4 Meter kommen also zu dem bis 2100 erwarteten Anstieg der Meeresspiegel hinzu. Sowieso handelt es sich allerdings nur um die Untergrenze, also das zu erwartende Minimum. „The ice sheet geometries corresponding to the first ice-free conditions at Camp Century equate to a range of sea level contributions (1.4 to 5.5 m). Es könnten also bis zu 5,50 Meter gewesen sein.
MDR-Team am 25.07.2023
@Goffman (Teil 2)
2. Die aktuelle Studie geht nicht von einem vollständigen Eisverlust aus, sondern nimmt nur relativ konservativ an, dass der Nordwesten und der Süden Grönlands eisfrei waren, da nur für diese beiden Gegenden sichere Daten vorliegen, bzw. die Simulationen, die zu eisfreien Bedingungen in diesen Gegenden führen, einen teilweisen Erhalt des Eisschilds durchaus zulassen. Allerdings: Das von Ihnen erwähnte Paper Reyes et.al. zieht die deutlich weitergehende Schlussfolgerung: “This is evidence for late-Quaternary GIS collapse [GIS collapse = vollständiger Verlust des Eisschilds] after it crossed a climate/ice-sheet stability threshold that may have been no more than several degrees above pre-industrial temperatures”.
MDR-Team am 25.07.2023
@Goffman (Teil1)
1. Reyes et.al. liefern Daten zum Süden Grönlands. Die jetzt erforschte Stelle befindet sich im Nordwesten. Das sind zumindest empirisch neue Daten, aus denen sich durchaus nochmal handfester schließen lässt, dass der Eisverlust während MIS-11 sehr ausgeprägt war. Aber richtig ist es durchaus und das korrigieren wir jetzt.