Eon Kind wäsacht ab
Die Hygienehypothese besagt, dass eine klinisch reine Umgebung bei Kindern die Bildung von Allergien fördern kann. Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Hygiene-Hypothese Ist übermäßige Hygiene doch kein Auslöser für Allergien?

08. Oktober 2023, 16:57 Uhr

Es ist eine alt hergebrachte Weisheit, dass Kinder sich auch mal dreckig machen müssen. Wenn sie dadurch früh verschiedenen Mikroorganismen begegnen, wendet sich das Immunsystem nicht gegen den eigenen Körper, wie es bei Allergien passiert. Allzu hygienisch reine Umgebungen dagegen könnten das Risiko steigern. Das jedenfalls besagt die sogenannte Hygienehypothese. Aber stimmt die womöglich gar nicht? Das legt ein aktuelles Experiment an Mäusen nahe. Doch es gibt auch Kritik aus der Forschung.

Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung von Forschenden der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat die Hygienehypothese mithilfe von Maus-Experimenten auf den Prüfstand gestellt. Ihr Kernergebnis: Mäuse, die von Geburt an von einer hohen Anzahl an Mikroorganismen umgeben sind, sind ebenso anfällig für Allergien wie keimfreie Labormäuse. Und das würde den Schluss nahelegen, dass zu viel Hygiene auch beim Menschen gar nicht zu mehr Allergien führen könnte - allerdings nur auf den ersten Blick.

Auch Mäuse mit vielen Mikroben reagieren allergisch

Für ihre Untersuchung haben die Forschenden sogenannte Wildling-Mäuse genutzt. Das sind Labormäuse, die als Embryonen in wilde Mäusemütter transplantiert und von diesen ausgetragen und geboren werden. Sie sind genetisch vollkommen identisch mit den herkömmlichen keimfreien Labormäusen, werden aber unter "halbnatürlichen" Bedingungen gehalten. Die Wildling-Mäuse sind außerdem von Geburt an einer Vielzahl von Mikroorganismen ausgesetzt. Diese Mäuse wurden für die Studie also mit den Labormäusen verglichen.

Die Forschenden untersuchten in den Allergie-Experimenten die immunologische Reaktion der Wildling- und Labormäuse auf insgesamt drei verschiedene Allergieauslöser. Dabei reagierten die Wildling-Mäuse ähnlich stark allergisch wie ihre genetisch verwandten, aber mikrobiell unterschiedlichen Labor-Verwandten. Die Besiedlung mit Mikroorganismen hat sie also offenbar nicht vor der allergischen Reaktion geschützt.

Das Forschungsteam stellt aufgrund der Ergebnisse die Hygienehypothese in Frage: Sind es womöglich ganz andere Faktoren, die tatsächlich hauptsächlich für den Anstieg von Allergien verantwortlich sind? Die Forschenden vermuten, dass es sich dabei etwa um andere andere Umweltfaktoren handeln könnte oder Verhaltensweisen des modernen täglichen Lebens ausschlaggebend sein könnten.

Kritik an Methodik und Übertragbarkeit

Doch es gibt Kritik an dieser Schlussfolgerung. Andere Forschende halten diese nicht für zulässig und sehen die Hygienehypothese noch nicht widerlegt.

So hält etwa die Leiterin der Forschungsgruppe Gastrointestinale Immunologie an der Medizinischen Universität Wien, Eva Untersmayr-Elsenhuber, die Studie für ausgezeichnet durchgeführt und in Hinsicht auf die speziell untersuchten Auslöser auch relevant, allerdings bemängelt sie, dass der Studienaufbau für die Schlussfolgerung nur unzureichend sei. "Das verwendete Modell erfasst allerdings nur einen Aspekt der Hygienehypothese, nämlich die Kolonisierung der Körperoberflächen mit einem ‚natürlichen‘ Mikrobiom", sagt Untersmayr-Elsenhuber. Das limitiere die Aussagekraft hinsichtlich der Hygiene-Hypothese, die weit mehr Aspekte umfasse.

Ansicht von schräg oben: Der Waschbeckenraum zwischen Wasserhahn und Wand wird durch das Umlegen eines gelben Putzlappens und dabei nach vorn hin und her ziehen gereinigt. Hände mit Putzhandschuhen.
Fördert übermäßige Reinlichkeit wirklich die Ausbildung von Allergien? Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Und dann ist da ja noch das Problem der Übertragbarkeit von Ergebnissen von der Maus auf den Menschen. "Bei immunologischen Studien muss immer klar hervorgehoben werden, dass die Immunantwort bei Mäusen und Menschen unterschiedlich ist", sagt Untersmayr-Elsenhuber dazu. Zwar seien die Mausmodelle relevant, um Mechanismen zu untersuchen, aber die Bestätigung der generierten Daten müsse immer bei Patienten erfolgen.

Die Wildling-Mäuse sind jedenfalls ein sehr interessantes Mausmodell, weil sie den "wilden" Mäusen in der echten Welt schon recht nahe kämen, meint Harald Renz, Direktor am Zentrum für Infektion, Entzündung und Immunität an der Philipps-Universität Marburg. Und dennoch sagt er: "Die Studie belegt und widerlegt gar nichts." Renz sagt, dass es völlig unbestritten sei, dass das Mikrobiom den Schutz vor Allergien fördere.

Die Studie belegt und widerlegt gar nichts.

Harald Renz, Philipps-Universität Marburg

"Allerdings ist es noch nicht vollständig verstanden, welche Mikroben diesen Schutz vermitteln. Viele Faktoren spielen hier eine Rolle: Die Zusammensetzung der richtigen Keime zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und es ist noch nicht ganz klar, welche Keime da zusammengehören." Und die Wildling-Mäuse im Experiment hatten demnach ein Mikrobiom im Darm, das nicht vor Allergien geschützt habe, so Renz. Denn Vielfalt sei nicht alles: "Auch wenn das Mikrobiom eine hohe Diversität an Keimen aufweist, so schützen diese nicht vor der Ausbildung von Allergien, sondern befördern sie eventuell sogar", bilanziert der Experte.

Auch Renz zweifelt an der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen. Zwar sei er selbst ausgewiesener Mausforscher, sagt er, aber dennoch sehe er den Nutzen von Mausmodellen für die Allergieforschung mittlerweile skeptischer. "Die Modelle bilden immer nur einen Aspekt einer sehr komplizierten Erkrankung ab, und man kann die Forschungsergebnisse nicht auf das gesamte Krankheitsbild übertragen."

Ein Kind spielt draußen im Matsch.
Matsch mit Folgen: Kinder müssen auf bestimmte Erreger treffen, um vor Allergien geschützt zu sein. Bildrechte: IMAGO/Pond5

Auch die Direktorin des Instituts für Asthma- und Allergieprävention am Helmholtz Zentrum München, Erika von Mutius, zeigt sich angesichts der neuen Studie eher skeptisch. Sie sagt: "Die Exposition dieser Wildling-Mäuse zu Heu, Kompost und Infektionsüberträgern und anderen wild lebenden Mäusen ist im Mausumfeld wahrscheinlich adäquat, reflektiert aber nicht die menschliche Exposition, wie zum Beispiel auf einem Bauernhof." Dort sei ja der Kontakt zu Nutztieren für den Schutz vor Allergien von wesentlicher Bedeutung, nicht der Kontakt zu Kompost oder Infektionserregern, so die Forscherin. Andererseits sei aus der Arbeitsmedizin bekannt, "dass eine übermäßige Exposition zu Bioaerosolen, wie zum Beispiel bei Werktätigen in Kompostierungsanlagen oder in der Abfallindustrie, das Risiko von Atemwegserkrankungen und auch Allergien erhöhen kann", erklärt sie weiter. Ein Zuviel sei also durchaus schädlich. Außerdem wisse man bereits, dass nicht alle mikrobiellen Erreger einen Schutz darstellen, sondern nur einige bestimmte, bilanziert von Mutius.

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Was sind die Allergie-Auslöser?

Tatsächlich ist es durchaus schwierig die Hygienehypothese eindeutig zu belegen bzw. zu entkräften. Denn die Entstehung von Allergien ist komplex. Die Wiener Medizinerin Untersmayr-Elsenhuber spricht etwa von einem "multifaktoriellen Geschehen". Es spielten noch weitere Faktoren eine wichtige Rolle, erklärt sie. Das seien etwa die Barrierefunktionen der Schleimhäute oder die Menge der von Pflanzen gebildeten Allergene.

Der Marburger Harald Renz erklärt, dass man momentan bestimmte Dinge miteinander in Verbindung bringen könne, die zu einer Hypothese führten: "Viele Faktoren schlagen sich auf das Mikrobiom nieder, die in Folge unser Immunsystem und damit unsere Allergieanfälligkeit beeinflussen. Dazu gehören Ernährung, Bewegung, Luftverschmutzung, Klimawandel oder die abnehmende Biodiversität in der Natur." Er betont, dass die Hygienehypothese auch immer mehr durch die Biodiversitäts-Hypothese abgelöst werde. Die beruhe auf der Idee, dass der Kontakt zu einer Vielfalt an Lebendmaterial wie Keimen auf Obst, im Garten, auf Bäumen in der Erde und weitere, wichtig für einen gesunden Metabolismus und eine gesunde Immunreaktion zu sein scheint, so Renz. Deshalb brauche es seiner Überzeugung nach jetzt auch vermehrt Forschung in Richtung Klimawandel und Gesundheit.

Link zur Studie

Ma, Junjie et al.: Laboratory mice with a wild microbiota generate strong allergic immune responses. Science Immunology. 2023. DOI: 10.1126/sciimmunol.adf7702.

Mehr zur Hygiene-Hypothese:
Pfefferle, Petra et al.: The Hygiene Hypothesis – Learning From but Not Living in the Past. Frontiers in Immunology. 2021. DOI: 10.3389/fimmu.2021.635935.

(kie/SMC)

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