Zwischen Wald und Wild Jahresrückblick September: Brauchen wir die Jagd noch?
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29. Dezember 2021, 09:00 Uhr
Nicht nur Corona – auch Vulkane, Vögel, Planeten, Spinnen und Ähnliches fesselten unsere Leser in diesem Jahr. MDR WISSEN zeigt im Jahresrückblick 2021 die beliebtesten Artikel jedes Monats abseits von Corona. Im September fragten wir nach dem wissenschaftlichen Sinn der Jagd. Könnten Sie sich vorstellen, ein Reh oder ein Wildschwein zu erschießen? Ein überkommenes, blutiges Hobby oder eine wichtige Funktion für Wald und Flur?
Die Faszination fürs Jagen wächst
Anna Kluger drückt ihre Wange an den Lauf ihrer Büchse und kneift ein Auge zu. Hochkonzentriert zielt die 24-Jährige auf ein Rehkitz, das grasend am Waldrand steht. Absolute Stille, angehaltener Atem – dann der Schuss. Das Tier fällt sofort um. Ein guter Treffer, Anna Kluger ist zufrieden und wirkt gelöst: "Das ist für mich das Allerwichtigste: Dass ich den Schuss so antragen kann, dass er definitiv oder mit bester Wahrscheinlichkeit sofort tödlich ist." Kein Mitleid mit dem toten Kitz, das da nun im Gras liegt? Klar werde es manchmal auch emotional, sagt Kluger. Aber man müsse das pragmatisch sehen:
Wir gehen raus, um Beute zu machen. Wir gehen raus, um zu erlegen. Sonst könnte ich auch zuhause bleiben.
Anna Kluger ist an diesem August-Abend in einem Revier im Erzgebirge unterwegs. Seit 2017 hat die Studentin ihren Jagdschein. Sprich: Sie hat mindestens 120 Stunden Unterricht absolviert, Jagd- und Waffenkunde, Wildbret-Hygiene, Schießübungen, und am Ende erfolgreich eine Reihe theoretischer und praktischer Prüfungen abgelegt. Damit gehört Anna Kluger zu einer wachsenden Gruppe: 397.414 Menschen in Deutschland besaßen laut dem Deutschen Jagdverband (DJV) 2020 einen Jagdschein – so viele wie noch nie zuvor. Und besonders junge Menschen interessieren sich zunehmend für die Jagd.
Der "Bambi-Effekt"
Doch so sehr das Jagd-Interesse zu wachsen scheint: Schnell kochen bei dem Thema auch die Emotionen hoch. Ist es moralisch gerechtfertigt, in den Wald zu gehen und ein Tier zu töten? Beim bloßen Gedanken daran, wie ein junges Reh erschossen wird, greift bei vielen Menschen der sogenannte "Bambi-Effekt": Sobald wir ein Tier als niedlich wahrnehmen, verurteilen wir es wiederum umso stärker, wenn dieses Tier getötet wird.
Zu viel Wild, zu wenig Wald
Trotz all der moralischen Fragen und hitzigen Diskussionen – ganz ohne Jagd geht es in unserer menschengemachten Kulturlandschaft wohl nicht, ist sich auch Niko Balkenhol, Professor für Wildtiermanagement an der Forstfakultät der Universität Göttingen, sicher.
Ich bin davon überzeugt, dass wir die Jagd in vielen Bereichen brauchen.
Das liege etwa daran, dass der Wald in Deutschland auch eine wirtschaftliche Nutzfunktion habe, also beispielsweise der Holzgewinnung diene: "Wir haben in vielen Bereichen in Deutschland sehr hohe Wilddichten. Die können zu einem gewissen Problem werden, wenn zu viele junge Bäume von den Tieren angefressen werden. Man spricht dann vom sogenannten Verbiss." Nähmen diese Verbissschäden Überhand, könne der Wald nicht mehr so nachwachsen wie gewünscht.
"Das Reh ist das Schwein des Waldes"
Jägerin Anna Kluger hält von ihrem Hochsitz aus Ausschau nach weiterer Beute. Auch sie ist der Auffassung, dass die Jagd ein wichtiges Instrument ist, um das Ökosystem Wald stabil zu halten. "Ich sage immer ganz gern: Das Reh ist das Schwein des Waldes. Das Schwein macht draußen auf dem Feld den Schaden, und den sieht jeder, wenn da eine Rotte Wildschweine durchgezogen ist. Die Schäden im Wald sieht man hingegen nur mit einer gewissen Vorbildung." Und durch zu viele Verbiss-Schäden sei das Wachstum klimastabiler Wälder gefährdet: "Rehwild frisst bestimmte Baumarten besonders gern, Ahorn zum Beispiel. Dann würde diese Baumart auf der Fläche fehlen – und am Ende haben wir halt wieder Flächen, auf denen nur zwei, drei Baumarten stehen und der Rest einfach rausgefressen wurde."
Wie groß sind die Jagd-Effekte wirklich?
Dass es die Jagd als regulierendes Instrument braucht, da scheinen sich Forschung und Praktiker also weitgehend einig zu sein. Aber wie stark sind die Effekte, die sich durch Bejagung erzielen lassen? Wildtiermanagement-Professor Niko Balkenhol plädiert hier für eine differenzierte Sichtweise:
Ob wir wirklich regulierend in die Wildtierbestände eingreifen können, ist sehr strittig.
"Wir haben hier in Deutschland eine sehr intensive Bejagung, der Jagddruck ist schon sehr hoch. Und trotzdem sehen wir seit dem Zweiten Weltkrieg bei den relevanten Arten einen starken Anstieg in den Populationen. Das heißt, wir schaffen es offensichtlich nicht, hier regulierend einzuwirken in dem Sinne, dass wir wirklich maßgeblich bestimmen, wie sich die Populationen entwickeln."
Also hat die Jagd am Ende gar keine Wirkung? Doch, sagt Balkenhol, aber anders, als viele sich das vorstellen: "Ohne die Jagd wären die Bestände wahrscheinlich noch viel größer und es würde zu viel gravierenderen Schäden in der Land- und Forstwirtschaft kommen." Kurz gesagt: Regulieren funktioniert nicht, limitieren hingegen schon.
Schutzzäune sind keine dauerhafte Lösung
Dabei ist die Jagd längst nicht das einzige Instrument, mit dem im Wildtiermanagement gearbeitet wird. Denkbar sind etwa auch Zäune oder andere Schutzvorrichtungen, um Verbiss-Schäden an nachwachsenden Bäumen einzudämmen. Tatsächlich nehme die Zahl der eingezäunten Flächen in Deutschlands Wäldern immer mehr zu, so Niko Balkenhol. Derartige Maßnahmen seien jedoch recht kostspielig: "Das kann man im Einzelfall schon machen, eine langfristige Lösung sehe ich darin aber nicht." Vielmehr müsse man die Flächen und die Wildtier-Populationen eben im wahrsten Sinne des Wortes managen, so Balkenhol: "Der Waldbau kann etwa dazu beitragen, dass Wildtiere genug Äsungsflächen für die Nahrungsaufnahme haben, sodass dadurch sensible Bereiche, in denen die Baumbestände verjüngt werden sollen, nicht so gefährdet sind."
Es braucht mehr Landschaften der Angst
Und auch bei der Jagd lohne es sich, in größeren Zusammenhängen zu denken, sagt Balkenhol.
Vielleicht geht es gar nicht darum, möglichst viel Strecke zu machen, also möglichst viele Tiere zu erlegen, sondern vielmehr darum, die Tiere in Zeit und Raum zu steuern.
In der Wissenschaft gebe es immer mehr Hinweise darauf, dass Wildtiere relativ schnell merken würden, wo Gefahr für sie bestünde und wo nicht. "Man spricht dann von der sogenannten 'Landschaft der Angst'. Das heißt, Tiere können assoziieren: Bei bestimmten Landschaftsparametern habe ich ein hohes Risiko, gejagt oder erlegt zu werden, und in anderen Bereichen kann ich mich relativ sicher fühlen. Das muss man in Zukunft viel mehr ausnutzen." Zur Frage, wie eine solche Steuerung von Wildtieren aussehen kann und welche Folgen sie hat, führen Balkenhol und seine Kolleg*innen immer wieder Untersuchungen durch.
"Wild ist unglaublich lernfähig"
Von ihrem Hochsitz im Erzgebirge aus hat Anna Kluger inzwischen ein zweites Reh erlegt. Dass das Wild feine Antennen für Gefahren hat, wie Niko Balkenhol sie bei seiner Erklärung einer "Landschaft der Angst" beschreibt, weiß auch sie – und handelt dementsprechend: Anstatt gleich nach dem erfolgreichen Schuss die Beute zu bergen, harrt sie auf dem Hochsitz aus. "Man sollte mindestens zehn Minuten bis hin zu einer Viertelstunde warten. Das Wild ist unglaublich lernfähig. Wenn ich jetzt zum Beispiel das Kitz einer Ricke geschossen habe und sofort vom Hochsitz krabbeln würde, kann es sein, dass die Ricke noch im Bestand steht, mich sieht und denkt: Aha, es hat geknallt und danach kommt ein Mensch, ich verbinde das Ganze ab sofort miteinander." Also heißt es: weiter ausharren. Noch ist das sogenannte Büchsenlicht ausreichend, sprich: Es ist noch hell genug, um zu schießen, und Anna Kluger hofft, vielleicht noch weitere Beute zu machen an diesem Abend.
Wie verlässlich sind Verbiss-Messungen?
Welche und wie viele Tiere Anna Kluger und ihre Jagdkolleg*innen schießen dürfen, wird auch anhand der Verbissschäden im jeweiligen Gebiet festgelegt. Dabei gilt hierzulande die Prämisse "Wald vor Wild", sprich: Die Gesunderhaltung des Waldes hat Vorrang vor dem Wohlergehen der Tiere. Doch nicht immer sind die erhobenen Angaben zu Verbissschäden wirklich verlässlich, gibt Wildtiermanagement-Forscher Niko Balkenhol zu bedenken:
Es gibt leider deutschlandweit keine richtig gute Standardisierung für die Verfahren, wie Verbissschäden festgestellt werden.
Oft werde einfach gutachterlich geschätzt. Oder es werde stichprobenartig an bestimmten Punkten geguckt, wie hoch der Verbiss-Prozent ist. "Aber auch das ist nicht wirklich fair. Denn wenn jetzt sehr viele Jungpflanzen hochkommen, von denen 80 Prozent verbissen sind, kann es trotzdem noch sein, dass genügend Bäume unverbissen geblieben und die waldbaulichen Ziele gar nicht gefährdet sind." Balkenhol plädiert deshalb dafür, die Rechnung eher andersherum aufzuziehen: "Andere Verfahren zählen, wie viele unverbissene Pflanzen oder Ziel-Baumarten es an den Stichproben-Punkten noch gibt. Und wenn diese Zahl erreicht wird, ist auch überhaupt kein Schaden vorhanden." Denn, gibt Balkenhol zu bedenken: Was als Schaden gewichtet werde und was nicht, sei ja eine rein menschengemachte Definition.
Es braucht mehr Wissenschaft und weniger Meinung
Auch jenseits der Erhebung von Verbiss-Schäden würde Niko Balkenhol sich eine engere Verzahnung der Jagdpraxis mit der Wissenschaft wünschen. Zwar gebe es immer mehr konstruktive Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren – etwa Forst- und Landwirtschaft, der Jägerschaft, Naturschutzverbänden und der Forschung –, doch es sei noch viel Luft nach oben: "Eine Erfolgskontrolle der Maßnahmen wäre wichtig. Wir machen hier in Deutschland vieles mal eben ad hoc, ohne zu überprüfen, was zum Erfolg geführt hat und was nicht. Im Moment haben wir immer nur ein Reagieren, basierend auf Meinungen und Erfahrungswerten – aber relativ wenig wissenschaftsbasiertes Handeln."
Jagd zwischen Dienstleistung und Trophäen-Schau
Die Jagd ist also ein Instrument von vielen zur Gesunderhaltung des Ökosystems Wald. Das sieht auch Jägerin Anna Kluger so. Sie hat an diesem Abend zwei Rehkitze und eine Ricke, also ein Muttertier, erlegt und zeigt sich zufrieden. Gleich wird sie sich mit ihren Mitjägerinnen und -Jägern treffen, um die Beute "aufzubrechen", sprich auszuweiden, und anschließend in die Kühlkammer zu bringen. Doch bei aller Freude, die ihr Abende wie diese bereiten, sieht sie ihre Rolle als Jägerin nüchtern.
Am Ende ist die Jagd eine Dienstleistung für den Forst oder die Landwirtschaft. Ich finde, das ist der erste Punkt, um den es geht – nicht um Trophäen oder tolle Erlebnisse.
micha72 am 14.09.2021
@mdr
Mag sein das ich zu hart schreibe. Allerdings sind die romantischen Vorstellungen von Wolf und Bär einfach nur unrealistisch. In unserer völlig zersiedelten Kulturlandschaft in einfach kein Platz mehr für Raubtiere. Hier leben 80 Millionen Menschen auf engem Raum. Von Orten und Straßen dominiert, von Flächen belegt die wir dringend für Nahrungsmittel und Rohstoffe brauchen. Man kann gerne romantische und idealistische Vorstellungen von Wald und Flur haben, aber in Realität möchte jeder Bürger Bauholz und Brot zu jeder Zeit kaufen können. Wenn die Medien dann diese Romantik und falsche Tierliebe noch befeuern und Forstwirtschaft, Jagdwirtschaft und Landwirtschaft gern negativ darstellen ist das eben unrealistisch. Oder ist es ehrlich unsere Wald und Flur zu Reservaten zu machen und die trotzdem notwendigen Rohstoffe aus Osteuropa zu importieren und deren Natur intensiv zu nutzen? Dieser Post gilt auch für oben.
MDR-Team am 14.09.2021
@micha72,
pauschale Behauptungen wie "Typische Argumente einer naturfernen Bevölkerung die Natur, Forst und Landwirtschaft nur aus dem TV kennt" tragen nicht zu einer konstruktiven Diskussion bei.
MDR-Team am 14.09.2021
@micha72,
man kann bei diesem Thema ganz unterschiedlicher Meinung sein, dennoch möchten wir um Sachlichkeit bitten. Zudem wäre es im Sinne eines konstruktiven Austauschs von Vorteil, wenn Sie Aussagen wie "da liegen Sie leider völlig falsch" auch begründen/belegen würden.