Auf einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung steht die Diagnose Long Covid
Die Quote, wie viele Menschen nach einer Covid-19-Infektion auch an Long-Covid erkranken, wird laut einer neuen Studie vielfach überschätzt. Bildrechte: IMAGO/Sven Simon

Covid-19 Kritik an Studien: Risiko von Long-Covid wird wohl häufig überschätzt

26. September 2023, 06:43 Uhr

Eine neue Analyse für das British Medical Journal kritisiert zahlreiche Studien zu Long Covid. Aufgrund fehlender Kontrollgruppen und mangelhafter Definitionen werde das Risiko von Long Covid wohl häufig überschätzt. Dem stimmen auch deutsche Medizinerinnen und Mediziner zu.

Autorenfoto von Clemens Haug
Bildrechte: Tobias Thiergen/MDR

Es ist eine echte Horrorvorstellung: Jemand steckt sich mit einem Virus an und wird krank. Dann heilt die Infektion zwar aus, aber es treten plötzlich neue Symptome auf und schränken das eigene Leben für Monate ein. Manchmal klingen diese Symptome dann nach vielen Wochen ab. Bei einigen halten sie aber auch Jahre an. Im Fall von Corona haben sich für dieses Bild die Begriffe "Long-" und "Post-Covid-Condition" eingebürgert. Unklar ist aber, wie viele Menschen tatsächlich daran erkrankt sind, beziehungsweise noch erkranken.

Metastudien zu Long Covid lassen oft Kontrollgruppen vermissen

Sind es seit der Omikron-Variante vier Prozent der Infizierten, wie es britische Zahlen aus dem Frühjahr 2022 nahegelegt haben? Sind es doch deutlich mehr, über 10 Prozent, wie diese Studie aus den USA im Mai 2023 vermutet? Oder wird die Zahl der Long-Covid-Fälle aufgrund von methodischen Schwächen vieler Studien deutlich überschätzt?

Dass es möglicherweise deutlich weniger Long-Covid-Betroffene gibt, argumentiert nun ein Team von Forschenden um den US-Onkologen Vinay Prasad im Journal "BMJ Evidence-Based Medicine". Die Wissenschaftler haben eine Reihe von Studien zu Long Covid begutachtet und dabei einige systematische Mängel festgestellt. Demnach fehlten in vielen Untersuchungen repräsentativ ausgewählte Kontrollgruppen ohne Corona-Erkrankung, um seriös vergleichen zu können: Wie viele gemeldete Dauersymptome treten wirklich zusätzlich auf nach einer Covid-19-Infektion – und wie oft ist es vielleicht auch ein anderer Grund?

Long- oder Post-Covid: Viele nutzen unterschiedliche Definitionen

Exemplarisch dafür ist laut Prasad und Kollegen eine in "The Lancet" erschienene Metastudie vom Dezember 2022. Von den darin betrachteten 194 Studien zu Long Covid hatten nur 22 Untersuchungen auch eine Kontrollgruppe eingeschlossen. Beschränkt man die Analyse der Daten nun auf diese Studien mit Kontrollgruppe, so sind bei Kindern innerhalb von vier Wochen nach der Infektion und bei Erwachsenen innerhalb von 12 Wochen nach der Infektion praktisch kaum Unterschiede bei der Häufigkeit von Symptomen auszumachen.

Vor allem zu Beginn der Pandemie gab es starke Verzerrungen bei der Auswahl der betrachteten Fälle. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass viele Patienten mit milden oder keinen Symptomen übersehen worden sind, während durch einen starken Fokus auf schwer erkrankte Patientinnen und Patienten die Zahl der Folgeerkrankungen wohl zu hoch angesetzt wurde. Zudem sind oft die Definitionen nicht einheitlich. US-Behörden wie die CDC beispielsweise definieren Long Covid als Symptome, die bis zu drei Monate nach einer Infektion auftreten. Ist jemand noch länger krank, wird dies als Post-Covid-Kondition eingestuft. Andere Stellen dagegen nutzen eine viel weitere Definition von Long Covid, unter die dann alle anhaltenden Symptome nach einer Erkrankung gefasst werden.

Long-Covid-Forschung aus Jena: Fünf bis sechs Prozent Long-Covid vor Omikron

Die Autoren des Papiers wollen vor allem die wissenschaftliche Gemeinschaft zu mehr Gründlichkeit bei der Forschung zu Long Covid bewegen. Dass das notwendig ist, sehen auch viele deutsche Forschende so, die nicht an dem Aufsatz beteiligt waren. Andreas Stallmach etwa, Leiter des Long-COVID-Zentrums an der Uni Jena, stimmt teilweise zu, dass die Häufigkeit von Long-Covid mitunter überschätzt wird. Viele Studien sind etwa sehr uneinheitlich darin, wie repräsentativ ihre Aussagen in Bezug auf die Gesamtgesellschaft sind.

Die Jenaer Forscher selbst griffen für ihre Arbeit zu Long Covid zwischen März 2020 und September 2021 auf alle Coronafälle zu, die den Gesundheitsämtern in Thüringen gemeldet wurden. Auf dieser Basis schätzen Stallmach und Kollegen: "Wir gehen von fünf bis sechs Prozent aus; dies deckt sich mit den Häufigkeiten, die vom Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung angegeben werden." Der Zeitraum dieser Untersuchung deckt allerdings nicht mehr die heute dominierenden Omikron-Versionen von Corona ab. Diese verlaufen deutlich milder und ziehen bisherigen Erkenntnissen zufolge auch weniger Langzeiterkrankungen nach sich.

Post-Covid ist kein Hirngespinst – die präsentierten Zahlen aber oft zu hoch

Auch Clara Lehmann von der Post-Covid-Ambulanz am Universitätsklinikum in Köln sieht viele Schwächen bei den bisherigen Untersuchungen. Allerdings heißt das nicht, dass es keine Langzeit-Erkrankungen nach Corona gibt. "Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Long oder Post COVID kein Hirngespinst ist. Bei einigen Patienten sehen wir auch mehrere Wochen nach der Infektion krasse inflammatorische Reaktionen. Doch dies trifft nicht auf das Gros der Patienten zu."

Dietrich Rothenbacher von der Ulmer Uniklinik geht wie sein Kollege in Jena von etwa 6,5 Prozent der Patienten aus, die sechs bis zwölf Monate nach einer durch Labore bestätigten Infektion an Post-Covid leiden. Er schließt daraus: "Die derzeit präsentierten Zahlen sind wohl allgemein zu hoch und nicht nur auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen."

(mit SMC)

Mehr zum Thema

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | SACHSENSPIEGEL | 09. Dezember 2022 | 19:00 Uhr

18 Kommentare

Stealer am 29.09.2023

@Lumberjack: Fragwürdige (bzw. unsinnige oder gar schädliche) Mittel zu verkaufen bzw. dafür zu werben, Blogs und Youtube-Kanäle (o.ä.) mit sensationslüsternen aber abstrusen Thesen zu betreiben, Verdienen an "Spenden" und Merchandise, Versuche mit dem Thema in die Parlamente (i.e. Fleischtöpfe) zu kommen... gibt schon einiges. Wie der Gewinn genau ist, wissen nur die Betreffenden - wird aber schon etwas sein, sonst würde man es nicht machen.

Sicherlich gibt es auch die dubiosen Masken-Deals einiger Politiker und natürlich auch mehr Masken aus Ostasien allgemein, wobei dort das Tragen bei Erkältungssymptomen oder zum Schutz vor Grippe schon vor CoVid verbreitet war.

Die Pharma-Unternehmen haben natürlich auch kräftig verdient. Die eher unverhofften Gewinne (Impfstoffforschung etwa mit mRNA gab es auch schon vorher) werden, da sie kurzfristig sind, aber auch etwa bei Biontec für die weitere Forschung an Krebsmedikamenten verwendet, sozusagen als finanzieller Boost.

Stealer am 29.09.2023

@Taf73: Sicherlich weiß ich, was Ribonukleinsäure ist und welche Funktionen sie in der Zelle (oder Vorgänge, falls es sich um RNA-Viren handelt) hat - sonst wäre ich durch einige Prüfungen gerauscht.

Ich wüsste jetzt nicht, was eine "Verunreinigung mit DNA", wenn es sie denn gibt, Problematisches hervorrufen sollte. Bezüglich Nebenwirkungen: Impfungen sind keine Hustenbonbons. Mir ist keine Impfung bekannt, bei der es nicht Nebenwirkungen gibt - und das ist bei verschreibungspflichtigen Medikamenten nicht anders. Man muss sich nur einmal den Beipackzettel anschauen. Und auch dieser muss ständig aktualisiert werden - selbiges findet bei Impfungen statt. Es ist praktisch unmöglich, alle Risikogruppen und Wechselwirkungen bereits bei der Einführung zu erkennen und -fassen. Das ist weder neu noch eine Sensation oder ein Eklat. Und die Fälle SIND selten.

Wie dem auch sei, hier geht es um wissenschaftliche Zweifel an einer Folgeschädigung der CoVid-Erkrankung.

Und 3 identische Posts? Hm.

MDR-Team am 28.09.2023

@klaus.kleiner80
Die Impfung schützt auch gegen Long Covid, wenn auch nur moderat (https://www.mdr.de/wissen/corona-long-covid-impfung-schutz-nur-moderat-100.html). Dort finden Sie auch Prozentzahlen zu den Geimpften, allerdings nur zu den USA.
LG, das MDR-Wissen-Team