6. Deutschlandbarometer Depression Depressionen: Menschen suchen sich erst nach 20 Monaten Hilfe
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09. November 2022, 10:08 Uhr
Menschen mit Depressionen suchen sich laut einer Studie erst nach knapp zwei Jahren Hilfe. Addiert mit den Wartezeiten für eine Therapie erhöht diese die Suizidgefahr, warnt die Deutsche Depressionshilfe.
Antriebslosigkeit, Traurigkeit, innere Unruhe – Menschen mit Depressionen warten knapp zwei Jahre, ehe sie sich um einen Termin bei einem Therapeuten kümmern. Hinzu kommen lange Wartezeiten bei Fachärzten und Psychotherapeuten. Diese verzögerte Behandlung erhöht die Suizidgefahr. Das ist das Ergebnis des "6. Deutschland-Barometer Depression" der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.
"Die Depression ist eine schwere, oft auch lebensbedrohliche Erkrankung. Dass ein großer Teil der Betroffenen Monate oder sogar Jahre braucht, um sich Hilfe zu suchen, ist besorgniserregend", erklärt Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Gründe für die verzögerte Behandlung sieht Hegerl einerseits in der krankheitsbedingten Antriebslosigkeit, andererseits aber auch in Versorgungsengpässen und im Stigma der Krankheit.
Die Depression ist eine schwere, oft auch lebensbedrohliche Erkrankung. Dass ein großer Teil der Betroffenen Monate oder sogar Jahre braucht, um sich Hilfe zu suchen, ist besorgniserregend.
Über alle befragten Betroffenen hinweg dauerte es durchschnittlich 20 Monate, bis sich Menschen mit Depression Hilfe suchen. Dabei gibt es laut Hegerl große Unterschiede. "Ein Drittel aller Betroffenen sucht sich sofort Hilfe. Bei 65 Prozent der Befragten hat es länger gedauert, bis sie professionelle Unterstützung in Anspruch genommen haben, durchschnittlich sogar zweieinhalb Jahre."
Über 5.000 Personen wurden befragt
Das Deutschland-Barometer Depression untersucht jährlich Einstellungen und Erfahrungen zur Depression in der erwachsenen Bevölkerung, in diesem Jahr insbesondere die Behandlungssituation. Befragt wurde im September 2022 ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt aus 5.050 Personen zwischen 18 und 69 Jahren. Die Studie wird gefördert von der Deutsche Bahn Stiftung gGmbH.
Viele gehen über den Hausarzt
Wenn sich die Betroffenen Hilfe suchen, wenden sie sich laut der Studie mehrheitlich zunächst an den Hausarzt (51 Prozent). Jeder vierte Patient (25 Prozent) geht direkt zum Facharzt und 19 Prozent als erstes zum Psychotherapeuten. Heilpraktiker geben laut Studie nur 0,7 Prozent der Befragten mit Depression als erste Anlaufstelle an.
Langes Warten: Zehn Wochen bis zum Erstgespräch
In der Befragung berichten die Betroffenen rückblickend jedoch von wochenlangen Wartezeiten, ehe eine Behandlung beginnen konnte. So gaben die Betroffenen an, im Schnitt zehn Wochen auf ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten gewartet zu haben, bei Fachärzten im Schnitt acht Wochen. Durchschnittlich fünf Therapeuten mussten die Betroffenen nach eigener Erinnerung kontaktieren, ehe sie einen Termin bekamen. "Bei einer so leidvollen Erkrankung wie der Depression, die zudem mit hoher Suizidgefährdung einhergeht, sind so lange Wartezeiten nicht akzeptabel", sagt Hegerl.
Bei einer so leidvollen Erkrankung wie der Depression, die zudem mit hoher Suizidgefährdung einhergeht, sind so lange Wartezeiten nicht akzeptabel.
Mehrheit der Patienten empfindet Therapie als hilfreich
Bei der Behandlung von Depressionen sind gemäß der Nationalen Versorgungsleitlinie die Psychotherapie und gegebenenfalls Medikamente die beiden wichtigsten Behandlungssäulen. Von den aktuell in der Studie erkrankten Befragten, bekommen 62 Prozent Medikamente und 48 Prozent Psychotherapie, 35 Prozent erhalten eine Kombination aus beidem. "Dabei erleben die Betroffenen beides als wirksam: Psychotherapie empfinden 85 Prozent der befragten Depressionspatienten als 'hilfreich' oder 'eher hilfreich', bei Medikamenten sind es 80 Prozent", erklärt Hegerl.
Psychotherapie empfinden 85 Prozent der befragten Depressionspatienten als 'hilfreich' oder 'eher hilfreich'.
Viele Betroffene empfinden Behandlungsangebote als "Dschungel"
Ein weiterer interessanter Aspekt wurde in der Studie deutlich. Die Mehrheit der Betroffenen (68 Prozent) empfand den Angebotsmix aus leitlinienkonformen und alternativen Behandlungen als "Dschungel“, in dem es schwer sei, einen Überblick zu bekommen. Weitere Aufklärungsarbeit ist deshalb nötig. Nur sieben Prozent der Befragten nutzen digitale Therapieangebote, gut ein Viertel (26 Prozent) der Betroffenen hatte zudem noch nie davon gehört, dass es diese digitalen Gesundheitsanwendungen überhaupt gibt.
Kleiner Anteil der Betroffenen nutzt Alternative Medizin
Laut der Studie nutzen neun Prozent der Befragten nicht-evidenzbasierte Verfahren wie Homöopathie, Heilsteine oder Darmreinigung und geben dafür jährlich im Schnitt 227 Euro aus. Als Hauptgrund wird genannt, selbst etwas zu der Behandlung beitragen zu wollen (57 Prozent), aber auch lange Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz oder Zweifel an der Schulmedizin spielen eine Rolle (je 19 Prozent). Insgesamt ist den Befragten wichtig, dass es für den gewählten Behandlungsweg wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege (Evidenz) gibt. So gaben 78 Prozent der Befragten mit Depression an, dass ihnen diese wissenschaftlichen Belege bei der Wahl der Behandlung wichtig seien.
"Es gibt einen großen Markt an Verfahren, die große Versprechen zur Genesung machen und viel Geld kosten. Ich kann Patienten nur empfehlen, sich in den Nationalen Versorgungsleitlinien Depression zu informieren. Dort sind alle Verfahren, die ausreichende wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege haben, aufgeführt. Die Behandlung mit diesen Verfahren wird in den allermeisten Fällen von den Krankenkassen getragen", sagte Ulrich Hegerl.
Informations- und Hilfsangebote für Menschen mit Depression
• Wissen, Selbsttest und Adressen zu Depression unter www.deutsche-depressionshilfe.de
• deutschlandweites Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
• kostenfreies Online-Programm für Menschen mit leichteren Depressionsformen in 15 Sprachen (u.a. Ukrainisch und Arabisch): https://tool.ifightdepression.com
• fachlich moderierte Online-Foren zum Erfahrungsaustausch für Erwachsene www.diskussionsforum-depression.de und junge Menschen ab 14 Jahren www.fideo.de
Anmerkung zur Berichterstattung über Selbsttötung
Eine Berichterstattung zum Thema Suizid findet bei mdr.de aufgrund der hohen Nachahmungsquote nur in Ausnahmefällen und nach den Richtlinien des Pressekodex statt.
Sie haben Selbsttötungsgedanken oder durchleben gerade eine persönlichen Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen rund um die Uhr: 0800 1110111 und 0800 1110222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf.
Auf der Webseite www.telefonseelsorge.de finden Sie weitere Hilfsangebote, zum Beispiel per E-Mail oder im Chat.
(tom)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 08. November 2022 | 12:00 Uhr
MDR-Team am 09.11.2022
Können Sie bitte noch einmal einordnen bzw. erklären, woher Sie diese Aussage haben: "Als sicher gilt, dass die "Corona-Maßnahmen" das Problem der psychische Störungen und Verhaltensstörungen massiv verstärkt haben und genau deswegen wurde ja die Kampagne gestartet."
Lumberjack am 08.11.2022
Danke MDR-Team.
"Psychische Probleme sind mittlerweile der zweithäufigste Krankheitsgrund in Deutschland. ... Die Corona-Pandemie bringt für viele Menschen zusätzliche Belastungen im Alltag mit sich. Gerade in dieser Zeit sei es wichtig, mit Aufklärungsarbeit und Unterstützungsangeboten für psychische Gesundheit zu sensibilisieren und einen frühen Zugang zu Hilfe zu erleichtern, betonte Bundesminister Spahn" (bundestag.de 5. Oktober 2020)
Vielleicht kann man den Vergleich am Budget bzw. den Kosten für die Prävention verdeutlichen? Ich finde dazu keine seriösen Angaben. Als sicher gilt, dass die "Corona-Maßnahmen" das Problem der psychische Störungen und Verhaltensstörungen massiv verstärkt haben und genau deswegen wurde ja die Kampagne gestartet.
MDR-Team am 08.11.2022
Hallo Lumberjack,
seit der Corona-Pandemie liegt der Fokus etwas verstärkter auf den Thema psychische Gesundheit. Seit 2020 gibt es von der Bundesregierung z.B. die "Offensive Psychische Gesundheit". Mehr Informationen dazu erhalten Sie auf den Internetseiten des BMG und des BMFSFJ.