Demonstranten entrollen eine Regenbogenflagge während der Frauendemonstration.
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Aktuelle Studie zu globaler Wertedivergenz Globale Werte verändern sich: Rückt die Menschheit auseinander?

19. April 2024, 15:32 Uhr

Ob sich kulturelle Normen und Werte im Zuge der Globalisierung angleichen oder auseinandergehen, ist Gegenstand von Debatten in den Sozialwissenschaften. Eine aktuelle Studie legt nun nahe, dass letzteres vorherrschen könnte.

In den vergangenen 40 Jahren haben sich die Werte in vielen Ländern global eher auseinanderentwickelt als angeglichen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie, die von 1981 bis 2022 sieben repräsentative Umfragen für 76 Länder ausgewertet hat. Menschen aus wohlhabenden westlichen Ländern und Menschen aus anderen Teilen der Welt unterscheiden sich der Studie zufolge besonders im Hinblick auf geteilte emanzipatorische Werte wie zum Beispiel Toleranz und Selbstentfaltung. Dabei zeigen die Ergebnisse auch, dass diese Werte nicht zwangsläufig mit steigendem wirtschaftlichem Wohlstand gekoppelt sind. Insbesondere in asiatischen und afrikanischen Ländern sind emanzipatorische Werte mittlerweile deutlich weniger stark ausgeprägt als in westlichen Ländern.

Die Grafik zeigt, wie sich der Mittelwert emanzipatorischer Werte in den vergangenen Jahren auf diversen Kontinenten verändert hat.
Die Grafik zeigt, wie sich der Mittelwert emanzipatorischer Werte in den vergangenen Jahren auf diversen Kontinenten verändert hat. Von 1981 bis 2022 wurden sieben repräsentative Umfragen für 76 Länder ausgewertet (siehe x-Achse). Bildrechte: Springer Nature/ MDR/ Sophie Mildner

Ein Beispiel: Müssen Kinder "gehorsam" sein?

Ein Beispiel für die Abfrage von Werten innerhalb der Studie ist die Frage nach Gehorsamkeit in der Kindererziehung: 1981 erklärten noch 39 Prozent der Menschen in Australien und 32 Prozent der Pakistanerinnen und Pakistaner, Gehorsam habe in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung. 2022 stimmten dem nur noch 18 Prozent der Australier, aber 49 Prozent der Pakistanis zu. Auch bei Themen wie Migration, Religion, technologischem Wandel sowie Einstellungen gegenüber Homosexualität und Abtreibungen gingen die Ansichten zwischen den Kulturzonen der Welt stärker auseinander.

Globales Auseinandertriften, regionale Annäherung

Das zunehmende Auseinandergehen von Werten könnte Konsequenzen für Polarisierung und politische Konflikte haben, vermuten die Autorinnen und Autoren der aktuellen Studie. Außerdem zeigte sich in den Umfragen in Asien, Afrika und dem Mittleren Osten zunehmend eine ablehnende Haltung gegenüber westlichen Ländern. Inwiefern diese Haltung mit Werteorientierungen zusammenhängt, steht aber noch nicht fest. Ein starker Prädiktor für ähnliche Werte ist allerdings die räumliche Nähe von Nationen: Wenn Länder in der gleichen Region liegen, haben sie eher ähnliche Werte entwickelt. Das war in der Studie ein besserer Indikator für Werte als beispielsweise ein ähnliches Pro-Kopf-BIP. Emanzipatorische Werte seien global zwar divergiert, regional aber konvergiert, so das Fazit der Forschenden in der aktuellen Studie im Journal nature communications.

Wie sich kulturelle Normen in einer immer stärker globalisierten Welt wandeln, ist seit langem Gegenstand von Debatten in den Sozialwissenschaften. Einige Forschende prognostizierten bislang, dass sich nationale Kulturen immer stärker annähern, indem sie die sozialen Werte westlicher Demokratien übernehmen, andere vermuteten, dass kulturelle Werteunterschiede bestehen bleiben oder sich im Laufe der Zeit sogar verstärken könnten. Die aktuelle Studie scheint nun letzteren Recht zu geben, aber es gibt auch Kritik an der Methodik.

Kritik an der Übertragbarkeit des Messinstrumentes

Der Sozialpsychologe Eldad Davidov warnt davor, die Studie in ihrer Aussagekraft zu überschätzen. Die in der Studie getroffenen Vergleiche seien riskant, insbesondere, wenn sie über einen längeren Zeitraum und zwischen Ländern und verschiedenen Sprachen durchgeführt würden. Die Studie habe nicht geprüft, ob der verwendete Fragebogen tatsächlich in allen Ländern gleichermaßen misst. Ohne eine solche Messäquivalenz könne man nicht sicher sein, ob tatsächlich echte Unterschiede existieren. Auch der Sozialwissenschaftler Roland Verwiebe sieht hier ein Manko der Studie: "Man kann sich bei der Verwendung solcher ländervergleichender Umfragedaten […] immer fragen, wie sehr sich die Messbedingungen in Ruanda, Ägypten, Finnland, Kanada oder Deutschland ähneln. Ich sehe diesbezüglich Einschränkungen, was die Vergleichbarkeit der Daten betrifft, zumal einige der gemessenen Variablen kulturell sehr unterschiedlich konnotiert sein dürften".

Werte dürfen nicht mit Einstellungen und Meinungen verwechselt werden

Aus der Sicht von Eldad Davidov hat die Studie zudem ohnehin eher Einstellungen, Meinungen und Verhalten erfasst, betont der Kölner Sozialpychologe: "Wir sprechen oft gerne über Werte, beziehen uns dabei aber eigentlich auf Einstellungen oder Meinungen. Sie sind auch wichtig, aber aus meiner Sicht keine fundamentalen Grundwerte. Selbst wenn tatsächlich Einstellungen oder Verhalten gemessen werden, verringert dies nicht die Relevanz der Arbeit. Das macht die Ergebnisse meiner Meinung nach nur weniger überraschend. Denn Einstellungen und Verhalten lassen sich leichter ändern als grundlegendere Werte."

Links/Studien

Die aktuelle Studie "Worldwide divergence of values" im Journal nature communications kann hier nachgelesen werden.

Iz mit dpa und SMC

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