Sammelbild-Verhalten Babys bis es klappt: Eltern wollen Jungen und Mädchen
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11. August 2020, 06:00 Uhr
Man kennt es zum Beispiel von Fußball-Weltmeisterschaften: Da gibt es dieses Sammelalbum mit den Aufklebern der Spieler. Und wer da einmal angefangen hat, möchte gerne alle haben. So ähnlich verhalten sich auch manche Eltern beim Kinderkriegen, konnten Wissenschaftler jetzt feststellen. Die bekommen so lange Nachwuchs, bis endlich mindestens ein männliches und ein weibliches Kind dabei ist.
Dieses eine Paar kennen wir vermutlich alle: Ist das erste Kind ein Junge, muss das zweite unbedingt ein Mädchen werden. Denn man will ja beide Geschlechter haben, sonst ist die Sache mit dem Kinderkriegen irgendwie nicht ganz "vollständig". Und wenn das zweite Kind auch ein Junge ist, dann kommt bei manch einem eben noch ein drittes, viertes, fünftes - bis es eben klappt mit dem anderen Geschlecht.
"Sammelbild-Verhalten" wissenschaftlich nachweisbar
Forschende sprechen hier vom "Sammelbild-Effekt" - wie beim Stickeralbum, das voll werden muss, müssen hier eben beide Geschlechter her. Denn tatsächlich handelt es sich hier nicht nur um anekdotische Evidenz (auch als Hörensagen bekannt), sondern dieses Verhalten lässt sich wissenschaftlich belegen - insbesondere in Europa.
Biologen der University of Michigan haben sich das Phänomen genauer angeschaut. Und sie sagen: Das "Sammelbild-Verhalten" sei erst in den vergangenen Jahrzehnten populärer geworden und es sorge für weniger Unterschiede im Geschlechterverhältnis zwischen Familien. Ihre Untersuchung ist in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlich worden.
Das Letztgeborene ist anders
Für ihre Untersuchung haben die Biologen die Geschwister-Daten von rund 300.000 Britinnen und Briten ausgewertet. Dabei stellten sie fest, dass sich deutlich mehr Familien fanden als erwartet, bei denen die Kinder das gleiche Geschlecht hatten - mit Ausnahme des letztgeborenen Babys. Je aktueller die Daten, desto ausgeprägter sei dieser Trend zu erkennen, schreiben sie. Grund dafür könnte die zunehmende Gleichstellung von Mädchen und Jungen in der Gesellschaft sein, mutmaßen die Evolutionsbiologen.
Wir glauben, dass das Sammelbild-Verhalten nur dann populär wird, wenn Töchter und Söhne einen ähnlichen Nutzen für Familien haben. Und das würde eine gesellschaftsweite Verbesserung der Gleichstellung der Geschlechter und die Wertschätzung der Geschlechterdiversität erfordern.
Ein europäischer "Trend"
Ihre Analysedaten haben die Evolutionsbiologen aus einer britischen Datenbank, in der genetische, gesundheitliche und familiäre Informationen zahlreicher Freiwilliger aus Großbritannien verzeichnet sind. Die meisten von Ihnen wurden zwischen 1940 und 1970 geboren. Ausgehend vom Verhältnis Jungen-zu-Mädchen in den Familien sei bei 3,3 Prozent der Eltern davon auszugehen, dass sie ein Sammelbild-Verhalten gezeigt hätten, so die Forschenden. Allerdings sei das eine konservative Einschätzung und die Dunkelziffer vermutlich höher.
Die Evolutionsbiologen wollten daraufhin wissen, ob das nur ein britisches Phänomen gewesen ist. Doch die Hypothese stehe im Einklang mit anderen Studien, in denen Europäerinnen und Europäer in Interviews selbst angegeben hatten, sich Kinder beiderlei Geschlechts zu wünschen. Außerdem gebe es Beobachtungen aus Dänemark, Schweden und Finnland, die zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Mutter ein drittes Kind bekommt, höher ist, wenn die beiden ersten Kinder das gleiche Geschlecht hätten.
Noch junges Phänomen
Anschließend wollten die Forschenden herausfinden, ob es dieses Sammelbild-Verhalten einfach immer schon gab. Deshalb haben sie auch eine Stammbaum-basierte genealogische Datenbank mit den Daten von 241.000 niederländischen Familien untersucht, die über vier Jahrhunderte reicht. Darin seien auch die Zahlen und Geschlechter der Kinder jeder Familie verzeichnet.
Das Ergebnis: Das Geschlechterverhältnis bei den Kindern sei über weite Teile der Historie unausgeglichen gewesen. Erst nach 1940 seien die Schwankungen des Geschlechterverhältnisses weniger geworden, konstatieren die Forschenden. Die niederländischen Daten hätten "einen tiefgreifenden Unterschied in der familiären Variation" des Geschlechterverhältnisses nach 1940 im Vergleich zu den vorangegangen drei, vier Jahrhunderten gezeigt, schreiben sie.
Die Analyse der niederländischen Daten bestätigt somit die Ergebnisse der britischen Biobank und legt nahe, dass das Sammelbild-Fortpflanzungsverhalten ein relativ junges Phänomen ist.
Die Publikation der US-Evolutionsbiologen können Sie hier nachlesen.
(kie)