Eltern Zwangsstörungen bei jungen Müttern häufiger als gedacht
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27. März 2021, 12:00 Uhr
Eine kanadische Studie zeigt, dass Zwangsstörungen bei werdenden und frischgebackenen Müttern häufiger sind, als bisher angenommen. Sie sollen durch neue Methoden besser erkannt werden.
Ein Baby ist unterwegs – Grund zur Freude. Doch nicht nur die empfinden werdende und frischgebackene Mütter, sondern auch eine ganze Menge Sorgen und Ängste. Und manchmal gehören sogar Zwangsstörungen dazu. Tatsächlich sind diese vor und nach der Geburt eines Kindes gar nicht so selten, wie bisher angenommen. Das zeigte jetzt eine neue Studie der University of British Columbia, der University of Victoria, des Women’s Health Research Institute und des King’s College London, die im Journal of Clinical Psychatrie veröffentlicht wurde. Die Forschenden fanden heraus, dass Frauen in dieser ohnehin aufwühlenden Zeit öfter zu Zwangsgedanken und Zwangshandlungen neigen.
Man will es nicht und tut es doch
Bei Zwangsgedanken handelt es sich um aufdringliche Gedanken, Bilder oder Impulse. Diese beschäftigen sich häufig damit, dem eigenen Kind auf irgendeine Weise zu schaden. Etwa, wie leicht es passieren könnte, das Kind zu verletzen, wenn man gerade beim Kochen mit einem scharfen Küchenmesser hantiert. Oder was passieren würde, wenn man jetzt mit dem Kind auf dem Arm die Treppe hinunterfällt. Die Szenarien sind mannigfaltig und ploppen immer wieder auf. Sie können aus einer Angst heraus resultieren, dass dem eigenen Kind etwas passiert. Daraus können dann Zwangshandlungen entstehen, die die Mütter durchführen, um die Spannung abzubauen, erklärt Prof. Dr. med. Christine Rummel-Kluge von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig.
Die Handlung dient quasi dazu, die Angst abzubauen. Wenn sie Angst vor Kontaminationen haben, wäre die Zwangshandlung wiederholtes, übertriebenes Bodenwischen und Desinfizieren, damit alle Keime weg sind und nichts gefährliches mehr für das Kind da ist.
Langer Weg bis zur Behandlung
Doch diese Zwangsstörungen festzustellen, ist gar nicht so einfach. In die Sprechstunden der Ambulanz für Zwangs-und Angststörungen an der Uniklinik Leipzig kommen laut Rummel-Kluge vor allem Frauen, die auch schon vorher eine Zwangsstörung hatten oder deren Symptome noch nicht eingeordnet werden können. Auch in die Eltern-Kind-Sprechstunde kommen oft Frauen, deren Symptome zunächst noch unklar sind und z.B. für eine Depression gehalten werden, wobei dahinter aber tatsächlich oft Zwangssymptome vorliegen. Doch bis zur Behandlung ist es oft ein langer Weg.
Zwangsgedanken sind sehr schambesetzt. Das ist die psychische Erkrankung, bei der es am längsten dauert, bis sich die Leute in Behandlung begeben. Die Leute bekommen es im beruflichen Kontext oft noch irgendwie hin damit umzugehen. Im Schnitt dauert es über zehn Jahre, bis sich Menschen mit einer Zwangserkrankung in Behandlung begeben.
Umso wichtiger ist es, dass Zwangsgedanken und -handlungen möglichst früh als solche identifiziert werden. Bleiben sie unentdeckt, können sie die Elternschaft, Beziehungen und den Alltag stark belasten. Rummel-Kluge hält es daher für sehr wichtig, dass pflegende Personen, die mit den Müttern in einem engeren Kontakt sind, also Krankenhauspersonal, Frauenärzte und vor allem die Hebammen stärker zu diesem Thema geschult und sensibilisiert werden.
Gezielt nachfragen
Auch Dr. Nichole Fairbrother von der University of British Columbia hält das für sehr wichtig. Aber sie sieht auch noch ein Problem in der bisherigen Methodik Zwangsstörungen zu entdecken.
Was jetzt wirklich wichtig ist, ist dass wir bei den Frauen durch gezielte Fragen und Beurteilungsmethoden nach Zwangsstörungen suchen. Es ist wichtig, dass wir fragen, ob vermehrt Gedanken aufgetreten sind, dem Kind zu schaden. So stellen wir sicher, dass Frauen, die an einer Zwangsstörung leiden, nicht übersehen werden und adäquat behandelt werden können.
Die Studie ist eine der ersten, die mit den aktualisierten Diagnosekriterien für Zwangsstörungen durchgeführt wurde. Dabei handelt es sich um die fünfte Auflage des "Diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen", der in den USA eine zentrale Rolle bei der Definition psychischer Erkrankungen spielt.
Die Ergebnisse waren überraschend. So wurde gezeigt, dass acht Prozent der Frauen während ihrer Schwangerschaft Symptome hatten, die auf eine solche Zwangsstörung hindeuten. 16,9 Prozent entwickelten diese Symptome in den 38 Wochen nach der Geburt des Kindes. Das ist ein enormer Anstieg, wenn man bedenkt, dass frühere Studien davon ausgingen, dass nur 2,2 Prozent der Frauen während der Schwangerschaft und nach der Geburt derartige Symptome entwickelten. Für die Forschenden sind die gezielten, sehr spezifischen Fragen Ursache für diese Ergebnisse. Bisher schienen sich junge Mütter in den Screening-Fragen für Zwangsstörungen nicht wirklich wiederzufinden.
Die traditionellen Fragen sind auf eine Weise formuliert, die den Frauen nicht wirklich hilft, eine Verbindung zu belastenden, aufdringlichen Gedanken in Bezug auf ihr Kind herzustellen. Finden sie ihre eigenen Erfahrungen in den Fragen nicht wieder, werden sie möglicherweise auch nicht darüber berichten.
Fragt man die Frauen aber direkt, ob sie daran denken, ihrem Kind irgendwie zu schaden, sind die Forschenden besser in der Lage, Symptome aufzudecken.
Zeitlich eingrenzbar
Die Studie zeigt auch, dass die Zwangsstörung bei neun Prozent der frischgebackenen Mütter etwa in der achten Woche nach der Entbindung ihren Höhepunkt hatte. Die Daten deuten darauf hin, dass sich die Zwangsstörung bei einigen Müttern von allein wieder auflöst, sobald sie sich an ihre neue Rolle gewöhnt hatten. Bei anderen allerdings blieb sie bestehen. Hier wäre eine weitere Behandlung nötig. Wichtig ist es, dass den Frauen überhaupt eine Möglichkeit gegeben wird zu registrieren, dass derartige Gedanken vorkommen und eben Folge einer Zwangsstörung sein können.
Wenn Mütter derartige Gedanken haben, denken sie 'mit mir stimmt etwas nicht und ich kann es niemandem sagen, weil es schreckliche Konsequenzen für mich und mein Baby haben könnte'.
Laut Rummel-Kluge sind Mütter mit Zwangsgedanken aber tatsächlich keine Gefahr für ihre Kinder.
Ich habe es noch nie erlebt, dass eine Mutter, die Zwangsgedanken hat, dass sie ihr Kind verletzen könnte, das auch wirklich tut. Das passiert de facto nie. Wenn ich das in der Sprechstunde sage, ist es auch enorm entlastend für die Patientinnen selbst.
Wichtig ist auch zu wissen, dass solche Gedanken bei vielen Frauen nach der Geburt auftreten. Rummel-Kluge sagt, dass diese meist damit zusammenhängen, dass die Verantwortung für ein Lebewesen übernommen wird. Hinzukommt auch der Stress, den die neue Situation mit sich bringt. Frauen müssen also nicht völlig verängstigt sein und sich für diese Gedanken schämen. Werden sie allerdings immer häufiger und belasten die Frauen im Alltag stark, sollten sie sich professionelle Unterstützung holen. Denn oft resultiert aus den Zwangsgedanken auch ein Vermeidungsverhalten. Wenn etwa eine Frau Angst hat mit ihrem Kind die Treppe herunterzufallen und dann immer nur den Fahrstuhl nimmt. Dieses Vermeidungsverhalten engt den Radius der Betroffenen immer mehr ein und macht die Angst immer schlimmer. Idealerweise sollte man laut Rummel-Kluge nämlich die Dinge trotzdem tun. Und das lässt sich zusammen mit einem Therapeuten sehr gut üben.
JeS