Ein Mann mit Warnweste sitzt vor zwei Autos auf der Straße.
In ihrer Rückschau beschäftigt sich die Kolumnistin Jenni Zylka mit Medienreaktionen auf eines der großen Themen des Jahres: die Aktionen der "Letzten Generation". Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: dpa

Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 1. Januar 2024 Klimaschützer und Klima-Shakira

01. Januar 2024, 00:01 Uhr

Wie die Bezeichnung und damit die Haltung gegenüber der "Letzten Generation" und ihren Aktionen sich im Jahr 2023 mithilfe der Bild veränderte. Ein Jahresrückblick von Jenni Zylka.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Angst vor der Kippkaskade

So fing es an: Aktivisten und Aktivistinnen des "Hungerstreiks der Letzten Generation" waren am 25. August 2021 in Berlin in einen Hungerstreik getreten, um ein Gespräch mit den drei damaligen Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock zu erzwingen. Ein Grund für die Aktion war die Angst vor der Überschreitung der Kippelemente im Erdklimasystem, nach der das Leben für viele Menschen (und alles andere) auf der Erde nicht mehr, beziehungsweise nur noch sehr eingeschränkt möglich wäre.

Zur Hintergrundinformation: Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat am 6. Dezember 2023 einen aktuellen Bericht zum Thema herausgebracht, an dem mehr als 200 internationale Forschende mitwirkten. Darin heißt es:

"Fünf große Kippsysteme laufen bereits Gefahr, bei der derzeitigen globalen Erwärmung ihren jeweiligen Kipppunkt zu überschreiten, so die Forschenden in ihrem Bericht: Der grönländische und der westantarktische Eisschild, die subpolare Wirbelzirkulation im Nordatlantik, Warmwasserkorallenriffe und einige Permafrost-Gebiete. Wenn die globale Erwärmung auf 1,5°C ansteigt, könnten mit borealen Wäldern, Mangroven und Seegraswiesen drei weitere Systeme in den 2030er Jahren vom Kippen bedroht sein."

Weiter geht es so:

"Unsere Analyse zeigt übereinstimmende Kernaussagen in der bisher veröffentlichten Forschung zu Kipppunkten im Erdsystem auf. (…) Zu diesen Auswirkungen gehören ein beschleunigter Anstieg des Meeresspiegels, veränderte Wettermuster und geringere landwirtschaftliche Erträge – diese haben das Potenzial, negative soziale Kipppunkte auszulösen, die zu gewaltsamen Konflikten oder dem Zusammenbruch politischer Institutionen führen könnten. Kipppunkte sind auch nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in enger Wechselwirkung: Die Überschreitung eines Kipppunkts im Erdsystem oder in der Gesellschaft könnte wiederum ein anderes Kippsystem destabilisieren, wodurch Kippkaskaden möglich werden."

Hungern für den Klimaschutz

Die Angst der damaligen Hungerstreikenden war also berechtigt, die Methode hatte allerdings ausschließlich Konsequenzen für den eigenen Körper – er war es, den die Streikenden in die Waagschale warfen, das Publikum schaute zu und war nur dann berührt, wenn es Empathie empfand beziehungsweise den wissenschaftlichen Tatsachen Glauben schenkte. Ähnlich wie bei den Entwicklungen, die der Klimawandel mit sich bringt – der "globale Süden" ist weit stärker betroffen als der viel mehr Energie verbrauchende "globale Norden" - hatte der Hungerstreik keine direkten Auswirkungen auf diejenigen, die das Thema ignorierten.

Die meisten der für das Klima hungernden jungen Menschen brachen den Streik nach über drei Wochen ab, am 25. September wurde er auch von den letzten beiden Teilnehmern beendet. Das Ziel eines Gesprächs mit einem Kanzlerkandidaten oder einer -kandidatin wurde nicht erreicht, allerdings hatte u.a. Olaf Scholz sich zu einem Gespräch nach der Wahl bereit erklärt, das auch ein paar Wochen später (am 12. November 2021) stattfand. Der Tagesspiegel dokumentierte damals:

"Nach Wochen ohne Nahrung und zuletzt auch ohne Flüssigkeit haben ein Klimaaktivist und eine Unterstützerin am Samstag in Berlin ihren Hungerstreik abgebrochen. Zuvor habe der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ein öffentliches Gespräch innerhalb der nächsten vier Wochen über den Klimanotstand zugesagt, twitterte der 21 Jahre alte Henning Jeschke. Die SPD bestätigte die Angaben."

(Hier ist der Original-Tweet einer der Streikenden.) Die Klimaaktivisten und -aktivistinnen wurden damals übrigens auch genauso genannt, wie man in unter anderem in diesem Bericht vom 19. September 2021 im Portal der Funke-Mediengruppe "Der Westen" unter der in großen Lettern gesetzten Überschrift

"Dortmund: Klima-Aktivistin (19) bricht nach Zusammenbruch Hungerstreik ab – Gespräche mit Scholz und Baerbock"

nachlesen konnte:

"20 Tage lang hat Lina Eichler aus Dortmund nichts gegessen. Die 19-Jährige veranstaltet mit anderen Teilnehmern einen Hungerstreik vor dem Reichstagsgebäude in Berlin – für das Klima. Nun ist die Dortmunderin zusammengebrochen – und beendet den Hungerstreik! Mit der Aktion wollen die sechs jungen Umweltschützer aus Dortmund und ganz Deutschland ein Gespräch mit den Kanzlerkandidaten Armin Laschet, Olaf Scholz und Annalena Baerbock erreichen."

Verständliche Sorgen

Die Rede war von einer "Klima-Aktivistin" und sechs "jungen Umweltschützern", der etwas pekuliare Fettdruck der Ortsangabe "Dortmund" hängt mit dem Selbstverständnis des Reichweitenportals zusammen – man ist in NRW, darauf pocht man, hömma. In Tageszeitungen erschienen Kommentare, die Verständnis gegenüber der Besorgnis der Aktivisten und Aktivistinnen äußerten, hier die taz:

"Es geht den Streikenden darum, die Dramatik zu vermitteln, die sie angesichts des Klimawandels verspüren. Dass sie jung sind und eigentlich nicht sterben wollen, heißt nicht, dass sie dafür nicht wirklich den eigenen Tod in Kauf nehmen werden. (…) Frau Baerbock, Herr Laschet, Herr Scholz, nehmen Sie diesen jungen Menschen die Last dieser Entscheidung! Und wenn das heißt, dass Sie sich damit erpressen lassen, dann lassen Sie sich eben erpressen. Wenn Sie die Streikenden schon nicht ernst nehmen, dann seien Sie wenigstens die Erwachsenen hier. Die Streikenden wollen ein Gespräch. Sie haben echte Ängste, echte Sorgen."

Und hier der Tagesspiegel unter der Überschrift "Politik darf sich erpressen lassen – ausnahmsweise":

"Was immer sich an Einwänden gegen diese Aktion vorbringen lässt, stimmt. Die Hungerstreikenden wollen die Politik erpressen. Sie leben in einer Demokratie, können von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen wie alle anderen. Sie instrumentalisieren die mediale Öffentlichkeit für ihre Interessen. Trotzdem. Was wäre das für eine große Geste der Humanität, wenn die drei Kanzlerkandidaten über ihren eigenen Schatten springen, auf die reine Lehre pfeifen und sich zu einem kurzen gemeinsamen Gespräch mit den Hungerstreikenden bereit erklären würden! In Kenntnis der Einwände, in Abwägung möglicher Konsequenzen. Wie groß ist denn wirklich die Gefahr von Nachahmern?"

Und auch diese Worte wurden 2021 geschrieben:

"Eine Gruppe junger Erwachsener hatte am 30. August einen Hungerstreik für eine radikale Klimawende begonnen. Damit wollte sie unter anderem ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidaten Scholz, Armin Laschet (CDU/CSU) und Annalena Baerbock (Grüne) erreichen.  Da die Politiker nicht zusagten, brachen die meisten Aktivisten ihren Hungerstreik diese Woche ab. Nach übereinstimmenden Angaben war Baerbock am Donnerstag im Camp und sprach mit den jungen Leuten, die den Hungerstreik beendet hatten."

Die Bild, aus der letzterer Auszug stammt, hatte vorher im Artikel zwei der "jungen Erwachsenen" ausgiebig zitiert:

"In diesem Wahlkampf, in dem es um alles geht, wird nach wie vor so getan, als könnte alles so weitergehen", begründete Henning Jeschke am Samstag seinen Schritt. Scholz käme nicht einmal über die Lippe, Klimanotstand zu sagen, kritisierte der 21-Jährige. "Die mörderische Haltung gegenüber der jungen Generation nehmen wir nicht hin." Seine 24 Jahre alte Mitkämpferin Lea Bonasera sagte: "Ich bin nicht bereit, dass die politische Ignoranz über das siegt, was wichtig ist."

Den Körper auf die Straße bringen

Der Ton der Berichterstattung änderte sich mit der Strategie der Letzten Generation, den eigenen Körper beim zivilen Ungehorsam so einzusetzen, dass auch andere betroffen sind: Durch Straßen- und Flughafenblockaden wird der Verkehr gestört, Menschen kommen nicht oder zu spät an ihr Ziel.

Um die (Sitz-)Blockaden durchzuführen, klebten die Klimaaktivisten und -aktivistinnen sich seit 2022 an Straßen fest. N-tv berichtete im Oktober 2022:

"Straßenblockaden, Klebeaktionen, Kunstblut - mit immer radikaleren Methoden versuchen Aktivisten, auf die drohende Klimakatastrophe aufmerksam zu machen. Dabei greifen sie in die Lebensbereiche ihre Mitmenschen ein und riskieren nicht selten auch Strafen. Doch was haben sie bisher erreicht? (…) Rund 370 Aktionen zählt die radikale Klimagruppe "Letzte Generation" seit Jahresbeginn: Autobahnblockaden, Protesten an Pipelines und Klebeaktionen in Museen oder bei Sportveranstaltungen. Jetzt rollt eine neue Protestwelle."

Die Termini "radikale Klimagruppe" bzw. deren "radikale Methoden" werden noch immer in den Zusammenhang mit der unzweifelhaft "drohenden Klimakatastrophe" gesetzt – die rhetorische Frage "doch was haben sie bisher erreicht?" stellt damit eher die Methoden als das Motiv in Frage.

Klebende Bettnässer

Die Bild-Zeitung, die 2021 noch die neutrale Bezeichnung "Klima-Aktivisten" benutzte, hat jedoch inzwischen viele weitere Varianten erfunden. Dass die Letzte Generation mittlerweile (federführend vom Springer-Blatt) in vielen Medien und auch in großen Teilen der Öffentlichkeit als "Klima-Kleber" bezeichnet werden, konstatierte der NDR hier, und sprach von einem "neu erfundenen Wort", das sich inzwischen durchgesetzt hat. Der Komiker Ingo-Appelt hat den Begriff mittlerweile in seine Show aufgenommen, haut als echter Boomer ganz in die Kerbe des Generationengaps und macht vor johlenden Erwachsenen (viele davon Eltern) Schenkelklopf-Witze über das "Festkleben", und die dummen "Bettnässer".

Unter anderem die SZ machte sich im Januar 2023 nach einer Aktion gegen eine Pipeline in Kanada, und Protesten gegen den Braunkohleabbau im Rheinischen Revier Gedanken darüber, ob und wie sich die Klimabewegung auch in Deutschland radikalisiert, bezeichnet aber die Handelnden im Artikel durchgehend als "Aktivisten und Aktivistinnen":

"Auch die Gruppe "Letzte Generation" steht unter Beobachtung. Die Mitglieder sind bekannt für ihren zivilen Ungehorsam, kleben sich auf Straßen fest oder beschädigten Rohöl-Pipelines. Im Dezember veranlasste die Staatsanwaltschaft Neuruppin Durchsuchungen bei elf Aktivisten. Der Verdacht lautet auf 'Bildung einer kriminellen Vereinigung'. Das halten die meisten Juristen für übertrieben, es zeugt wohl eher von zunehmender Beunruhigung bei den Behörden."

Im Oktober 2023 verwendete die Bild-Zeitung neben "Klima-Kleber" auch die Begriffe "Klima-Kriminelle" , "Klima-Chaoten" und "Klima-Jünger", und benutzte für die Beschreibung der Strukturen der Letzten Generation das Adjektiv "wirr" sowie die (wie bereits "Jünger") an Sektenbeschreibungen erinnernden Ausdrücke "unterwerfen" und "gedrillt werden". Vor allem "Klima-Kriminelle" ist eine interessante Wortkombination angesichts der Tatsache, dass es ja nicht die Aktivisten und Aktivistinnen sind, die sich kriminell gegenüber dem "Klima" verhalten, es etwa ausbeuten oder ihm schaden. Das machen andere Leute.

Unter anderem die BZ und die Rheinische Post ziehen aber längst mit und beschreiben nur noch Aktionen von "Klima-Chaoten", dazu werden immer wieder "Klima-Radikale" genannt.

Hips don’t lie

Aber jetzt flackert von irgendwoher ein kleines (Scheinwerfer)Licht im Dunkel: Vielleicht hat der Versuch einiger Medien, die Handlungen der Klimaschutzgruppe bei ihrer Berichterstattung schon allein durch die Auswahl der Bezeichnung abzuwerten, ein Ende. Denn im Dezember dieses Jahres tauchte bei der Bild eine österreichische "Klima-Shakira" auf, die mit der nichtsahnenden kolumbianischen Sängerin zwar nicht viel gemeinsam hatte. Doch war es nicht Shakira, die von ihren "niemals lügenden" Hüften sang, und damit das Thema Körper auf eine sehr rhythmische Art mit dem Thema Wahrheit verband? Würde sich die Bild doch nur daran ein Beispiel nehmen.

Der Altpapier-Jahresrückblick 2023

Die AfD-Politikerin Alice Weidel ist von Journalisten mit Kameras und Mikrofonen umringt.
Annika Schneider findet, dass es an Präsenz von AfD-Politikerinnen und -Politikern in den Medien im Jahr 2023 nicht gemangelt hat. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: dpa
Stilisierte Darstellung mehrerer Logos von großen Internetkonzernen.
In seinem Jahresrückblick schaut Kolumnist Christian Bartels darauf, was das Jahr 2023 für die großen Online-Plattformen gebracht hat. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Panthermedia
Stilisierte Darstellung von mehreren Armen, die alle in eine Richtung zeigen.
Die öffentlichkeitswirksamen Medienberichte über die Fälle Lindemann und Ofarim lösten im Jahr 2023 Diskussionen über die Verdachtsberichterstattung aus. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Panthermedia
Stilisierte Grafik: Ein Roboter sitzt vor einem Geburtstagskuchen.
ChatGPT brachte den Durchbruch für den alltäglichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Auch die Medienbranche hat sich im Jahr 2023 intensiv mit dem Thema beschäftigt. Bildrechte: MDR MEDIEN360G
Ein Mann sitzt vor einer Schreibmaschine und blickt kritisch auf das bisher Geschriebene.
Heizungsgesetz und Bürgergeld. 2023 war auch das Jahr der Verbreitung von Halb- und Unwahrheiten, findet Kolumnist René Martens. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Panthermedia
Stilisierte Darstellung eines Cartoon-Abspanns mit großer "THE END" Aufschrift.
Anne Will, Blendle, Karla: In seinem Jahresrückblick führt Kolumnist Klaus Raab alles auf, was 2023 in der Medienwelt (beinahe) zum Ende kam. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Panthermedia

Aktuelle MEDIEN360G-Themen

Ein Reporter steht in kniehohem Wasser und spricht in ein Mikrofon. Eine Person mit Kamera filmt ihn.
Der Klimawandel beeinflusst alle Lebensbereiche. Die Herausforderung für Journalisten ist es, das Thema als Teil ihrer Berichterstattung anzusehen und lösungsorientiert zu berichten. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | dpa
Eine junge Frau sitzt umgeben von Büchern auf dem Boden und filmt sich mit einem Smartphone.
Auf der Videoplattform TikTok diskutieren, empfehlen und rezensieren vor allem junge Frauen in kurzen Videos Bücher. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Ein Mann und eine Frau posieren mit ihrem Säugling für ein Selfie.
Bevor Kinder fünf Jahre alt sind, sind bereits durchschnittlich 1500 Bilder von ihnen im Netz, so eine Studie. Und einmal online, haben die Eltern keine Kontrolle mehr darüber, wie die Bilder verwendet werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Zwei Kleinkinder sitzen nebeneinander und haben ein Smartphone und ein Tablet in der Hand.
Der Medienkonsum von Kindern kann mittels verschiedener Apps besser von den Eltern kontrolliert werden. Bildrechte: Panthermedia | MDR MEDIEN360G