Teasergrafik Altpapier vom 16. Juli 2019: EU-Logo mit Paragraphen-Zeichen und "Digitalgesetz"
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Das Altpapier am 16. Juli 2019 Immer mehr oder immer weniger, jedenfalls immer schneller

Immer mehr oder immer weniger, jedenfalls immer schneller
Die nächste EU-Kommission wird das nächste EU-Digitalgesetz in Angriff nehmen. Drohen wieder Uploadfilter? Gedruckte Zeitungen auszutragen kostet an manchen Orten schon jetzt doppelt so viel wie sie zu abonnieren. Das klassische Feuilleton hält öffentlich-rechtliches Kultur-Wortradio für eine "Oase" – und für gefährdet. Außerdem: Neues von der Netzneutralität. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Es ist Mitte Juli und das Gegenteil von Sommerloch. Heute entscheidet sich bzw. das EU-Parlament über die / den ersten deutschen Präsidentin/-nn der EWG- / EU-Kommission seit Walter Hallstein (den Zeitgenossen wenn, dann am ehesten durch schriftstellerisch in Gang gesetzte Meta-Schleifen kennen, was aber vor allem damit zu tun hat, dass nicht mehr sehr viele Zeitgenossen die 1960er bewusst miterlebt haben).

Anlass, in die Zukunft zu schauen, gibt's natürlich auch: Sollte Ursula von der Leyen heute gewählt werden, bekäme sie rasch ein "vertrauliches Arbeitspapier" "für ein neues Gesetz über digitale Dienstleistungen ('Digital Services Act')" auf den Tisch, das freilich nicht vertraulich genug behandelt wurde, um nicht doch, hierzulande bei netzpolitik.org, öffentlich zu werden. Es soll "alle digitalen Dienste und insbesondere Online-Plattformen", unter denen außer Google und Facebook etwa auch Uber ausdrücklich genannt werden, betreffen und einerseits "Regeln zur Bekämpfung von Hass im Netz und Desinformation in ganz Europa", andererseits "einheitliche Vorschriften für Online-Werbung" bringen. Tomas Rudl und Alexander Fanta sind hin- und hergerissen. Dass es "durch klarere Bedingungen für europäische Startups leichter" werden soll, europaweit aktiv zu werden und in nennenswerte Konkurrenz zu US-amerikanischen Konzernen treten zu können, begrüßen sie.

Andererseits und hauptsächlich aber sehen sie "'Notice & Takedown' unter Beschuss", also das "von vielen als konstituierend für ein freies Internet angesehene" Prinzip, demzufolge Plattform-Betreiber für illegale Inhalte auf ihren Plattformen erst dann haften müssen, wenn sie darauf aufmerksam geworden, also: gemacht worden sind. Sollte diese Regel nicht mehr gelten, gäbe es eigentlich nur die Option automatisierter Inhaltskontrolle. Heißt: Die Netzpolitiker wittern "Uploadfilter".

Wer möchte, kann sich entsprechende Diskussionen (deren Teilnehmer sich freilich nicht "mit 'Flinten-Uschi' aufs Minenfeld des Sexismus" begeben sollten, wie Arno Orzessek in Deutschlandfunks "@mediasres" glossierte), schon mal ausmalen. Wobei: Vielleicht bekommt die nächste Kommission ja mal einen überzeugenden Digitalkommissar oder wird am Ende gar doch noch von Margrethe Vestager geleitet, die solche Ideen sogar persönlich erklären könnte ...

Fass ohne Boden: die Zeitungszustellung

Aufmerksamkeit verdient dann noch das plastischste Beispiel, mit dem netzpolitik.org erklärt, warum das Internet zurzeit nach dem "Notice & Takedown"-Prinzip funktoniert und nur so funktionieren kann:

"So laden Nutzer nach Angaben der Plattform jede Minute mehr als 500 Stunden Material auf Youtube ... Müssten Anbieter jeden Inhalt, den  Nutzer auf ihre Plattform hochladen, erst manuell auf seine  Rechtmäßigkeit überprüfen, wären diese Dienste nur mit immenser menschlicher Arbeitskraft zu betreiben."

500 Stunden zu sichten, würde rein rechnerisch über 60 Arbeitstage bedeuten, eine Stunde also 3600 Arbeitstage (an deren jedem allerdings 720.000 Stunden neues Material reinkäme). Mit diesen Zahlen nun an ein völlig anderes Ende des Mediengeschäfts, an dem völlig andere Zahlen völlig andere Mechaniken in Gang setzen.

Die SZ-Medienseite, also die der Süddeutschen, besucht heute einen Abkürzungs-Namensvetter, die Sächsische Zeitung. Deren Chefredakteur Uwe Vetterick zeigte Interviewer Cornelius Pollmer bei der Gelegenheit einen "Chart mit einem Haushalt in der Region Löbau-Zittau", der die sächsische SZ abonniert hat. Und es entspann sich folgender Dialog:

Pollmer: "Über die Zustellung steht hier: 1,3 Kilometer, 15 Minuten Fußweg, macht 3,10 Euro Lohnkosten für den Zusteller. Pro Tag."

Vetterick: "Genau, aber die Zeitung, die wir dort verkaufen, die verkaufen wir für 1,30 Euro ..."

Heißt, rein rechnerisch: Die gedruckte Zeitung kostet allein von der Zustellung mehr als doppelt so viel wie Abonnenten dafür bezahlen. Die Kosten fürs Papier, das Drucken sowie die Redakteure und freien Mitarbeiter, die Texte und Fotos liefern, sind noch gar nicht enthalten. Und dennoch verhält es sich auch im südöstlichsten Zipfel Deutschlands keineswegs so, dass die Menschen von diesem supergünstigen Angebot begeistert sind und alle eine Zeitung abonnieren. Sondern im Gegenteil ...

Das Beispiel ist ein besonders krasses für die vom Funke-Konzern für Zeitungen in Thüringen (siehe zuletzt diesen Altpapierkorb), aber auch von der Geschäftsführung der wiederum völlig anderen, aber ebenfalls gedruckt abonnierbaren taz formulierte Problem, dass Herstellung und Vertrieb von täglich erscheinenden Zeitungen, selbst dann, wenn gegenwärtig noch Geld damit verdient wird, perspektivisch zum Fass ohne Boden werden.

Uwe Vetterick zeigt sich in der Hauptsache sportlich-optimistisch. In  Löbau und Zittau läuft ein Pilotprojekt: Die Redakteure schreiben primär für digitale Ausgaben, die Lesern vor allem als E-Paper angeboten werden. Das würfe zwar auch noch ein "Problem mit Netzabdeckung" auf, wie in allen deutschen Peripherien, würde aber angenommen:

"Ein Ziel dieser Umstellung war es, 1000 Digital-Abonnenten im ersten Jahr zu gewinnen. Dieses Ziel hatten wir nach knapp vier Monaten erreicht. Inzwischen sind es 1600. Ob das Ziel jetzt hoch oder niedrig war, können wir gar nicht sagen, weil wir in unserer Liga bislang keine belastbaren Benchmarks einholen konnten",

sagt Vetterick und freut sich außerdem über eine binnen sechs Jahren um sechs Minuten (von 27 Minuten auf 33) gestiegene "durchschnittliche Lesedauer bei der Sächsischen Zeitung".

Kultur-Wortradio auch in Gefahr

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk – Sie wissen, das Altpapier erscheint bei der u.a. für Sachsen zuständigen Landesrundfunkanstalt MDR – hat nicht das Problem, seine Nutzer von den Vorzügen eines Abonnements überzeugen zu müssen. Beziehungsweise, er hat es auf eine wiederum völlig andere (insgesamt deutlich bequemere) Art und Weise.

Da springt heute die Medienseite der FAZ (Blendle) ein bzw. einem "annähernd ästhetischen Vollprogramm aus Literatur, Kunst, Kritik und Musik", einem "kleinen, feinen Radiosender" zur Seite. Es geht um hr2-Kultur, das "dank des Livestreams im Internet wenigstens potentiell so global wie ubiquitär" empfangbar ist. Sie merken: Autor Jochen Hieber ist ein Feuilletonist, wie er im Buche stand. Von "Hör-Oase" schreibt er überdies. Der Anlass all des großen Lobs jedoch ist, dass dieses HR 2 in Gefahr sei, nämlich in eine "reine Hörfunkwelle für klassische Musik" umgewandelt werden solle.

Bei einer Hessischer-Rundfunk-Betriebsversammlung am vorigen Donnerstag seien Pläne vorgestellt worden, das, "was man im bildungsbürgerlichen Sprachgebrauch und durchaus mit Traditions-Pathos als 'kulturelles Wort' bezeichnet", zurückzufahren zugunsten von mehr Musik, die sich besser nebenbei hören lasse und insgesamt auch billiger ist. "Der Sprecher des Hessischen Rundfunks sagte, das Ziel der Neuerungen sei es, ein jüngeres Publikum zu erreichen", meldet die FAZ in ihrem Rhein-Main-Lokalteil nüchtern. Das habe "der unaufhaltsamen Digitalisierung aller Lebensbereiche Rechnung zu tragen", dichtet Hieber, um dann zu diesem Schluss zu gelangen:

"Sicher ist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nirgendwo sonst derart bei sich selbst ist wie in seinen Kulturradios. Sie lassen sich nur und ausschließlich über den Rundfunkbeitrag finanzieren, was man von massenkompatibleren Veranstaltungen wie Fußball, Volksmusik oder Quizspielen durchaus nicht behaupten kann. Nicht weniger als der tendenziell kommerzferne Anteil am Zivilisationsstandard unserer Gesellschaft also lässt sich an den Kulturradios bemessen, die wir uns mit unseren Pflichtbeiträgen leisten und leisten sollen",

Die Fragen, ob öffentlich-rechtlicher Rundfunk in erster Linie das bringen soll, was es auf dem freien bzw. kommerziellen Medienmarkt sonst nicht gäbe, oder eher das, was gerne gesehen, gehört und geklickt wird, weil das seine Akzeptanz am ehesten sichert, oder beides (was insgesamt am teuersten wäre), sind weiterhin nicht grundsätzlich geklärt worden und werden in nächster Zeit vermutlich häufiger gestellt werden. 

Altpapierkorb (Netzneutralität; Journalismus nicht mehr cool, aber noch Traumjob; Europas "digitale Souveränität", "die Grenze zum Aktivismus", "Statistik-Voyeurismus")

+++  Lange nichts gehört von der Netzneutralität (Altpapier), auch, weil Klagen halt durch die Instanzen gehen müssen. Jetzt fiel zum "StreamOn"-Anbgebot der Deutschen Telekom ein Oberverwaltungsgerichts-Urteil, das nicht mehr anfechtbar ist. Es fiel gegen die Telekom. Hintergründe schildert netzpolitik.org. Der Blog ist einerseits zufrieden, denn "sogenannte Zero-Rating-Angebote" seien "langfristig schlecht für alle", andererseits nicht so zufrieden, denn: "Selbst wenn die Telekom sich weiter weigert, StreamOn anzupassen, und ein Bußgeld zahlen müsste: Das dürfte für den Konzern kaum ins Gewicht fallen. Mit 200.000 Euro schöpft die Netzagentur zudem nicht einmal ihren gesamten Rahmen aus". +++  Zu den "bereits 237 Partner-Dienste für Musik-Streaming, 120 für Video-Streaming, 36 für Gaming und 10 für Social&Chat" (telekom.de) gehört, die bei "StreamOn" mitmachen, gehören übrigens auch die ZDF-Mediathek ("... bietet einen komfortablen Zugang zu über 30.000 On-Demand-Videos und zum laufenden Live-Programm des ZDF und seinen Partnersendern") sowie die der ARD ("Von Tagesschau bis Tatort: Die ARD Mediathek bietet Filme, Dokus, Serien und 17 Livestreams, darunter Das Erste, arte und 3sat").

+++ "... der Journalismus steckt in einer Vertrauenskrise. Viele junge Leute betrachten den Beruf nicht länger als cool." Doch: "Eine journalistische Karriere ist nach wie vor ein Traumjob für eine beträchtliche Zahl junger Menschen. Die junge Generation scheint dabei besonders von Idealismus getrieben zu sein, den Bewerbern geht es stärker als früheren Jahrgängen um eine sinnstiftende Tätigkeit ...". Steht in der sechsseitigen deutschsprachigen Zusammenfassung (PDF) der englischsprachigen Studie "Are Journalists Today’s Coal Miners? The Struggle for Talent and Diversity in Modern Newsrooms", an der das Journalistische Seminar der Uni Mainz beteiligt war. +++ "Echte Vielfalt in den Redaktionen ist noch in weiter Ferne", heißt es in der dpa-Meldung (Tagesspiegel). "Der Journalismus sei noch immer ein Beruf für 'weiße Kinder aus privilegierten Milieus', Bewerber aus migrantischen oder Arbeiterfamilien seien die Ausnahme, lautet ein ernüchterndes Fazit" (Süddeutsche). +++ Wobei die Studie auch festhält, dass "Redakteure, die aus dem ländlichen Raum stammen und die die Lebenssituation der Landbevölkerung nachvollziehen können", ebenfalls fehlen, wie in der epd-Meldung (nicht frei online) steht: "An emerging challenge is the lack of journalists with a rural background due to the floundering of local journalism" (S. 7 im Original).

+++ "Europa hat nicht nur keine Souveränität über seine Daten, es fehlt Europa gar an digitaler Souveränität insgesamt, denn auch die Algorithmen der Plattformen sind amerikanisches Betriebsgeheimnis. ... Vereinfacht kann man sagen, dass es neben dem amerikanischen Modell für das Internet (Datenkapitalismus), auch ein chinesisches (Datenautoritarismus) und mit Einschränkungen auch ein russisches gibt, aber kein europäisches": Johannes Hilljes Plädoyer "Europa braucht eine digitale Plattform", neulich hier erwähnt, steht bei epd medien inzwischen frei online. +++ Was auch drin vorkommt, nicht als positives Beispiel: der Fernsehsender Euronews ...

+++ ... der "künftig über die Bildschirme der Serben flimmern" wird, und zwar als "Franchise des in Lyon-basierten TV-Senders", für das "knapp 100 Mitarbeiter vor Ort rekrutiert werden" sollen, wie der Standard berichtet.

+++ "Wo verläuft die Grenze zwischen Nachrichtenjournalismus und Aktivismus"?, frage sich die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks "sehr, sehr oft", sagte dessen Nachrichtenchef Marco Bertolaso, als das hauseigene Medienmagazin "@mediasres" in nach rassistischen Donald-Trump-Äußerungen und wie darüber berichtet werden sollte, fragte.

+++ "Die ARD sollte sich nicht einem Statistik-Voyeurismus auf Kosten journalistischer Qualität ergeben"?  Da kritisiert das leicht relaunchte flurfunk-dresden.de "Wählerwanderungen", wie unter anderem Jörg Schönenborn sie gerne und anschaulich vorführt.

+++ "Filme sind besser als Bomben", wie ungefähr schon Rainer Werner Fassbinder sagte, schreibt Willi Winkler in der SZ über "Sympathisanten. Unser Deutscher Herbst" heute abend auf Arte.

+++ Und dass das Geburtstags-Porträt "Mensch Merkel!" heute abend im ZDF "quasi in letzter Minute überarbeitet werden (musste), um die drei Zitteranfälle aufzunehmen", berichtet Kurt Sagatz im Tagesspiegel.

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.