In ausgerissenen Buchstaben steht "Das Altpapier" auf einem zerknüllten Blatt.
Bildrechte: MEDIEN360G

Das Altpapier am 11. November 2019 Wer sind wir, und wenn ja, wo?

11. November 2019, 12:29 Uhr

Ein Editorial, das wirkt wie ein Mitschnitt vom Parteitag der Piratenpartei: Die neuen Eigentümer der Berliner Zeitung stellen viele Fragen – und sagen, wer sie alles sein könnten. In Claas Relotius’ Wikipedia-Eintrag gibt es einen neuen Unterpunkt. Und: der 50. Geburtstag der “Sesamstraße“. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die “Sesamstraße“ ist am Wochenende 50 Jahre alt geworden, weshalb sie in Deutschland in den vergangenen Tagen nicht nur von öffentlich-rechtlichen Sendern gewürdigt wurde, die sie seit 1973 zeigen (sondern auch von n-tv.de, Tagesspiegel und einigen mehr). Aber auch von den Öffentlich-Rechtlichen.

Es wäre hier zum Beispiel der Bayerische Rundfunk zu nennen, der online auf “ein halbes Jahrhundert Liebe, Lachen, Herzlichkeit, Überraschungen und natürlich Lernen“ zurückblickt, aber auch daran erinnert, dass die Vorbehalte deutscher Fernsehleute anfangs groß gewesen seien: “Zu anarchisch, zu amerikanisch war manchen die Sendung.“ Dieses “manchen“ ist schön. Wer seinerzeit so dachte, war zuvorderst der Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, der wohl am liebsten verhindert hätte, dass die ARD die Serie überhaupt ankauft (mdr.de).

Er hat es nicht geschafft, die “Sesamstraße“ ist da. Bis heute wird gezählt, gemessen und gewogen. Und insofern wird vielleicht die Frage erlaubt sein, was Silke und Holger Friedrich genau meinen, wenn sie sich fragen, “warum der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit dem vielen Geld aus unseren GEZ-Gebühren nicht zählen, messen und wiegen kann“.

Meinungen für ein halbes Jahr

Die Friedrichs, die neuen Eigentümer der Berliner Zeitung, haben soeben in einer Sonderausgabe “eine Art Regierungserklärung“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“) abgegeben. Die FAS schreibt: “In dem ausufernden Editorial geht es weniger um das Konzept einer modernen Zeitung (es sei denn, es besteht im Verzicht aufs Redigieren solcher Texte), sondern eher um alles: um Merkel, Putin, Europa, Halle, Pankow (die Band) und den Gödelschen Unvollständigkeitssatz.“

Und um die Öffentlich-Rechtlichen geht es am Rande eben auch mit einem kleinen Seitenhieb: Die wissen den Friedrichs zufolge nämlich nicht, “welche Themen in welcher Tonalität übergeordnet moralisch und welche faktenbasiert kommentiert werden sollten“. So ein, zwei kleine Beispiele wären an der Stelle zwecks Faktenbasis freilich noch schön gewesen.

Aber auf ein, zwei Unklarheiten mehr oder weniger kommt es wohl nicht an: Der Text, der mehr als 24.000 Zeichen zählt, misst und wiegt – und der online mit 3 eingebetteten Musikvideos, zwei E-Mail-Adressen und ein Foto modernisiert ist –, treibt einem die Fragezeichen in Reihe ins Gesicht. Erst vergangene Woche haben wir uns in diesem Blog noch einerseits über das Neuverleger-Ehepaar gewundert (etwa über die Interviewaussage, es strebe eine “Wende zum faktenorientierten Journalismus“ an, was man auch als Trollerei auffassen kann). Und andererseits den Friedrichs zugute gehalten, sie würden “nicht nur ins Phrasenschwein investieren, sondern auch in den Umbau von Strukturen, die so nicht mehr funktionieren“.

Sagen wir so: Wir haben nach der Lektüre des Editorials nichts zurückzunehmen. “Optisch kenntlich wird der Neustart durch ein neues Design der Webseite, die nicht nur aufgeräumter daher kommt, sondern zudem auf einer neuen technischen Infrastruktur läuft“, schreibt Meedia. Und, das muss man wirklich sagen: Das ging fix.

Vor allem aber entziehen sich die neuesten Verleger der Republik nach wie vor der eindeutigen Einordnung. Links, rechts, liberal, autoritär, modern, DDR-nostalgisch, neoliberal, libertär, bürgerlich – ihr Text spricht dafür, dass sie alles zugleich sein könnten, aber womöglich auch einfach nichts davon sind. Er liest sich, als wären die Redebeiträge eines frühen Parteitags der Piratenpartei untereinander in ein Dokument gepackt worden: Die Friedrichs wollen neue parlamentarische Prozesse und beklagen die “Spielregeln einer verstaubten Diplomatie“, setzen auf Datengeschichten und würden gern mit Smartphones wählen. Und ansonsten erkennt man gesellschaftspolitisches Denken ohne klar erkennbare Tradition, das in viele Richtungen ausgebreitet ist, netzartig statt linear.

Die Uneindeutigkeit ist vorgesehen: “Mit dem Kauf des Berliner Verlags wollen wir versuchen, der sich ausbreitenden strukturellen Langeweile in dieser Stadt, in diesem Land eine mediale Plattform entgegenzusetzen. Wir laden ein, die Pluralität dieser Gesellschaft zu beweisen, auch deren Widerstandsfähigkeit“, schreiben sie. Oder: dass “die Guten nie ganz gut und die Bösen nie ganz böse sind“.

Prompt fielen die Einschätzungen der beobachtenden Twitterati am Wochenende auffallend vielfältig aus. Der dpa-Chefredakteur etwa findet das Editorial lesens-, bemerkens- und nachdenkenswert. Der Juso-Chef sieht eine “narzisstische Horrorshow“. Ein Bild-Reporter erkennt eine “beeindruckend naive Analyse“, ein SZ-Redakteur begrüßt “Verleger die nicht nur Rendite wollen, sondern gesellschaftlich etwas anstoßen“. Berlin-Mitte-Stuss, Flirt mit populistischen Positionen, angenehme Uneindeutigkeit, naiv, haltungsgetrieben, innovationsfreudig – es ist alles dabei.

Neugierig machen die Friedrichs mit ihrem wilden Ritt jedenfalls. So neugierig, dass man eigentlich dranbleiben muss, um zu sehen, wie es weitergeht mit der Berliner Zeitung. Das Experiment, in das die Redaktion diesmal hineingezogen wurde, verspricht – hoffentlich auch dauerhaft für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – zumindest interessanter zu werden als die letzten, in denen es nur noch darum ging, von wie weit weg und mit wie wenig Kosten man eine Zeitung machen kann, die man den Lesern als Berliner Zeitung verkaufen kann.

Andererseits ist der Text schon das zweite Beispiel binnen weniger Wochen, der belegt, dass man auch Verleger dringend redigieren sollte. Hätten die Friedrichs sich nicht eine Zeitung gekauft, würde man sich das Ganze kaum lange anhören.

Sie schreiben als Merkel-Fans und EU-Skeptiker zugleich. Beschwören die Vorherrschaft der Fakten, tun aber zugleich hier und da so, als wäre Fakt, was sie selbst meinen. Die Mauer war schlimm, aber so schlimm dann auch nicht, dass man die DDR nicht mit der EU vergleichen könnte. Die Deutschen sind besser als die meisten Nationen, weil sie “ihren Opfern Mahnmale bauen“. Sie verteidigen leidenschaftlich Egon Krenz, der “Millionen Menschen selbstbestimmte, positive Lebenswege ermöglicht“ habe. Werfen die Frage auf, “warum die in einer sich globalisierenden Welt den Föderalismus kultivierende Kultusminister-Konferenz nicht als eine den Extremismus fördernde Organisation betrachtet wird“. Und kommen von ihrem Ärger über “die undemokratische Verteilung von Posten in Brüssel“ ohne Umschweife zum Berliner Mietendeckel, der ihnen offensichtlich nicht passt, aus welchen Gründen auch immer.

Die Meinungen reichen für ein halbes Jahr. Umso lustiger, wenn man bedenkt, dass Silke Friedrich erst vergangene Woche im SZ-Interview beklagt hat, dass es im Diskurs “zu viel Meinung“ gebe.

Die aktuelle FAS beendet ihre knappe Textexegese mit dem Satz “Aber vielleicht meinen sie alles auch ganz anders“. Das kann man so stehen lassen. Wohlwollend betrachtet, ist das Editorial eine Einladung, in Debattenbeiträgen die klügsten Aussagen zu suchen und nicht die, die einem als die seltsamsten ins Auge springen. Was man sagen kann, wenn man es ohne Wohlwollen versucht, steht bei den Salonkolumnisten unter dem Titel “Die fünf dämlichsten Sätze aus dem komplett bekloppten Manifest von Holger und Silke Friedrich“.

Claas “Karl May“ Relotius

Dem Wikipedia-Artikel über Claas Relotius ist ein neues Kapitel hinzugefügt worden. Es wird derzeit unter Punkt 5 geführt und heißt: “Manipulationsversuche des Wikipedia-Artikels“.

Als erste Quelle ist eine Recherche des Schweizer Tagesanzeigers (frei nach E-Mail-Registrierung) angegeben, die “Fälschen für den Meisterfälscher“ überschrieben ist: Der Eintrag von Claas Relotius wurde demnach einer “der grössten Manipulationsoperationen in der deutschsprachigen Ausgabe von Wikipedia“ unterzogen: einer “Aktion zur Rettung der Ehre von Claas Relotius“, durchgeführt von einem “Wikipedia-Fälscherkartell (…), das sich unter anderem Pre­Rap, Snapperl, Laugwitz, Rubbelsnuff und Klußmann nennt“ (FAZ). “Relotius“, heißt es im Tagesanzeiger, wurde darin “als 'Karl May unserer Tage‘ verharmlost; er habe auch etwas von Tom Wolfe, Paul Auster und Truman Capote“. Die Sockenpuppen sind allerdings aufgeflogen, gestellt quasi von der Wikipedia-Dokumentationsabteilung: anderen Usern.

Die Welt zeigt online einen Screenshot einer vermeintlichen Welt-Medienseite, die von den Manipulatoren als Beleg angeführt wurde. “Tatsache ist: Die Seite hat es nie gegeben, und damit auch nicht die erfundene Meldung“, schreibt Welt-Medienredakteur Christian Meier.

Die mal wieder dramafähige Schlusspointe besteht darin, dass einer der Manipulatoren über seine IP-Adresse räumlich laut Tagesanzeiger dem Umkreis der norddeutschen Gemeinde Seevetal zugeordnet werden kann, “wo auch die kleine Ortschaft Tötensen liegt. Von dort stammt Claas Relotius.“

Schon klar, wie das aussieht. Es sieht wirklich ganz genau so aus, wie es aussieht. Vielleicht sollte man eines nur bedenken: Im Umkreis der norddeutschen Gemeinde Seevetal könnten Menschen wohnen, die Claas Relotius zugetan sind, die aber nicht selbst Claas Relotius sind. So viel Zweifel muss drin sein.


Altpapierkorb (Porträt der Friedrichs, Gauweiler über Döpfners Kritik, Rundfunkbeitrag, Claus Kleber)

+++ Ein Porträt von Silke und Holger Friedrich stand schon vor einer Woche im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: “Die Friedrichs scheinen Berlin hinter sich gelassen haben, zumindest gedanklich.“

+++ Springer-Chef Mathias Döpfner hat vergangene Woche im Spiegel-Interview Claudia Roth kritisiert, sie relativiere Antisemitismus, indem sie Vertreter der iranischen Regierung treffe, (das Interview war im Altpapier verlinkt, die entsprechende Passage nicht explizit erwähnt). Nicht einverstanden mit der Kritik ist der CSU-Politiker Peter Gauweiler. Im aktuellen Spiegel steht sein Leserbrief, in dem es um die Reise einer Abgeordnetendelegation in den Iran 2010 geht: “Vor allem aber nutzten wir – allen voran Claudia Roth – die persönlichen Gespräche auf allen Ebenen, um uns für die Freilassung der kurz zuvor im nordiranischen Täbris inhaftierten Springer-Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch einzusetzen. Kurz darauf wurde den beiden Journalisten der Kontakt zur deutschen Botschaft ermöglicht – ein erster Schritt zur Freilassung im Februar des darauffolgenden Jahres. Der Springer-Verlag, dessen Vorsitzender Herr Döpfner bereits damals war, blieb dabei stets im Austausch mit uns. Damals bezeichnete er Frau Roths Gespräche mit dem iranischen Parlamentspräsidenten und der Regierung nicht als grundlos.“

+++ “Einen Rundfunkbeitrag, der automatisch steigt, wird es vorerst nicht geben“: Michael Hanfeld freut’s in der FAZ. Und rechnet in dem Zusammenhang noch den Finanzbedarf der Öffentlich-Rechtlichen nach, der natürlich viel zu hoch sei – aber in seiner Rechnung dann gleich noch viel höher: “Die Sender melden ihren 'Finanzbedarf‘ an – in der Regel viel zu viel, aktuell sind es drei Milliarden Euro mehr bei zurzeit rund acht Milliarden Euro Beitragseinnahmen jährlich“, schreibt er. Es sind drei Milliarden auf vier Jahre.

+++ Claus Kleber sagt im SZ-Kurzinterview seine Meinung zur Meinungsfreiheits-Debatte.

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.

0 Kommentare