Teasergrafik Altpapier vom 4. November 2019: Zeitung mit ängstlicher Frau. Titel der Zeitung lautet "Verschwörung". Im Text wird das Wort "Kritik" wiederholt.
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Das Altpapier am 4. November 2019 Leckerli für alle

05. November 2019, 08:40 Uhr

Vorn auf dem Titel die Verschwörungstheoretiker antriggern und innen im Blatt deren Kritiker zufrieden stellen - so sieht offenbar die Strategie einiger Qualitätsmedien in der Meinungsfreiheitsdebatte aus. Zudem auf der Agenda: Partygast Gauland. Ein Altpapier von René Martens.

Im September 2018 hat Alexander Gauland in einem Interview mit der FAZ seine Vorstellungen einer "friedlichen Revolution" dargelegt. "Diejenigen, die die Politik Merkels mittragen, das sind auch Leute aus anderen Parteien und leider auch aus den Medien. Die möchte ich aus der Verantwortung vertreiben. Das kann man eine friedliche Revolution nennen", sagte der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion damals unter anderem (Altpapier). Berthold Kohler, einer der Herausgeber jener Zeitung, in der Gauland sein Vertreibungs-Szenario - im Prinzip eine auf Journalisten angewendete Variation seines "Wir werden sie jagen"-Ausspruchs - ausmalen konnte, sah sich daraufhin zu historischen Vergleichen animiert. "Früher nannte man das Säuberung", schrieb er (siehe ebenfalls Altpapier).

Ob Herausgeber Kohler und Gauland, früher Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ), in der vergangenen Woche bei der 70-Jahr-Feier der FAZ in Berlin über Journalisten-Vertreibung, Säuberung und "friedliche" (lol!) Revolutionen parliert haben, stand bei Redaktionsschluss dieser Kolumne noch nicht fest, denn: Auf Medienanfragen zur Einladung Gaulands hat die FAZ bisher nicht reagiert.

Die Empörung darüber, dass Gauland bei der Frankfurter Allgemeine Sause mitfeiern durfte, fällt nicht unerheblich aus. Wolfgang Hübner, Chefredakteur des Neuen Deutschland, kommentiert zum Beispiel:

"Die Episode steht für die nicht mehr nur schleichende Verharmlosung einer Partei, die das Faschistische zu einem immanenten Bestandteil erklärt."

stern.de referiert die Fragen, die Jan Böhmermann der FAZ in einem Thread gestellt hat, unter anderem folgende:

"Auf welchem Weg sind die Nationalsozialisten 1933 an die Macht und wer gilt hierfür historisch aus welchem Grund als ihr politischer und gesellschaftlicher 'Steigbügelhalter'?"

Wer zu letztgenanntem Thema Ergänzungslektüre sucht, dem sei das antiquarisch noch zu bekommende Buch "Journalismus im Dritten Reich" von 1989 empfohlen, aus dem ich kürzlich hier recht ausgiebig zitiert habe.

Peter Weissenburger greift in der taz einen anderen Aspekt heraus. Mit Bezug auf wohlwollende Äußerungen zum FAZ-Jubiläum in der eigenen Zeitung (siehe Altpapier von Freitag) schreibt er:

"Fast hätten wir uns mit dem altehrwürdigen Blatt in dieser bürgerlichen Mitte einkuscheln wollen, die gerade ständig beschworen wird. Aber nun sind wir uns wieder sicher, dass wir auf eine Mitte verzichten können, zu der der rechte Rand selbstverständlich dazugehört."

Wie schwer sich das bürgerlich-journalistische und das rechtsradikale Milieu trennen lassen, hatte vor einiger Zeit ja schon eine andere Geburtstagsparty gezeigt: die von Matthias Matussek (Altpapier).

Um auf die Person Gauland zurückzukommen: Letztlich hat die FAZ einen alten Weggefährten eingeladen. Als Gauland Herausgeber der Märkischen Allgemeinen war - von 1991 bis 2005 - gehörte diese noch zum FAZ-Reich. Warum er - nachdem er in seiner Eigenschaft als christdemokratischer Staatskanzlei-Chef der sog. Affäre Gauland ihren Namen gegeben hatte - überhaupt für geeignet gehalten wurde für den Job bei der MAZ, wäre auch noch mal zu klären. Jedenfalls: Zu einer Medienbetriebsfigur ist Gauland überhaupt erst im FAZ-Imperium geworden. In seinem zweiten Karriereschnitt in den Medien wirkte er dann - unter anderem - als Power-Kolumnist beim Tagesspiegel.

Wie gewissermaßen aktuell wiederum diese Kolumnen sind, in der er, ein Beispiel aus 2008 (!), "die zunehmenden Einschränkungen der demokratischen Debattenkultur durch alle möglichen moralischen Verbote aus dem Fundus der politischen Korrektheit" zu beklagen müssen glaubt - das habe ich in einer kurzen, linklastigen Kurzversion über "Pro-AfD-Kolumnen aus einer Zeit, als es die AfD noch gar nicht gab" und in einer längeren für epd medien jüngst anzureißen versucht.

Dass Alexander Gauland bei einer Zeitungsparty mitfeiert, ist in einer Hinsicht nur konsequent und völlig normal, denn was er schon vor zehn Jahren zum Thema Political Correctness geschrieben hat, beten Journalisten heute Tag für Tag nach, und das oft auch noch in einem Tonfall, als wäre es der neueste Schrei - wie aktuell Reinhard Mohr in der Welt (€).

Zwei Doppelstrategien

Auch Springer-Chef Mathias Döpfner singt bekanntlich gern den Gassenhauer von der vermaledeiten politischen Korrektheit, und natürlich tut er es auch im großen aktuellen Spiegel-Interview (€).

"Der öffentliche Diskurs folgt den rhetorischen Regeln der Political Correctness", sagt er unter anderem. Neben derlei AfD-Sprech finden sich auch Distanzierungen von der AfD ("Meine These ist: Wir erleichtern der AfD ihre widerliche Taktik"). Döpfner scheint hier also eine Doppelstrategie zu fahren.

Interessanter als seine laaaaangweiligen Einschätzungen zum Thema PC sind seine ergänzenden Äußerungen zu seiner jüngst in der Welt in amoklaufartiger Weise präsentierten Anti-Medien-"Verschwörungstheorie" (Altpapier):

"Ich habe von einigen professionellen Journalisten sehr viel harte Kritik erlebt, auch in den Publikationen des eigenen Hauses, was ich sehr gut finde. Es zeigt Mut und Pluralität. Von Nichtprofis gab es so viel Zustimmung wie selten, quer durch das Spektrum der Gesellschaft."

Hm, die Message scheint zu sein: Die "Nichtprofis", also die Frau und der Mann von der Straße (sofern das für die Lesenden der Welt die optimalen Beschreibungen sind), haben verstanden, was ich meine, und auf die kommt’s ja an, gell?

Hier spielt Döpfner noch einmal ein Motiv aus besagtem Welt-Artikel an, in dem von "einer medialen Elite, die Dinge zu oft eher beschwört und beschreibt, wie sie sein sollten, als zu beschreiben, wie die Lage ist" die Rede war - was auch wieder ein bisschen nach Alexander Gauland klingt, der 2009 "die Abgehobenheit einer politischen und medialen Elite" beklagte, "die eine Realität nicht akzeptieren, ja nicht einmal diskutieren möchte".

Ähnlich irritierend wie die Profis-Nichtprofis-Dichotomie ist noch eine andere von Döpfner vorgenommene "Zweiteilung":

"Wir erleben im Moment eine Zweiteilung: einerseits die maximale Polarisierung und Verrohung der Sitten vor allem in den sozialen Netzwerken. Die Sprache am Stammtisch in der Kneipe und am Stammtisch bei Facebook wird immer roher, intoleranter, wütender. Die Sprache vieler Politiker, Journalisten, Wirtschaftsführer, Künstler im öffentlichen und veröffentlichten Raum wird dagegen immer vorsichtiger, steriler."

Außen vor bleibt hier zum Beispiel, dass "Politiker, Journalisten, Wirtschaftsführer, Künstler" auch an den sozialmedialen "Stammtischen" präsent sind und dort Dinge von sich geben, die oft genug alles andere als vorsichtig klingen geschweige denn "vorsichtiger" als in einer von Döpfner hier nicht näher bezeichneten Vergangenheit.

Ob eine "maximale Polarisierung" überhaupt etwas Negatives ist - wie Döpfner jedenfalls an dieser Stelle nahe legt - bzw. ob die Zustandsbeschreibung zutreffend ist, stellt Nils Markwardt, Redakteur des Philosophie Magazins, in einem Facebook-Post in Frage:

"Zumindest implizit wird dabei oft ausgeblendet – oder womöglich sogar bewusst unterschlagen –, wie stark polarisiert frühere Jahrzehnte in der Bundesrepublik (und anderen westlichen Staaten) mitunter waren. Sprich: Es wird oft – implizit – unterstellt, dass sich aktuelle Polarisierungen vor dem Hintergrund einer einstmals soziopolitisch ausgeglichenen, womöglich sogar harmonisierten Zustand vollziehen."

Auf den oben im Zusammenhang mit Döpfner schon gefallenen Begriff Doppelstrategie müssen wir noch einmal zurück kommen. Drei renommierte Wochentitel und ein weniger renommierter "pirouettieren" (Samira El Ouassil, siehe auch Altpapier) in ihren aktuellen Ausgaben das Thema Meinungsfreiheit.

"Ist die Meinungsfreiheit in Gefahr?, lautet die Titelthema-Unterzeile vorn drauf auf der FAS, "Über echte und gefühlte Grenzen des Sagbaren" jene auf dem Spiegel-Cover. Ich bin ja weit entfernt davon, die Geschichte des Spiegel zu verklären, aber ich meine mich zu erinnern, dass es Zeiten gegeben hat, in denen es ausgeschlossen war, dass man sich in politischen Titelgeschichten um irgendwas "Gefühltes" kümmert.

Jenseits des problematischen Framings kann man hier konstatieren, dass eine differenzierte Sichtweise versprochen wird. Und tatsächlich scheinen die genannten Blätter folgende Doppelstrategie zu fahren: Vorn auf dem Titel die Verschwörungstheoretiker antriggern und Aufmerksamkeitsernte einfahren - und innen ein paar Leckerli anbieten, die auch die Kritiker der Verschwörungstheoretiker zufriedenstellen. Siehe dazu etwa den Thread, den Altpapier-Kollege Ralf Heimann nach Lektüre der Texte in Zeit, Spiegel und FAS gebaut hat. Harald Staun schreibt in der FAS zum Beispiel was sehr Vernünftiges:

"Schon wenn man sich die Sprache ein wenig genauer anschaut, in der all die grassierenden Sorgen und Ängste verfasst sind, das Raunen über den herrschenden Konsens, das Munkeln von Tabus und Ächtung, merkt man, dass sie keine empirische Tatsache sind, sondern eher ein Virus, der sich umso schneller verbreitet, je öfter man ihn den Menschen in den Mund legt. Es ist aber keine wirkungsvolle Therapie gegen diese Gefahr, wenn man sie ständig öffentlich ernst nimmt, sondern der Grund dafür, dass der Mythos derzeit so viele Freunde findet."

Und Friedrich Küppersbusch erinnert in seiner Montags-Interview-Kolumne in der taz daran, dass Die Zeit im Mai über eine von ihr nun wieder unter anderem für den Titelseiten-Aufmacher hervorgekramte, mit "Mängeln" (Staun) behaftete Allensbach-Studie noch geschrieben hatte, sie bediene die "unreflektiert nachgebetete Propagandaformeln des rechten Kulturkampfes".

Das Radio als Kulturförderer

In den aktuellen Ausgaben der Mediendienste epd medien und Medienkorrespondenz finden sich einige anregende Gedanken, die die Debatten um die Zukunft der Hörfunk-Kulturprogramme des RBB und des HR aufgreifen (siehe Altpapier).

Ania Mauruschat schreibt bei epd medien (derzeit nicht online):

"Es (ist) (…) eine zentrale Funktion der gebührenfinanzierten Rundfunkanstalten, Schriftstellerinnen, Musiker, Komponistinnen und Künstler jeder Art durch Aufträge finanziell zu unterstützen. Ohne Rundfunk hätte Karl-Heinz Stockhausen die elektronische Musik nicht maßgeblich voranbringen können, ohne Hörspieladaptionen von Klassikern wie "Moby Dick" oder "Der Mann ohne Eigenschaften", ohne die Förderung medienkünstlerischer Experimente, ohne die Aufträge an unbekannte Autorinnen und Autoren und die dadurch gegebenen Chancen, sich finanziell über Wasser zu halten und zugleich bekanntzuwerden, wäre unser geistiges Leben um ein vielfaches ärmer, stumpfer, deprimierender."

Ihr "überspitztes" Fazit:

"(D)ie Förderung von Kunst und Kultur und der Bildungsauftrag (gehören) heute vielleicht sogar zu den wichtigsten Aufgaben des Rundfunks. Informieren kann man sich auch in der Zeitung und Unterhaltung findet sich im Internet ohne Ende."

Uwe Kammann macht in der Medienkorrespondenz ein anderes großes Fass auf:

"Hier springen sichtbar alle Beteiligten in allen Sendern viel zu kurz, eben mit der Folge, dass die einzelnen Reformbemühungen wie jetzt beim HR oder beim RBB als jeweilige Einzelmaßnahmen nebeneinander stehen, allen kleineren Kooperationslinien und Austauschprojekten zum Trotz. Überall wird gleichsam das Rad neu erfunden oder das Modell neu konstruiert (…) Allein sechs Radioangebote beim HR, insgesamt 64 bei allen ARD-Anstalten, dazu die drei bundesweiten Programme vom Deutschlandradio: Das ist des Guten (besser: oft nur Durchschnittlichen, nicht selten Unsäglichen) viel zu viel."

Und ein noch größeres Fass hat Kammann ebenfalls noch parat:

"Das Immer-Mehr im dichten föderalen Geflecht ist allerdings eine heilige Kuh bei jeder Reformdiskussion (…) Zwei mutige ARD-Vorsitzende (die früheren Intendanten Udo Reiter, MDR, und Hartwig Kelm, HR) sind jeweils komplett gescheitert, als sie hier mit guten Argumenten ein grundlegendes Umdenken und eine gehörige Straffung der Gesamtstruktur vorgeschlagen haben. Nicht zuletzt gehörte eine Verringerung der Anzahl der Landesrundfunkanstalten zum Kern ihrer Modelle."


Altpapierkorb (#Baseballschlaegerjahre, Anna Wintour, Berliner Zeitung, Talkshowverteidigungen, Gender Pay Gap)

+++ "Seit Tagen trendet das Hashtag Baseballschlaegerjahre: Hunderte haben bisher in Tweets beschrieben, was ihnen in den Neunziger- und Nullerjahren mit Neonazis geschehen ist." Christian Bangel berichtet bei Zeit Online darüber, was eine von ihm selbst initiierte Aktion - die in Erinnerung rufen soll, dass neonazistische Angriffe kein neues Phänomen sind - bisher bewirkt hat.

+++ Die gewissermaßen ewige, jedenfalls schon seit 31 Jahren als Chefredakteurin bei der Vogue amtierende Anna Wintour ist am Sonntag 70 Jahre alt geworden. Die Samstags-SZ und der Tagesspiegel würdigen sie.

+++ Verglichen mit Wintour geradezu eine Nachwuchshoffnung: Michael Maier, 61. Mit ihm als Herausgeber will die Berliner Zeitung nun zurück in die Zukunft. Hintergrund: Maier war früher schon mal da (als Chefredakteur). In eigener Sache interviewt die Berliner Zeitung das neue Eigentümer-Duo, das Maier zurück geholt hat. Maier war im Übrigen Gründer der Netzeitung, wo die Geschichte des Altpapiers beginnt, er hat der Welt aber auch die kopp-verlagoiden Deutschen Wirtschafts-Nachrichten beschert (siehe u.a. netzpolitik.org). Die Kritik an den Deutschen Wirtschafts-Nachrichten findet Maier selbst "unfair" (Horizont). In einem dpa-Interview, das das Handelsblatt zitiert, sagt er: "Eine gute Tageszeitung ist für mich gerade im Zeitalter von Informationsflut, Desinformation und PR-Gestöber per se das Produkt der Stunde - und also auch der Zukunft." Darauf einen Dujardin!

+++ Joachim Huber (Tagesspiegel) und Carolin Gasteiger (Süddeutsche) finden die öffentlich-rechtlichen Polit-Talkshows gut - was sie deshalb bekunden, weil diese gerade den Negativpreis Goldene Kartoffel bekommen haben (Altpapier). Hier nebenan steht eine längeren Abhandlung zu der Frage, ob Polittalks "Gift oder Segen" sind (Disclosure: Der Text ist von mir).

+++ Umgerechnet 510 Euro Moderationshonorar für eine Frau und ca. 3.480 Euro für die Moderation einer vergleichbaren Sendung für einen Mann - dieser Gender Pay Gap bei der BBC ist der Auslöser für eine Klage der Moderatorin Samira Ahmed. Die taz berichtet.

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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