Teasergrafik Altpapier vom 21. November 2019: Einhörner versammeln sich
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Das Altpapier am 21. November 2019 Die Einhörner tun sich zusammen

21. November 2019, 11:11 Uhr

... um gemeinwohl-orientierten Journalismus auf Augenhöhe mit dem Modellbau zu bringen. Der Tiktoknewbie "Tagesschau" hat am Morgen schon "89.2k" Likes gesammelt, was die Frage nach einer öffentlich-rechtlichen Social-Media-Strategie wieder dringender macht. Wer auch oft Herzchen auf Plattformen wie Instagram vergibt: gehackte Kühlschränke. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Wie heißt es so schön im Spendenaufruf des spendenfinanzierten Blogs netzpolitik.org?

"Auch wenn wir bald eins der letzten Einhörner in der Medienlandschaft sind: Wir werden dich nie tracken, um deine Daten zu verkaufen."

Nur um Missverständnisse zu vermeiden (falls zufällig Investorinnen und Investoren auf der Suche nach besonders profitablen Anlagemöglichkeiten vorbeisurfen sollten): "Einhorn" bedeutet in diesem Fall nicht, dass rasch siebenstellige Umsätze erzielt werden können. Das ist mit Journalismus in jedweder Erscheinungsform derzeit schwierig. Vielmehr geht es um "Non-Profit-Journalismus". Sechzehn solcher gemeinwohl-orientierten bis gemeinnützigen Medien wie correctiv oder eben netzpolitik.org, Vereine wie das Netzwerk Recherche und Stiftungen, die Journalismus finanzieren und gern besser finanzieren können würden, haben sich nun zusammengetan.

"Sie setzen sich gemeinsam für bessere Rahmenbedingungen für den gemeinnützigen Journalismus in Deutschland ein. Es gilt, diese Form des Journalismus fest in unserem Mediensystem zu verankern, als Ergänzung zum privatwirtschaftlichen Journalismus und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk",

heißt es in der Erklärung des neu gegründeten Forums. Bislang verhält es sich nämlich so, dass in Deutschland Journalismus selbst gesetzesgemäß zurzeit gar nicht gemeinnützig sein kann, sondern, wie netzpolitik.orgs Markus Beckedahl erläutert, "thematisch passende andere Zwecke wie Verbraucherschutz (in unserem Fall) oder Bildung (Correctiv)" nutzen muss, um "einen Gemeinnützigkeitsstatus erhalten zu können und die eigene Arbeit über Spenden und/oder Stiftungsgelder finanzieren zu können".

Falls "die Politik", die natürlich angesprochen wird (und in allem, was Medien betrifft, ja besonders multiinstitutionell ist), zustimmen sollte, wäre nicht gleich alles prima. Was genau dem Gemeinwohl dient und wo genau Journalismus in etwas anderes übergeht, darüber lässt sich endlos diskutieren. Und, wie Lorenz Matzat auf Twitter einwandte: "Die Idee mit der Gemeinnützigkeit für Journalismus ist auf den 1. Blick einleuchtend. Nur zeigt die Aberkennung der selben – z.B. von Campact & Attac – das Risiko für die Unabhängigkeit auf: Was gemeinütziger J. ist, entscheidet im Zweifel das Finanzamt." Finanzämter erfüllen schließlich die wichtige Aufgabe, die Gießkannen der in Bund und Ländern regierenden großen oder bunten Koalitonen zu füllen; dass nicht eng staatsgebunden sei, wird niemand behaupten.

Aber um Fortschritte in der seit langem träge mäandernden Diskussion anzustoßen, ob Journalismus als wenigstens so förderungswürdig wie die nun gern erwähnten "Modellbau oder Amateurfunk" eingestuft werden kann, ist so ein Forum eine gute Idee.

Gibt's eine öffentlich-rechtliche Social-Media-Strategie?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, in dessen großem Rahmen auch das Altpapier erscheint, orientiert sich ja auch oft am "Public Value", wie Gemeinwohl auf sexy heißt, und ist in allen neuen Medienformen sehr rege. Zu den jüngsten Erfolgsmeldungen zählt der neue Auftritt des, wie Tiktokker sagen, Tiktoknewbies "Tagesschau" (um den es schon gestern hier ging). 

Gewiss wird das heitere Krawatten-Filmchen mit Jan Hofer auf die Leuchtturm-Flaggschiff-Ausstrahlung der, äh, starken Marke mindestens so sehr, äh, einzahlen wie es die vielfältigen Auftritte der "Tagesschau"-Kollegin Judith Rakers (demnächst etwa als Jurorin in einer Show mit "TV-bekannten Spitzenköchinnen und -köchen", Drehbühne und "Zufallsgenerator" ...) auch tun. Und die "Tagesschau" "bei jüngeren Zielgruppen noch präsenter und nahbarer machen", wie es ARD-aktuell-Chefredakteur Marcus Bornheim erhofft (heise.de/ dpa). Oder handelt es sich, wenn tiktok.com/@tagesschau die Aufforderung "Hol dir die App, um Kommentare zu sehen und mitzureden!" teilt, doch mindestens um "digitalen Übereifer" (Christian Jakubetz/Twitter)?

Immerhin gehen Daten, die die App von den sog. Smartphones ihrer Nutzer saugt, mal nicht nach Kalifornien, sondern nach China. Das variiert das Schema – und inspirierte einen Tweet, der ebenfalls eine Diskussion lohnt. Corinna Milborn, die für den österreichischen ProSieben.Sat1-Sender Puls 4 arbeitet, fragte:

"warum eigentlich verlangen öff-rechtl Sender von europ. Medien ca 1000 Euro pro Minute Material - während sie es US- und jetzt chinesischen Datenkraken schenken und extra aufbereiten? Und damit deren Reichweite & Glaubwürdigkeit als News-Quelle stärken? Läuft da nicht was falsch?"

Dieselbe Frage hatte Milborn, noch ohne China-Bezug, bereits im Oktober auf den Medientagen München aufgeworfen, wie die Medienkorrespondenz in ihrem Kongressbericht erwähnte: 

"Auch sie sprach von mehr Kooperation der Sender und davon, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen 'Gegenpol' zu den Unternehmen aus dem Silicon Valley bilden müsse. Deshalb habe sie kein Verständnis dafür, wenn die ARD anderen Fernsehbietern ihr Filmmaterial nur gegen Entgelt überlasse, während dieselben Bilder zugleich bei Facebook gepostet würden. So werde der Konkurrenz zu mehr Reichweite verholfen, ohne dass Facebook etwas dafür zahlen müsse."

Vom aktuellen ARD-Chef Ulrich Wilhelm, der im heimatlichen München in neuen Formulierungen ("ein komplett neues Ökosystem für Browser, Suchmaschinen und Empfehlungsalgorithmen", laut demselben Bericht), natürlich auch für seine Europäische-Plattform-Idee warb, sei direkt auf Milborns Frage eine eher schwachbrüstige Reaktion gekommen:

"Dazu gebe es aber keine Alternative, entgegnete der ARD-Vorsitzende Wilhelm. Schließlich würden Facebook und Google inzwischen so etwas wie eine öffentliche Infrastruktur bilden."

Sicher lässt sich der Infrastruktur-artige Charakter diverser Plattformen kaum noch bestreiten. Er wird desto stärker, je mehr dort auch alle möglichen Rundfunkbeitrags-finanzierten Inhalten erscheinen. Ob das darüber hinaus eher die öffentlich-rechtlichen Medienmarken oder eher deren Abhängigkeit von den Plattformen verstärkt, muss sich herausstellen (oder mal unabhängig untersucht werden). Wenn die Öffentlich-Rechtlichen die Strategie verfolgen, längst viel größere Wettbewerber zu stärken, weil diese halt Infrastrukturen besitzen: Was spräche dann dagegen, viel kleineren privatwirtschaftlichen Konkurrenten aus Europa ähnliches zuzugestehen? Würden die, nur zum Beispiel, gekennzeichnete "Tagesschau"-Bildern zeigen, würden sie die "Tagesschau"-Reichweite ja ebenfalls erhöhen.

Eine umfassende und transparente Gesamtstrategie für ihren Umgang mit den sogenannten sozialen Medien (über den ich 2017 einen "Jahrbuch Fernsehen"-Artikel schrieb, der ebenfalls auf medienkorrespondenz.de abrufbar ist) scheinen die Öffentlich-Rechtlichen weiterhin nicht zu besitzen – außer der, möglichst umfänglich dabei zu sein und sich über jeden Platz 1 in irgendeinem Ranking mindestens so zu freuen wie darüber, wenn "Um Himmels Willen" oder "Die Rosenheim-Cops" mal wieder beim gesamten Publikum in den Marktanteils-Charts vorne lagen.

Teure Follower, preiswerte Likes, gehackte Kühlschränke

Immerhin sind die sog. soz. Medien ja ein ziemlich perfekter Gradmesser für Beliebtheit und Akzeptanz bei jungen Leuten, oder? Jein mit Betonung auf dem zweiten Teil der Silbe, muss die Antwort nach der Lektüre der groß angelegten und visuell hübsch aufbereiteten Recherche lauten, die das deutsche vice.com-Portal anstellte. "Längst gibt es ein globales Netzwerk aus Menschen, die soziale Medien im großen Stil manipulieren und damit Geld verdienen", lautet die Zusammenfassung.

Sebastian Meineck und Theresa Locker haben für das komplex verschachtelte Geschäft der "automatisierten und massenhaften Beeinflussung der größten Plattformen der Welt" den Begriff "Applausfabrik" ersonnen. Wissenschaftlich unterstützt vom Hallenser Medienwissenschaftler Patrick Vonderau und der Kriminologin Masarah Paquet-Clouston aus Montreal, arbeiten sie heraus, was Interaktionen so kosten: Es gebe "2.500 internationale Follower für rund 40 Euro" zu kaufen, wohingegen für "bis zu 1.000 vernünftige Follower" im kleinen deutschen Sprachraum schon 50 Euro fällig würden. Nur 2,25 Euro würden 1.000 Instagram-Likes kosten.

Die Gesprächspartner, mit denen die Rechercheure sprachen, sind anonymisiert und können dennoch wenig mehr sagen als dass sie selbst auch nur Zwischenhändler sind. Der wohl interessanteste Aspekt der Recherche: Viele der Interaktionen stammten aus

"einem riesigen, weltweiten Netzwerk aus infizierten Routern, 'smarten' Kühlschränken, Fernsehern und anderen vernetzten Geräten. ... Das Verrückte daran: Die Besitzer bekommen meist gar nicht mit, dass der eigene Router im Wohnzimmer einem Botnet einverleibt wurde und heimlich Fake-Accounts auf Instagram erstellt."

Ganz am Ende des Artikels deutet sich noch an, dass der Handel mit Tiktok-Interaktionen bereits angelaufen ist. Schließlich handelt es sich, ob die Nutzer-Milliarde nun tatsächlich schon erreicht ist oder doch noch nicht ganz, um das bislang am schnellsten gewachsene Netzwerk überhaupt (blog.wiwo.de).

Aber das darf natürlich nicht dahingehend interpretiert werden, dass sehr viele der "89.2k" Herzchen, die Jan Hofers Krawattenfilm am Morgen um 8.19 Uhr erreicht hatte, von gehackten Kühlschränken stammen würden.


Altpapierkorb (Götz Aly vs. WamS, G20-Pannen,  Anti-Journalisten-Demo der NPD, Verfassungsgerichts-Logik, Sascha Lobo, "Muster für Investigativjournalismus", verwechselte Viet-Deutsche)

+++ Neues von den Friedrichs und ihrer Berliner Zeitung (zuletzt Altpapier gestern): Deren, also des Blattes langjähriger Kolumnist Götz Aly teilt nach nicht nur Seiten-Hieben gegen sehr ehemalige Führungskräfte des Blattes auch gegen Springers Welt am Sonntag aus: Die habe nur "einen dünnen Mischmasch aus Vermutungen, Vorverurteilungen und offensichtlichen Halbwahrheiten" geboten und sich als "fliegendes Standgericht" aufgeführt. Was die Stasi-Frage betrifft: "In seiner offenkundigen Spannung zwischen Opfer/Täter und anderen Opfern könnte gerade dieser Fall einen hohen und differenzierten Erkenntnisgewinn bringen."

+++ "Mit dem Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom Mittwoch gegen das Bundespresseamt ist klar: Auch der Entzug der Akkreditierung von 32 Journalist*innen gehört in die Sammlung staatlicher Pannen rund um den G20-Gipfel", kommentiert die taz das Urteil, das nun zu den 2017 entzogenen Presseakkreditierungen (Altpapier) fiel. Geklagt und gewonnen haben die freien Journalisten Sebastian Friedrich und Raffael Heygster.

+++ Um die Anti-Journalisten-Demo der NPD, die am vergangenen Freitag hier Thema war und am kommenden Samstag stattfinden soll, geht es auf der SZ-Medienseite. "Die NPD ist eine Splittergruppe, doch der geplante Aufmarsch löst bundesweit Entsetzen aus. Mindestens fünf Gegendemos sind angekündigt", und "die Möglichkeit eines Verbots" stünde auch noch im Raum, berichtet Peter Burghardt.

+++ Heute auf der FAZ-Medienseite: eine große Rede des Deutschlandradio-Intendanten Stefan Raue über Medien in der Perspektive des Bundesverfassungsgerichts. Was diese "neue Medienwelt zwischen politischer Direktansprache via Twitter und Facebook und der Dominanz der neuen globalen Monopolisten" betrifft, sei "in der Logik des Verfassungsgerichts ... mittelfristig das Privileg der Beitragsfinanzierung nur dann gerechtfertigt, wenn es den Öffentlich-Rechtlichen gelingt, in dieser neuen Öffentlichkeit das wirksame Gegengewicht darzustellen, das eine umfassende, vielschichtige, den Zwängen des Marktes nicht unterworfene und unabhängige politische Berichterstattung bietet und den freien politischen Diskurs in einer Demokratie ermöglicht." +++ Und um die Social-Media-Strategie der Bundeswehr, die der langjährige ARD-Korrespondent Christian Thiels mit entwickelte, geht es.

+++ Vor 50 Jahren (und inzwischen acht Tagen) erschien das "Muster für Investigativjournalismus", das noch immer nachwirkt: Seymour Hershs erster Artikel über das Massaker, das die US Army im südvietnamesischen Dorf My Lai angerichtet hatte. Konrad Ege blickt in epd medien zurück.

+++ Vor einer Woche irritierte Sascha Lobo in der Illner-Talkshow so einige Sympathisanten (falls er nicht sogar mit Pauken und Trompeten gegen Ralf Schuler von der Bild-Zeitung verlor; ich würde weiterhin Frank Lübberdings faz.net-Besprechung empfehlen ...). Jetzt ist er in seinem ursprünglichen Element des schriftlichen Texts Lobo wieder in Form und beschreibt luzide "die debakulöse Kommunikationsinfrastruktur in Deutschland" (SPON). Was die Digitalpolitik der Äras Kohl, Schröder und Merkel eint: "dass sie immer im jeweils falschen Moment entweder auf den Markt setzten, wenn man staatlich hätte eingreifen müssen. Oder auf den Staat, wenn man den Markt hätte wirken lassen müssen."

+++ "Anscheinend kann es nur eine viet-deutsche Youtuberin in den Öffentlich-Rechtlichen geben, sonst implodiert das deutsche Fernsehen" (Samira El Ouassil in ihrer uebermedien.de-"Wochenschau" mit Bezug auf die ZDF-Show "Volle Kanne"). +++ Und auf der Ausgabe der Zeitschrift Hörzu, die Sigrid Neudecker ebd. kürzlich sehr schön besprach, war, mittelbar, wieder Judith Rakers drauf ...

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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