Teasergrafik Altpapier vom 22. Januar 2020: Greta Thunberg, Umweltaktivistin und Schülerin aus Schweden, nimmt vor der Eröffnungssitzung des Weltwirtschaftsforums (WEF) ihren Platz ein.
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Das Altpapier am 22. Januar 2020 Greta Thunberg wiederholt Zahlen, die Journalisten nicht nennen wollen

22. Januar 2020, 12:00 Uhr

Die "Tagesthemen" senden einen denkwürdig albernen Kommentar zum Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums. Renate Künast erringt vor Gericht einen Teilerfolg in Sachen Hetzkommentare. Ein Altpapier von René Martens.

Zwei Männer von der Welt schrieben gestern, dass Greta Thunberg bei Weltwirtschaftsforum in Davos "hinter den selbst geweckten Erwartungen zurück" geblieben sei. Den Gipfel der Albernheit erklomm allerdings eine offensichtlich ebenfalls sportjournalistisch ambitionierte Frau von den "Tagesthemen", die unter Bezug auf ein von ihr herbei fantasiertes Duell zwischen Thunberg und Donald Trump sagte:

"Dieses Mal ging der Präsident als Gewinner vom Platz."

Lutz Hachmeister hat kürzlich ganz am Ende eines an dieser Stelle oft zitierten Interviews gesagt:

"Dem öffentlich-rechtlichen Politikjournalismus würde nur ein härtestes Weiterbildungsprogramm weiterhelfen."

Bei Sabrina Fritz - so heißt die Kommentatorin, die Trump "als Gewinner vom Platz" gehen sah - hülfe wohl nicht einmal das, weil die Grundlagen für eine Weiterbildung gar nicht vorhanden sind.

Mit dem, was Journalisten in ihrer aktuellen Thunberg-Berichterstattung weggelassen haben, beschäftigt sich der gerade als "Blogger des Jahres" nominierte Volksverpetzer.

Thomas Laschyk zitiert in diesem Zusammenhang erst einmal die SZ:

"Ganz zum Schluss der Diskussion (holt) Thunberg (...) einen Zettel heraus, liest Zahlen und Daten des Weltklimarats IPCC vor. Wie viel Gigatonnen CO2 noch übrig sind, welche die Menschheit verbrauchen darf. Warum die Welttemperatur nicht weiter stark steigen darf. Warum die reichen Länder CO2-neutral werden müssen. Warum sie den ärmeren Ländern dabei helfen müssen. 'Seit dem Sommer wiederhole ich diese Zahlen, immer und immer wieder', ruft sie. 'Aber es wird immer noch nicht ausreichend darüber berichtet. Ich werde sie daher immer wiederholen, bis das endlich zur Kenntnis genommen wird.'"

Laschyk dazu:

"Und? Fällt es dir auf? Greta wird zitiert, dass sie diese Zahlen immer und immer wieder wiederholt. Und dass nicht ausreichend darüber berichtet wird. Und was wird in diesem Artikel nicht erwähnt? Genau diese Zahlen."

Der Volksverpetzer hat sich dann angeschaut, welche Medien diese Zahlen ebenfalls nicht zitiert haben: "Zeit Online nicht, die Frankfurter Rundschau nicht, Tagesspiegel nicht". Und im eingangs erwähnten Welt-Artikel kommen sie auch nicht vor. Dafür liefert Laschyk eine deutsche Übersetzung der entsprechenden Passage, unter anderem folgenden Ausschnitt:

"Auf Seite 108 im S.R. 1.5. IPCC report, welcher 2018 veröffentlicht wurde, heißt es, um eine 67-prozentige Chance zu haben, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf unter 1,5°C zu begrenzen, haben wir mit dem 1.1.2018 etwa 420 Gigatonnen CO2 übrig, welche wir ausstoßen können. Natürlich ist diese Zahl heute viel kleiner, da wir etwa 42 Gigatonnen CO2 jedes Jahr ausstoßen, einschließlich Landnutzung. Mit heutigen Ausstoßraten ist dieses Budget in weniger als acht Jahren aufgebraucht.”

Allzu viele Journalisten reden oder schreiben offenbar lieber über "Gewinner" statt über Gigatonnen.

Landgericht Berlin: Halbherzige Korrektur einer falschen Entscheidung

Im Herbst entschied die 27. Kammer des Landgerichts Berlin, es sei schon in Ordnung, Renate Künast auf Facebook auf verschiedenste Weise zu beleidigen (Spiegel, Altpapier). Mit einer Beschwerde hat die Grünen-Politikerin nun eine "Kehrtwende" (tagesschau.de) erreicht. Allerdings nur bei sechs von insgesamt 22 Facebook-Kommentaren.

Claudia Kornmeier aus der ARD-Rechtsredaktion schreibt in dem verlinkten tagesschau.de-Artikel:

"Im Einzelnen geht das Gericht (...) nun davon aus, dass die Kommentare teilweise unzulässige Schmähkritik sind - also eine bloße Herabsetzung der Person, keinerlei Auseinandersetzung in der Sache.

So erschöpften sich die Kommentare etwa in Schimpfwörtern - "Schlampe" und "Drecks Fotze". Oder aber sie seien "offen eine Anspielung an die Vernichtung von Menschen während des Nationalsozialismus" - wie die Bezeichnung von Künast als "hohle Nuß, die entsorgt gehört" und als "Sondermüll". In seinem ersten Beschluss hatte das Gericht dies noch als "überspitzte Kritik" eingeordnet. Daran wird nicht mehr festgehalten, weil der Betreiber der Facebook-Seite dem "sehr rechten Spektrum" zuzurechnen sei."

Im Fall der sechs Kommentare kann Künast nun bei Facebook die Herausgabe der Daten der Nutzer verlangen, "um anschließend zivilrechtlich gegen diese Nutzer vorgehen zu können" (Kornmeier).

Interessant ist nicht zuletzt, welche Facebook-Kommentare die Richter weiterhin als im Rahmen der Meinungsfreiheit für zulässig erachten - zumal diese Kammer normalerweise dazu neigt, nicht im Sinne der Meinungsfreiheit zu entscheiden (worauf der Medienrechtsexperte Thomas Stadler bei Twitter hinweist). Beispiele dafür, was die Richter durchgehen lassen, nennt der Jurist und Journalist Felix W. Zimmermann in einem Thread. "Wurde sie als Kind zu viel gefickt?" gehört dazu.

In einer Pressemitteilung der Organisation Hate Aid, die das Verfahren gemeinsam mit der Politikerin geführt hat, kommentiert Künasts Anwalt Severin Riemenschneider sarkastisch:

"Äußerungen wie (...) 'Pfui du altes grünes Dreckschwein…' (seien) weiterhin zulässig. Offenbar stellen diese Aussagen wertvolle Debattenbeiträge dar."

Gegenüber der FAZ (€) sagt Riemenschneider, er halte

"die Argumentation der 27. Zivilkammer für den Versuch, ihren früheren, heftig kritisierten Beschluss gesichtswahrend zu relativieren, ohne einräumen zu müssen, dass die Entscheidung schlicht falsch gewesen sei".

Zimmermann geht davon aus, dass die nächste Instanz (Kammergericht) "jedenfalls bei den sexualisierten Diskreditierungen noch weitere Auskunftsansprüche zu Nutzerdaten anerkennen wird."

Was nicht so gut ist beim WDR

250 Jahre Beethoven, 40 Jahre Die Grünen, 20 Jahre Altpapier - in diesem Jahr mangelt es nicht an runden Jubiläen. Wir wollen an dieser Stelle natürlich keineswegs die, ähem, etwas weniger aufmerksamsträchtigen Geburtstage aus dem Blick verlieren. Gefeiert wird in diesem Jahr auch bei den sympathischen Lobbyisten von der AG Dokumentarfilm (AG Dok). Die hat zwar erst im September Geburtstag - sie wird 40 Jahre alt -, aber den ersten Jubiläumsartikel gibt’s schon. AG-Dok-Geschäftsführer Thomas Frickel hat ihn für medienpolitik.net geschrieben. Darin kritisiert er, nahezu sämtliche im Reich der ARD ausgestrahlten Dokumentarfilme seien

"allenfalls zu Bruchteilen fernsehfinanziert. Weil das mit Milliardensummen apanagierte Fernsehen im Hinblick auf den Dokumentarfilm seinen Programmauftrag vernachlässigt, stranden viele Dokumentarfilme bei der Förderung und verschwinden nach halbherzigen Kinostarts schon nach wenigen Tagen wieder von der Leinwand, obwohl sie als reine Fernsehproduktionen von Anfang an wesentlich besser aufgehoben wären".

Trotz der beklagten notorischen "Vernachlässigung" lobt Frickel diverse "Persönlichkeiten" unter den Intendantinnen und Intendanten der ARD - auch die Chefin des Ladens, bei dem das Altpapier erscheint, also "Frau Prof. Wille", wie sie im Text genannt wird. Aber, und nun kommt ein Hierarch ins Spiel, der gerade als Einknicker in Sachen Kunstfreiheit aufgefallen ist,

"die ARD ist nun einmal ein ziemlich disparater Verein, in dem auch Leute wie WDR-Intendant Tom Hasenherz den Ton angeben – überheblich, überschätzt, überfordert und überbezahlt zerlegt er aus persönlicher Eitelkeit, was andere mühsam aufgebaut haben. Auf persönlich an ihn gerichtete Schreiben und Gesprächsangebote der AG Dokumentarfilm zu antworten, ist unter seiner Würde – das überträgt er einer stellvertretenden Abteilungsleiterin."

Die eleganteste Retourkutsche aller Zeiten ist das nun nicht gerade, aber gewiss ein wichtiges Mosaiksteinchen in der Debatte um die Rolle des Dokumentarfilms im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Als Ergänzung sei hierzu noch Steffen Grimbergs taz-Interview mit der Dokumentarfilmregisseurin Alice Agneskirchner aus der vorigen Woche empfohlen. Sie sagt Ähnliches wie Frickel:

"Alleine mit TV-Geld kann man heute keinen Dokumentarfilm machen. Der wäre ohne das Kino und die entsprechende Filmförderung nicht denkbar. Denn das Fernsehen – egal welcher Sender – zahlt auf jeden Fall zu wenig (...). Ein Siebtel bis ein Achtel des Geldes kommt vom Fernsehen, der Rest kommt aus den verschiedenen Kino-Fördertöpfen. Dabei müsste es sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk eigentlich leisten, solche Produktionen komplett zu finanzieren."

Was gut ist beim WDR

Weil wir beim Altpapier ja niemals ungerecht sind, wollen wir den Sender, dessen Intendant "in der Gutsherrenmentalität der achtziger Jahre steckengeblieben ist" (Frickel) aber auch mal loben, nämlich für die Sendung "Sport Inside".

Sportberichterstattung ist im Altpapier ja in der Regel dann ein Thema, wenn es etwas zu kritisieren gibt, am vergangenen Montag etwa war es der hallodrihafte Umgang des ZDF mit journalistischer Ethik, der darin zum Ausdruck kommt, dass Vorstandsmitglied des FC Bayern als freier Mitarbeiter für den Sender tätig ist.

"Sport Inside" beleuchtet auf facettenreiche Art die (gesellschafts-)politischen Dimensionen des Sports, das Themenspektrum reicht von den Folgen des Schwimmbadsterbens über Rechtsextremismus im Fußball-Milieu bis zu von Funktionären zu veranwortende Menschenrechtsverletzungen an Mittelstreckenläuferinnen. Letzterer Beitrag wurde - und nun kommen wir zum Anlass für die Würdigung an dieser Stelle - gerade mit einer Teilnominierung für die Grimme-Preis-Kategorie "Besondere Journalistische Leistung" belohnt (Disclosure: Ich war Mitglied der Kommission, die darüber entschieden hat)

Im linearen Fernsehen macht "Sport Inside" stets relativ lange Winterpause: Die letzte Sendung lief am 27. November, und die nächste kommt erst am 19. Februar. Aber - und nun kommen wir zum zweiten Anlass für die Würdigung an dieser Stelle - in einem Online-only-Beitrag, der Anfang der vergangenen Woche veröffentlicht wurde, hat dieses WDR-Magazin mal wieder seine Stärken ausgespielt. Hier geht es um die fehlende Strategie des Deutschen Handballbundes, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund für ihren Sport zu gewinnen - ein Makel, der dazu beigetragen haben dürfte, dass der hiesige Handball in der vergangenen zehn Jahren 25 Prozent seiner Wettkampfmannschaften verloren hat. Der Beitrag ist differenziert, greift Kritik von der Basis auf und Kritik von Wissenschaftlern (die entsprechende Studie erwähnt auch die Frankfurter Rundschau), zeigt aber auch, wo es vor Ort besser läuft.

Mit einer gewissen Verspätung gelangte das Thema dann auch an ein Publikum, das die Sendung wohl eher nicht kennt. Die unter anderem hier kritisierte Bild-Zeitung schrieb unter Bezug auf ein paar Reaktionen vom rechten Rand, der WDR eine "giftige Debatte", die der WDR losgetreten habe. Das Urteil der Springer-Leute:

"Dieser öffentlich-rechtliche Beitrag zur Integration in Deutschland ging voll nach hinten los."

Ein besseres Indiz für die Qualität eines Beitrags kann es kaum geben. Und wie grotesk es ist, angesichts Pöbeleien von rechts einfach mal eine "Debatte" auszurufen - darauf weist aus diesem Anlass noch einmal der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje hin.


Altpapierkorb (Meghan Markle, Neues Beispiel für Streisand-Effekt, Barrierefreies Posten, Hamburger Morgenpost)

+++ Obwohl Prinz Harry und Meghan Markle gemeinsam verkündet haben, sich aus dem Königshaus zurückzuziehen, "scheint für viele klar, dass hier eine Frau ihren Mann manipuliert hat. Und zwar nicht nur für die Boulevardpresse" - Margarete Stokowski knüpft mit ihrer Spiegel-Kolumne an Jenni Zylkas Altpapier von vergangenem Freitag an.

+++ Ein neues Beispiel für den Streisand-Effekt greift Kontext auf: "Wenn jemand so vehement seine Identität verbergen will", wie das kürzlich bei einem "schießwütigen" Christdemokraten aus Köln der Fall war, "lockt er all diejenigen herbei, die da besonders genau nachforschen" bzw. landet dann halt auch mal kurzzeitig auf "Platz 1 der meistgenannten Hashtags auf Twitter", wie es @mediasres vor rund zwei Wochen formulierte.

+++ Wie erfolgreich und gefährlich YouTube-Kanäle sind, "die antisemitische Verschwörungstheorien und esoterische Lebenshilfe vermischen", dröselt Zeit Online auf.

+++ Über die Tagung "Zukunft der Medienpolitik", die das Hauptthema im Altpapier von Dienstag war, berichtet heute auch die SZ-Medienseite.

+++ Um gehörlosen und blinden Menschen einen besseren Zugang zu sozialen Netzwerken zu ermöglichen, haben Inklusionsaktivistinnen und -aktivisten die Initiative barrierefreiposten.de gestartet. Mareice Kaiser berichtet für die taz.

+++ Bei den Redakteuren der (noch) DuMontschen Hamburger Morgenpost (siehe erneut Altpapier von Dienstag) sei die Stimmung angesichts drohender Arbeitslosigkeit "am Boden", weiß @mediasres. Von einer Protestaktion der Mitarbeiter vorm Verlagsgebäude berichtet Verdis Medienmagazin.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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