Teasergrafik Altpapier vom 19. November 2020: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 19. November 2020 Kein Dünger für Fakes und Schwurbler

19. November 2020, 12:54 Uhr

Es ist schon fast an der Tagesordnung, dass Journalist:innen bei Demos grob angefeindet an der Arbeit gehindert werden – das als Normalität zu akzeptieren wäre fatal. Am Beispiel des Zwangsimpfungs-Narrativs stellt sich die Frage: Was bringen Fake-Checks überhaupt? Durch weitere Berichterstattung nehmen die absurden Mythen noch mehr Raum ein. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Nicht abstumpfen

Es ist mittlerweile wirklich keine Überraschung mehr, aber trotzdem verlieren die Situationen nicht ihr erschreckendes Moment: Auch bei den Demonstrationen gestern in Berlin gegen die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes berichteten verschiedene Kolleginnen und Kollegen von Übergriffen durch Demonstrierende, Ignoranz einzelner Polizeikräfte und teilweise so erhitzter Stimmung, dass eine einigermaßen sichere Berichterstattung nicht mehr möglich gewesen sei.

Ähnlich kenne Reporterinnen und Reporter das schon von anderen "Querdenken"-Demos: vor gut zwei Wochen in Leipzig (Altpapier), von Dunja Hayali im Sommer (Altpapier). Hier zunächst mal einige der gestrigen Erfahrungen:

Sebastian Leber vom Tagesspiegel twitterte z.B. über einen Polizisten, der ihn aufforderte, seinen Presseausweis jederzeit sichtbar zu tragen.

"Auf meinen Einwand, dass wir Journalisten dann angegriffen werden, sagte er wörtlich: 'Ja, das ist dann Ihr Problem.'"

Auch Thomas Laschyk vom Volksverpetzer hat im Demo-Liveticker verschiedene Übergriffe auf Medienmenschen dokumentiert, Redaktionen von ZDF und ARD bekamen vorsorglichen Polizeischutz und die dju (Deutsche Journalistinnen und Journalisten Union) spricht davon, dass mindestens ein halbes Dutzend Medienvertreterinnen und -vertreter an der Arbeit gehindert wurde. Viele andere kamen in den Genuss verbaler Bedrohungen und Beschimpfungen. Die dju-Vorsitzende Tina Groll erklärte dazu:

"Die Radikalisierung der Corona-Proteste hat sich fortgesetzt. Zeitweise mussten Journalistinnen und Journalisten die Kundgebung verlassen und sich zurückziehen, um nicht in das Visier der Demoteilnehmenden zu geraten. Die Polizei hatte schon im Vorfeld darüber informiert, nicht für den Schutz einzelner Reporterinnen und Reporter sorgen zu können – das sind Zustände, die nicht akzeptabel sind."

Zwar wirken solche Situationen und solche Mahnungen durch ihre aktuelle Regelmäßigkeit, als wäre man in einer schlechten Dauerschleife gefangen. Sie stehen hier aber trotzdem am Beginn der Kolumne, weil Abstumpfung und Akzeptanz dieser journalismusfeindlichen Stimmung auf Dauer fatal wären – vor allem in dieser Pandemie-Ausnahmesituation, in der Fragen nach einer Abwägung verschiedener Grundrechte, kritische Einordnung teils eilig getroffener Corona-Maßnahmen und die Beobachtung antidemokratische Strömungen so drängend sind.

Illusion der Steigerung

Nicht zu vergessen sind dabei natürlich die Verschwörungsmythen, mit denen einige der Corona-Gegner:inne ihre Anhänger mobilisieren. Sascha Lobo vergleicht den Fake- und Schwurbel-Moloch und die Verschwörungs-Rabbit-Holes in den Weiten des Netzes in seiner Spiegel-Kolumne mit der Shepard-Skala. Die Audio-Sequenz erzeugt die Illusion einer sich ins Unendliche steigernden Tonfolge, die ziemliche Anspannung und Nervosität erzeugen kann. Lobo schreibt in seinem lesenswerten Text (in dem er auch Szenarien für einen Austritt aus dieser Blase skizziert):

"Meiner Ansicht nach handelt es sich um exakt das Muster, mit dem eine sehr laute, sehr öffentlichkeitswirksame Minderheit ihre Höllenblase aufrechterhält. Das erklärt auch, warum Nazivergleiche zum Alltagsinstrumentarium der Corona-Querfront gehören. Es entspricht dem deutschen Maximalhorror, den man bei einer ständigen Steigerung zwingend erreicht. In einigen Coronaleugner-Gruppen wird von einem ‚Impf-Holocaust‘ in ‚Corona-KZs‘ fabuliert. Zweifellos monströse Entgleisungen, aber sie sind auf Corona bezogen spätestens seit Sommer im Umlauf und haben aus Sicht der Radikalisierer den Nachteil, dass sie sich nicht mehr steigern lassen. Außer eben, wenn man das ständige Steigerungsgefühl herbeitäuscht, wie es die Shepard-Skala der Selbsterregung bewirkt."

Was bringen Fake-Checks?

Ist dabei die Aufreihung dieser haarsträubendsten Fakes und Verschwörungserzählungen durch Journalist:innen sinnvoll? Dient sie der Aufklärung? Oder stanzt sie Schwurbeleien durch ständiges Wiederkäuen und nur noch tiefer in die Netzöffentlichkeit und die Aufmerksamkeitsskalen hinein? Beispiele sprossen gestern wieder dicht wie Brennessel-Dickichte aus dem Boden – hingebungsvoll gedüngt von Schwurblern anlässlich der der Verabschiedung der Änderungen am Infektionsschutzgesetz und den Meldungen zur Impfstoffentwicklung.

Bei der Deutschen Welle wurden gestern etwa einige Behauptungen zum Zwangsimpfungs-Narrativ aus den Tiefen von Telegram, Twitter und Facebook gefischt, um sie allesamt als falsch einzuordnen und im Checkpoint-Newsletter amüsierte Lorenz Maroldt sich über absurde Mythen wie "Impfmücken" bei den Berliner Demos gestern und gefälschte Polizei-Tweets. Und auch über der Vergleich des Infektionsschutzgesetzes mit dem E-Wort aus dem Jahr 1933 wurde weiter diskutiert (z.B. Deutsche Welle, ZDF, FAZ) und damit verbreitet. (Die Ironie, dass auch diese Kolumne solche Erzählungen durch Thematisierung weiter durch‘s Netz peitscht, ist mir bewusst).

Die Frage ist aber auch: Was wäre die Alternative? Ignorieren und den kruden Theorien in ihren Bubbles weiter dem Dünger der Schwurbler überlassen? Das ist mit journalistischem oder gar medienjournalistischem Verantwortungsgefühl schwer zu vereinbaren. Deshalb: Einordnen, aber  wenn‘s geht mit genauer Beobachtung der Genese des jeweiligen Mythos. Denn das Perfide ist ja häufig, dass die meisten Verschwörungsmythen an einem Körnchen Wahrheit anknüpfen, das dann ins unermesslich Absurde weiter gedrechselt wird.

Dem "Impfmücken"-Mythos könnte z.B. die Meldungen aus einem anderen Nachrichtenjahrzehnt (2010) über japanische Forscher zugrunde liegen, die Mücken gentechnisch so veränderten, dass sie in ihrem Speichel einen Stoff entwickelten, der beim Menschen Antikörper gegen die Infektionskrankheit Leishmaniose erzeugen sollte. Diese kuriose aber doch eher unscheinbare Meldung wurde damals z.B. beim Deutschlandfunk und t-online aufgegriffen.

Ob auf entlarvende Weise oder nicht: Durch weitere Berichterstattung nehmen die absurden Mythen jedenfalls immer mehr Raum ein, auch im Bewusstsein von Journalist:innen. Ich selbst habe mich letztens dabei erwischt, wie ich beim Redigieren einer nachrichtlichen Meldung überlegte, ob die Freiwilligkeit der Impfung besonders betont werden sollte.

Das Verschwörungsnarrativ des staatlich verordneten Impfzwangs war so präsent, dass die Autorin den Reflex verspürte, es direkt vorsorglich zu widerlegen und von einer "freiwilligen Impfung" schrieb. Letztendlich haben wir uns in der Situation entschieden, die Bezeichnung aus dem Leadsatz zu streichen und uns nicht von der kleinen, lauten Minderheit zu vorauseilender Gegenwehr verleiten zu lassen - vor allem nicht im nachrichtlichen Bereich.

Eine grundsätzliche und eindeutige Lösung habe ich für dieses Problem trotzdem nicht, nur viele Fragen, die im Einzelfall aufpoppen. Und das ist angesichts der vielen absurd einfachen Behauptungen im Netz ja fast schon wieder beruhigend...


Altpapierkorb (Geburt des Altpapiers, Rundfunkbeitrag, Lokaljournalismus in der Pandemie, Fleets)

+++ In der Kontext Wochenzeitung blickt der Entwickler dieser Kolumne, Tom Schuler, zurück auf die Entstehung des Altpapiers vor 20 Jahren und die damaligen Beweggründe. Vielen Dank für diese Blumen und den gleichzeitigen Ansporn für die kommenden Jahre: "Heute ist das 'Altpapier' an guten Tagen interessanter, relevanter und vielschichtiger als die Medienseiten, deren Inhalte es verlinkt. Auch, weil Inhalte ja längst auch ungefiltert direkt von Journalisten und Medienleuten aus Publikationen, Sendern, Universitäten, Unternehmen, Behörden und von anderen Bloggern kommen. Je mehr Originalquellen verlinkt sind, umso hilfreicher ist es, weil Spin, Fehlinterpretationen, Ungenauigkeiten und Übertreibungen mancher AutorInnen deutlich werden. So schafft das 'Altpapier' Zugang zu vielen Perspektiven und Transparenz."

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+++ Fast die Hälfte der Anteile am Berliner Rundfunk wechseln den Besitzer, berichtet Radiowoche.de. Das Kölner Medienhaus DuMont ist raus...

+++ Über die Bedeutung der neuen Fleets bei Twitter und die Strategie dahinter, macht sich Geschenkpapier-Autor Imre Grimm bei RND.de Gedanken.

+++ Das Bundesjustizministerium will die Kennzeichnungsregeln für Influencer:innen erneuern. Der Entwurf sehe vor, "dass bei einer geschäftlichen Handlung ausschließlich zugunsten eines fremden Unternehmens nur dann ein kommerzieller Zweck anzunehmen ist, wenn der Handelnde ein Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung für die Handlung von dem fremden Unternehmen erhält (§ 5a Absatz 4 UWG). Damit wird klargestellt, dass Empfehlungen von Influencern ausschließlich für Dritte ohne Gegenleistung keine kennzeichnungspflichtige kommerzielle Kommunikation darstellen", heißt es auf der Ministeriumswebsite. Die bisherigen Regelungen hatten in den vergangenen Jahren zu verschiedenen Gerichtsprozessen und "Abmahnwellen" geführt (Altpapier).

+++ Leo Fischer seziert bei der Zeit auf sehr amüsante Weise wie das Wörtchen "perfekt" sich "von der Sprachkritik weitgehend unbemerkt" in der Alltagssprache breit macht.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Freitag.

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