Teasergrafik Altpapier vom 3. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 3. März 2022 Kretschmer übertrifft sich selbst

03. März 2022, 13:30 Uhr

Christian Drosten will nicht mehr senden. Die Facebook-Reichweiten-Könige von RT DE dürfen nicht mehr senden. Und Michael Kretschmer gibt den Gerhard Schröder der CDU. Ein Altpapier von René Martens.

"Buried in the news of the week"

Wie es einzuschätzen ist, dass "Das Coronavirus-Update" des NDR ab April zumindest vorerst nicht mehr in der bekannten Form produziert wird, hätte vor zehn Tagen wahrscheinlich viele ausführliche Reaktionen nach sich gezogen. Dass das Format zwar weiter läuft, Sandra Cisek und Christian Drosten aber erst einmal nicht mehr dabei sind - damit setzt sich auf Seiten der etablierten Medien meiner Wahrnehmung nur der "Tagesspiegel" relativ umfangreich auseinander. Dort heißt es:

"Zur Begründung führt (Drosten) seine Einschätzung des weiteren Verlaufs der Corona-Pandemie an. 'Ich habe das Gefühl, dass die Orientierung in der Pandemie da ist.' Vielleicht gebe es gegen Ende des zweiten Quartals wieder Informationsbedarf hinsichtlich der Update-Impfung. 'Bis dahin bleibt nicht mehr viel zu sagen.'"

Dass immer noch Dinge passieren, über die es viel zu sagen gäbe, zeigt dagegen eine Studie, die bisher "buried in the news of the week" war, also begraben in den Nachrichten der Woche: Sie zeigt, dass die Mehrheit der Kinder in den USA mit dem Coronavirus infiziert wurde (poynter.org).

Joachim Hubers "Tagesspiegel"-Text endet folgendermaßen:

"Natürlich ist es mehr als eine erfreuliche Nachricht, dass die Pandemie wenn schon nicht vorüber ist, so doch wenigstens ihren Höhepunkt überschritten hat (…) Aber auch das stimmt: Wer schweigt, überlässt anderen das Reden. Wie beunruhigend im Fall von Sandra Ciesek und Christian Drosten."

Kathrin Eb schreibt bei Twitter dagegen:

"Falsches Signal? Die Besorgten/Interessierten sind gut informiert. Diejenigen, die sich bisher unsolidarisch gezeigt haben oder die nicht erreicht werden konnten, wird man vermutlich auch mit weiteren 100 Folgen nicht bekommen."

Über Satire in unfriedlichen Zeiten

Ist die Frage "Was darf Satire?" möglicherweise ungefähr so sinnvoll wie "Was darf Journalismus?" - diese, tja, Frage wirft eine neue Folge des "Übermedien"-Podcasts "Holger ruft an" auf. Holger Klein hat dieses Mal mit Tim Wolff gesprochen, der früher Chefredakteur der "Titanic" war und heute dort zum Herausgeberteam gehört (und als Autor für das "ZDF Magazin Royale" arbeitet).

Ob es "in Kriegszeiten" oder "im Umgang mit Krieg" Grenzen gebe, die er "eher nicht" überschreite, die er "in Friedenszeiten" aber überschreiten würde, fragt Klein. Wolff dazu: "Es gibt schon Dinge, wie im seriösen Journalismus auch, die man nicht reproduzieren sollte. Die Frage, "wen oder was man zitiert, was man aufnimmt, was man wiederholt", stellten sich auch Satiriker. Solche Reflexionen gehörten aber zum Alltag.

Das heißt: Unabhängig davon, wo sich gerade Kriege abspielen oder welche Kriege gerade wahrgenommen werden, ist es immer eine Aushandlungssache im Einzelfall, was man schreibt und wie man es schreibt. Die Arbeit, so Wolff, sei jetzt allerdings aufwändiger, aber auch das gilt ja nicht nur für Satiriker:

"Es ist noch mehr Arbeit, weil: Aus einer besonders ernsten Situation in etwas Komisches zu kommen, ist natürlich besonders schwer (…) Aber ich glaube, das unterscheidet sich nicht so sehr in der Struktur von sonstiger Berichterstattung auch. (…) Das sind Zeiten besonderer Aufmerksamkeit, in der sowohl das Seriöse, als auch das teilseriöse Komische mehr Aufwand, präziseren Blick brauchen."

Journalistinnen und Journalisten auf der Flucht

Zu den bemerkenswertesten Formen des medialen Umgangs mit dem Krieg gehört allemal die Reaktion des Mecklenburg-Vorpommernschen Mini-Imperiums Katapult, das einen eigenen Ableger für die Berichterstattung über den Krieg und die Ukraine gegründet hat (zum Hintergrund siehe auch meedia.de) - wozu auch Spenden von (potenziellen) Leserinnen und Lesern in Höhe von 130.000 Euro beigetragen haben.

Am Mittwoch meldeten die Katapult-Leute nun:

"Wir haben heute die ersten 15 ukrainischen Journalist:innen eingestellt. 14 davon sind weiblich. Vier flüchten derzeit Richtung Westen. Manche sind derzeit in ruhigeren Regionen der Ukraine, manche in absoluten Kriegsgebieten."

Ein anderer Journalist - der für verschiedene deutsche Medien als freier Korrespondent tätige Denis Trubetskoy - schreibt bei Zeit Online über die Umstände seiner innerukrainischen Flucht (aus Kiew in ein "relativ sicheres" Dorf). Dass auch russische Journalistinnen und Journalisten aus ihrem Land fliehen (müssen) - darüber informiert ein dpa/RND-Text.

"Wie enttäuscht sind Sie persönlich von Putin?"

Wenn Michael Kretschmer vom Zehn-Meter-Brett ins Fettfass springt, überrascht das normalerweise keinen Medienbeobachter mehr (Altpapier, Altpapier). Was er am Dienstagabend in der "beliebtesten Sendung des MDR" abgeliefert hat, ist aber selbst für seine Verhältnisse außergewöhnlich.

In einem von Wiebke Binder geführten Interview zum Thema Krieg und Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen sagte der sächsische Ministerpräsident unter anderem:

"Wir sollten (…) auch immer mit beachten, dass (…) wir nicht weiter diesen Konflikt anheizen."

Wieso spricht Kretschmer von einem "Konflikt"? Haben "wir" diesen sogenannten Konflikt bisher "angeheizt"? Wer ist überhaupt "wir"? Kretschmer weiter:

"Auch in der Wortwahl gegenüber Russland, in der Art, mit welchen Instrumenten wir jetzt agieren, muss ein Maß und eine Mitte gewährt werden, die einen Ausweg aus dieser furchtbaren Situation ermöglicht (…) Lassen Sie uns auch hier von den Argumenten und von der Art, wie wir miteinander umgehen, ein Stück weit abrüsten."

Immer dann, wenn jemand "Maß und Mitte" sagt, weiß man sofort, dass der Satz nichts taugt, insofern ist es natürlich ein feiner Zug, dass Kretschmer damit aufwartet. Moderatorin Wiebke Binder geht auf dieses Gesäusel nicht direkt ein, fragt aber im weiteren Verlauf des Gesprächs:

"Wie enttäuscht sind Sie denn persönlich von Putin?"

Das Thema Weltpolitik und Krieg auf persönliche Befindlichkeit herunterzubrechen, und das auch noch im Mixed-Zone-Jargon ("Wie enttäuscht sind Sie über dieses 0:5?") - das muss man auch erst mal bringen.

Wie erfolgreich war RT in Deutschland?

Die EU-Maßnahmen gegen die "Champions der Informationsmanipulation", also RT und Sputnik, waren an dieser Stelle schon ausführlich Thema, zuletzt am Mittwoch. Nun hat die EU das Verbot bzw. "die bislang beispiellosen Sanktionen gegen die Kremlmedien" (Felix Husmann, RND) in Kraft gesetzt - und diese im "Amtsblatt der Europäischen Union" ausführlich begründet.

"Die konkrete Zuständigkeit für die Umsetzung der Verordnung der europäischen Kommission werde momentan zwischen Bund und Ländern geklärt",

schreibt Husmann unter Berufung auf eine "Sprecherin der Landesmedienanstalten". Wer sich einen Eindruck darüber verschaffen will, inwiefern Tobias Schmid, der Chef der Landesmedienanstalt in NRW, "vorsichtige Kritik am Vorgehen der EU" übt (formalrechtlich, nicht inhaltlich), kaufe für 75 Cent diesen FAZ-Artikel.

Jannis Brühl wiederum begründet in einem Kommentar für die "Süddeutsche Zeitung", warum er die EU-Entscheidung inhaltlich für falsch hält:

"Niemand muss die Sender vermissen, mit ihrer kritiklosen Wiedergabe von Staatspropaganda und ihren Versuchen, westliche Gesellschaften zu destabilisieren. Dennoch: Dass praktisch auf Zuruf Konten oder Webseiten blockiert werden müssen, kennt man sonst von Politikern wie Recep Tayyip Erdoğan - oder eben von Wladimir Putin, der über Jahre versuchte, den Chat-Dienst Telegram abzuwürgen, weil sich dort die Opposition vernetzte. Nun ist es der Westen, der Präzedenzfälle schafft, auf die künftig noch die hinterletzten Diktatoren verweisen werden, um unliebsame Kanäle abschalten zu lassen."

Wobei "hinterletzte Diktatoren" ihre Entscheidungen ja eher nicht davon abhängig machen, ob sie bei deren Verkündung auf etwas "verweisen" können. Hilfreich in der Abschalt-Debatte ist möglicherweise ein Blick darauf, wie viele Menschen die verschiedenen RT-Filialen bisher erreicht haben. Den liefert Joshua Benton für das "Nieman Lab", und zwar unter Verweis auf Untersuchungen eines Teams des Reuters Institute for the Study of Journalism an der Uni Oxford.

Gering war die Wirkung offenbar in Großbritannien. Sowohl die BBC als auch der "Guardian" erreichten jeweils "etwa 73-mal so viele Briten" wie die dortige RT-Filiale, heißt es in dem Artikel. Aber:

"In Germany, RT is within shouting distance of Der Spiegel (just 1.6× RT’s audience) and not that far behind public broadcaster ARD (4.9× RT’s audience)."

Zumindest aus dem oben verlinkten Thread des Reuters-Institute-Direktors Rasmus Kleis Nielsen erschließt sich mir nicht, wie hier das Publikum der ARD gemessen wurde. Was aber die Reichweite auf Facebook angeht, sind die Zahlen plastischer - und beunruhigender. "Hold on to deine Mütze", ruft Benton in dem Zusammenhang. Denn:

"In Germany (…) RT was the No. 1 news source in terms of engagements on Facebook in both December and January. (Or at least it was ahead of the major German news publishers; we’ve asked Facebook for comment and will update this post if we hear back.)"

Aber die Zeiten sind ja nun (erst einmal) vorbei. Den medialen Gesamtzusammenhang sollte man aber nicht aus den Augen verlieren. Benton schreibt:

"Dieses Muster - RT als Nachrichtenquelle, die nicht viele Menschen aktiv suchen, die aber weiß, wie man die richtigen Knöpfe drückt, um auf Facebook erfolgreich zu sein - ähnelt sehr dem, was wir im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts bei Websites gesehen haben, die Fehlinformationen, Verschwörungstheorien und Culture-War-Content pushen."


Altpapierkorb (Florian Hagers Datenhunger, Julia Beckers Dilemma, Tiktok-Phänomen Toxische Pommes)

+++ Die FAZ geht auf in verschiedenen Interviews gemachte Äußerungen des frisch angetretenen HR-Intendanten Florian Hager ein (siehe auch Altpapier von Dienstag). Es geht dabei um Daten: "In Zukunft (ist) neben dem Inhalt der Kontext mindestens genauso wertvoll, weil wir ohne diesen und ohne die entsprechenden Daten die Kundenbeziehung nicht langfristig aufbauen können. Da hinken wir Netflix hinterher, und da bin ich ein bisschen neidisch (…) Je mehr Personalisierung Sie wollen, desto mehr Daten müssen Sie preisgeben. Ich würde da gerne als öffentlich-rechtlicher Anbieter etwas selbstbewusster vorgehen: Wer, wenn nicht wir, geht sauber mit diesen Daten um?Wir legen datenschutzrechtlich ganz bewusst höchste Maßstäbe an uns selbst. Hier würde ich mir deshalb noch ein wenig mehr Freiheiten wünschen."

+++ Nachdem vor rund zwei Wochen Madsacks Thomas Düffert als BDZV-Vizepräsident zurückgetreten war, weil er nicht mehr mit Verbandschef Mathias Döpfner konnte (Altpapier), gibt es mal wieder Neues aus dem Verleger-Machtapparat. Inwiefern sich aufgrund der aktuellen Entwicklungen nun die Funke-Managerin Julia Becker, die kürzlich Döpfners Rücktritt gefordert hatte,  in einem Dilemma befindet, beschreibt Aurelie von Blazekovic in der SZ: "Wie am Dienstag bekannt wurde, bieten jetzt die drei übrigen Vize-Präsidenten des BDZV Julia Becker den durch Thomas Düffert frei gewordenen vierten Stellvertreterposten an. Julia Becker könnte also von der harten Kritikerin Döpfners zu seiner Stellvertreterin avancieren. Pragmatisch könnte man jetzt sagen: Sie könnte im Falle einer Zusage echten Einfluss in der auch von ihr kritisierten Führung des Verbands ausüben. Man muss dann aber auch sagen: Sie würde auf Döpfners Seite der Macht wechseln."

+++ Aida Baghernejad porträtiert für die taz heute die Comedy-Künstlerin Toxische Pommes: "Innerhalb weniger Monate entwickelte sich die Juristin aus Wien zu einem deutschsprachigen Tiktok-Phänomen mit Zehntausenden Follower*innen und unzähligen kurzen Videos, in denen sie bourgeoise Jurist*innen auf die Schippe nimmt, rassistische Internettrolle, ihre vom Balkan stammende Familie oder die Verhältnisse an und für sich." Die Künstlerin selbst sagt: "Da gibt es einfach Themen in meiner Biografie, die mich aufgrund der Tatsache, dass ich Migrationshintergrund habe, beschäftigen. Comedy-Videos zu machen kann auch als eine Art persönliches Ventil zur Verarbeitung von Erlebnissen dienen, die nicht immer so toll waren."

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

1 Kommentar

Niemann am 04.03.2022

Das ist ein interessanter Artikel, der schon mal die Verlogenheit des Westens ansatzweise offenbart. Ein Detail: Währenddessen man hier in Deutschland das Verbot der Ausstrahlungen der Deutschen Welle in Russland beklagt und scharf verurteilt erläßt man gleichzeitig das Sendeverbot für RT DE und betreibt das Verbot von telegram weil sich angeblich dort die Opposition versammelt. Wenn zwei das gleiche tun ist es für die deutsche Politik eben noch lange nicht dasselbe. Bösartiger geht's wohl kaum. Hetzt man hier die Polizei mit Knüppel, Reizgas und Wasserwerfer auf friedliche Demonstranten, belegt man diese hier mit Strafen und zerrt sie vor Gericht dann ist das für die Regierung völlig O.K. Geschieht das aber in anderen Ländern hetzt man dagegen mit Schaum vorm Mund und dabei besonders tun das die welche ununterbrochen von Toleranz und Humanität reden und gleichzeitig unveräußerliche Menschenrechte bereits entsorgt haben, zumindest bei der eigenen Bevölkerung. Heuchelei allerorten!

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