Teasergrafik Altpapier vom 9. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 9. März 2022 Außergewöhnliche Selbstreflexion

09. März 2022, 15:23 Uhr

Wann kommt wieder ein "ARD extra" zur Corona-Lage? Außerdem: Isabel Schayani zeigt bei einer Schalte aus Przemyśl wieder einmal, warum sie eine herausragende Journalistin ist. Die Russland-Berichterstattung in Deutschlands seltsamster Zeitung ist dort noch ein bisschen seltsamer als der Rest. Ein Altpapier von René Martens.

Hunger und Corona

Es lässt sich, einerseits, ganz gewiss nicht sagen, dass über die Corona-Pandemie wenig berichtet wird. Beim "Spiegel" etwa sind im Laufe des Dienstags in der Rubrik "Coronavirus" sechs neue Beiträge erschienen. Und Christina Berndt warnt heute auf der Meinungsseite der "Süddeutschen Zeitung":

"Auch wenn das Virus angesichts des Kriegs zweitrangig wirkt: Es ist da. Und es wird umso stärker, je mehr wir es lassen."

Andererseits: In der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" am Dienstag kam das Thema Corona überhaupt nicht vor - obwohl die auf die RKI-Zahlenauswertung spezialisierten Journalisten, die ich wahrnehme (Olaf Gersemann/"Die Welt", Gereon Asmuth/taz), zum Beispiel heute den einen oder anderen Höchstwert verkünden, unter anderem die höchste Hospitalisierungsrate, "seit das RKI seit Juli 21 tägliche Werte angibt" (Asmuth).

Auch wenn es nicht unproblematisch ist, die Wichtigkeit von Themen gegeneinander aufzurechnen, gehört es ja zu den Standards der Medienkritik, in jenen Zeiten, in denen ein Thema Hochkonjunktur hat, darauf hinzuweisen, was alles zu kurz zu kommt - weshalb ich mir hier auch einen kurzen Exkurs gestatte zu einem Beitrag des European Journalism Observatory. Der fleißige "Tagesschau"-Auswerter Ladislaus Ludescher (Altpapier) hat sich nämlich angeschaut, wie stark unterrepräsentiert das Thema Hungersnot in von Corona dominierten Zeiten in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" war. Ludescher schreibt:

"Nachdem die Zahl der Hungernden viele Jahre lang gesunken ist, steigt sie seit etwa fünf Jahren wieder an (…) Die Zahlen sind erschreckend, werden in der Öffentlichkeit aber nur am Rande wahrgenommen und kaum diskutiert. So griffen (…) in der (…) 'Tagesschau' um 20 Uhr, im gesamten Jahr 2020 das Thema Hunger lediglich 9 der insgesamt über 3.000 ausgestrahlten Beiträge (ohne Sport und Wetter) auf. Zum Vergleich: Die Corona-Pandemie war im selben Zeitraum in fast 1.300 Beiträgen Thema. Auch im Jahr 2021 sah es nicht besser aus: Hier waren es bei fast 3.200 gesendeten Beiträgen (ohne Sport und Wetter) ebenfalls nur 9 Berichte (…) Dabei hat sich die Situation weiter zugespitzt. Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben die Zahl der Hungernden weiter ansteigen lassen."

Um wieder zur tagesaktuellen Corona-Berichterstattung zu kommen:

Ich würde ja gern Mäuschen spielen bei der ARD an dem Tag, an dem es eine interne Debatte darüber geben wird, ob man um 20.15 Uhr einen "Brennpunkt" zum Krieg oder ein "ARD extra" zur Corona-Lage senden sollte. Das ist jetzt gar nicht sarkastisch gemeint. Um das Ganze noch konstruktiv zu wenden: Es könnte ja die Möglichkeit geben, beides zu machen - zum Beispiel einen "Brennpunkt" im Ersten und ein "ARD extra" in den Dritten Programmen. Und die ARD hat ja auch noch andere Programme als das Erste und die Dritten.

Die Frage, ob man eine neue Ausgabe von "ARD extra" bringen sollte (die ich als Geste wichtig finden würde, nicht weil ich mit dem in dieser Sendung bisher performten Journalismus immer einverstanden war) könnte sich sogar bereits heute stellen, weil im Laufe des Tages wohl das Bundeskabinett über einen "Corona-Fahrplan ab 20. März" entscheiden wird. Angesichtsdessen, dass der Anlass für das bisher letzte "ARD extra" zur Corona-Lage am 16. Februar die Bund-Länder-Entscheidung war, "alle tiefgreifenden Maßnahmen" fallen zu lassen, wäre die nun bevorstehende, wohl aber bloß kosmetische Korrektur wieder ein geeigneter Anlass. Ein anderer möglicher Termin natürlich: der Tag, an dem der Bundestag über den Entwurf abstimmt.

Eine außergewöhnliche Reporterin und ein prognosearmer Podcast

Die eindringlichsten Szenen, die bisher aus den Grenzgebieten jener Länder zu sehen waren, in denen Menschen aus der Ukraine fliehen, konnte man am Montagabend in der ARD sehen. Wobei die Formulierung "Szenen" vielleicht sogar in die Irre führt. Entscheidend war, was Isabel Schayani bei "Hart aber fair" sagte, als sie aus dem polnischen Przemyśl zugeschaltet war. Schayani redete über eigene Schwächen und zeigte eine Selbstreflexion, wie man sie selten bei Reportern erlebt - und vernachlässigte dabei keineswegs ihren Informationsauftrag.

"Diese eine Million Menschen, die nach Polen gekommen sind - ich sehe das hier jeden Tag, aber ich begreife das überhaupt nicht",

sagte Schayani unter anderem. Sie könne sich "diese Dimension nicht vorstellen", erst recht nicht die prognostizierten fünf Millionen Menschen.

Zumindest, was die emotionale Wirkung angeht, erinnerte diese Schalte an einen großen Fernsehmoment des Jahres 2019: eine Schalte mit Schayani in eine andere Talkshow ("Anne Will"), aus einer anderen Geflüchtetenregion (Moria). Siehe hier von 0:56 bis 11:30.

Wie es Journalistinnen und Journalisten geht, die aus Russland geflohen sind - darüber haben Ekaterina Astafeva und Elizaveta Antonova für Zeit Online mit zwei Männern und einer Frau gesprochen. Darunter Maria Borzunowa, die für den Fernsehsender Doschd gearbeitet hat (wie auch Zeit-Online-Co-Autorin Antonova). Unter anderem geht es darum, warum Borzunowa ihren Entschluss, das Land zu verlassen, nicht als "Emigration" bezeichnen möchte:

"Ich bin nicht an einen Ort gegangen, den ich bewusst ausgesucht hätte. Es war alles sehr spontan und kurzfristig. Ich habe keinen Plan, ich habe keine Strategie. Deshalb formuliere ich es so: Ich bin für eine Weile nicht in Russland. Ich werde noch nicht sagen, wo ich gerade bin, weil es unwichtig ist. Wir sind alle dorthin gegangen, wo man noch hinkonnte. Wir hatten keine große Auswahl. Wo ich in ein oder zwei Tagen sein werde, weiß ich nicht. Das ist ein sehr seltsames Gefühl."

Mit Mathias Bölinger, dem Deutsche-Welle-Korrespondenten für die Ukraine, hat der Tagesspiegel ein Interview geführt. Er sagt über die Lage in Kiew unter anderem:

"Die Stadt ist ja derzeit voll mit Journalisten, die alle in den wenigen Hotels leben, die noch geöffnet sind. Natürlich sind das auch Informationsbörsen: Wer war heute wo, was konnte man machen und was nicht. Wo ist es gefährlich, wo ist es nicht gefährlich etc."

Und die "Süddeutsche Zeitung" schreibt über den "überwältigenden Erfolg" von Andreas Flockens NDR-Podcast "Streitkräfte und Strategien". Den gibt es bereits seit zwei Jahren, zunächst war er nur alle 14 Tage zu hören. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine läuft er nun aber täglich.

SZ-Autorin Catrin Lorch lobt:

"Mit Sachverstand und Detailkenntnis geht es zunächst immer in die Analyse, bevor - wenn überhaupt - Prognosen gestellt werden."

Das bezieht sich vermutlich darauf, dass man Prognosen derzeit nachgeschmissen bekommt, und zwar von Leuten, deren "Sachverstand" sich nicht immer einschätzen lässt. Was jetzt aber auch wieder nicht heißt, dass ich in die abgedroschene Tirade von den 80 Millionen Militärexperten einstimmen möchte. Dass sich Leute auf Twitter selbst zu Experten ermächtigen können, ist nicht nur von Nachteil.

Zum Tod von Vera Bunse

Ende der vergangenen Woche wurde bekannt, dass Vera Bunse gestorben ist, die 2015 und 2016 insgesamt viermal fürs Altpapier geschrieben hat. Sie war als Springerin in unserem Team eingeplant, das zerschlug sich dann aber aus gesundheitlichen Gründen. So etwas gehört eigentlich ja gar nicht hierher, aber da sie einen ihrer beiden Twitter-Accounts (@kaffeebeimir) meiner Wahrnehmung nach zu einem erheblichen Teil dafür nutzte, um über ihre gesundheitliche Situation zu schreiben, halte ich diesen Regelbruch für zulässig. Dass Vera Bunse davor und danach eine wichtige medienkritische Stimme bei Twitter war, kann man ohne Übertreibung sagen.

Der Teaser einer Altpapier-Kolumne der einstigen "Carta"-Redakteurin begann im Januar 2016 mit den Worten "Was für eine Woche". Es ist also noch gar nicht so lange her, dass die Zeiten relativ unturbulent waren. Heute  - und das gilt ja nicht erst seit Beginn der Invasion - weiß man als Medienkritiker Ende der Woche ja manchmal gar nicht mehr, was Anfang der Woche los war.


Altpapierkorb (Russland- und China-Berichterstattung der "Berliner Zeitung", Telegrams Rolle in der Kriegsberichterstattung, Erfolg für Springer-Kampagnenopfer Bakery Jatta)

+++ Ich habe mich mal wieder (siehe auch diesen taz-Wochenend-Text, sowie dieses und dieses Altpapier) mit Deutschlands seltsamster Zeitung, also der "Berliner Zeitung", beschäftigt - dieses Mal für Übermedien (€), und zwar schwerpunktmäßig mit der Berichterstattung zu Russland und China. Wer in dem Beitrag unter anderem vorkommt: der russische Botschafter Sergej Jurjewitsch Netschajew, der gelegentlich als Gastautor für die Zeitung in die Tasten haut. Wobei die Russland-Berichterstattung der "Berliner Zeitung" aber nicht nur deshalb problematisch ist, weil man Netschajew für einen legitimen Gastautor hält, sondern weil der Sound in manchen redaktionellen Artikeln ähnlich offiziös ist wie in den Texten des Diplomaten.

+++ Die Haltung des Telegram-Gründers Pawel Durow zum Krieg (siehe auch Altpapier von Dienstag) und die Rolle, die sein Messenger-Dienst derzeit in Russland und der Ukraine spielt, sind heute Thema des FAZ-Medienseitenaufmachers (€). Michael Hanfeld schreibt: "Facebook und Twitter (haben) in Russland nie die Rolle gespielt, wie sie es bei uns tun, wohingegen angeblich jeder vierte Bürger Russland die Telegram-App auf seinem Smartphone installiert hat. Und: Facebook und Twitter werden von der russischen Medienaufsicht Roskomnadsor blockiert, das chinesische Tiktok zensiert sich selbst, nur Telegram ist – noch – offen (…) Im Frühjahr 2018 wurde Telegram per Gerichtsbeschluss verboten, Roskomnadsor war aber technisch nicht dazu in der Lage, den Dienst zu stoppen (…), nach zwei Jahren gab die Zensurbehörde auf. Heute laufen auf Telegram offizielle russische Kanäle ebenso wie die Hilferufe aus der Ukraine."

+++ Inwiefern das Amtsgericht Hamburg-Altona am Dienstag nicht nur der Staatsanwaltschaft, sondern auch einigen besonders üblen Gestalten aus dem Springer-Verlag "eine Ohrfeige" erteilte, als es die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen "Identitätsbetrug" gegen den HSV-Stürmer Bakery Jatta ablehnte - das erfährt man in einem taz-Text von Sportredakteur Johannes Kopp. Ob die Kampagne gegen Jatta, in der "Bild" und "Sport Bild" bisher viele rassistische Register zogen (Altpapier), damit beendet ist, wie die taz-Überschrift nahe legt, ist aber noch eine andere Frage, weil die Staatsanwaltschaft gegen die Nichtzulassung Rechtsmittel einlegen kann.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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