Das Altpapier am 5. April 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 5. April 2022 Fürs Abwägen gibt es kein Patentrezept

05. April 2022, 10:01 Uhr

Der Umgang mit den Bildern vom Massaker in Butscha ist Topthema aller Seiten. Außerdem: "die ökologischste Art, Radio zu hören", und der selten zu hörende Energiespartipp, weniger zu streamen. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Umgang mit Bildern von Greueltaten

Der Krieg erzeugt zahllose Opfer und dadurch auch entsetzliche Bilder. Und auch mit denen wird er, mittelbar, weiter geführt. Zum Umgang mit den entsetzlichen Bildern aus dem bis vor kurzem russisch besetzten Butscha ist folgender Thread, also Faden oder Strang, auf Twitter aufschlussreich. Darin greift der Journalismus-Veteran Peter Welchering einen Tweet auf, den die russische Botschaft in Deutschland (eine "Regierungsorganisation aus Russland", wie Twitter warnt, die aber weiterhin veröffentlicht) im Rahmen eines eigenen Threads gepostet hatte:

"Ich musste mich heute im Rahmen der bildforensischen Untersuchungen mit diesen Videos beschäftigen. Es war erschütternd. Ich bin fassungslos. Es gab keinen - ich wiederhole: keinen - Hinweis auf Manipulation oder Fälschung."

Mit den Reaktionen und Antworten, also Verzweigungen in unterschiedliche Richtungen in jeglichem Sinn, wird der Thread dann exemplarisch. Auch, weil zu den Verzweigungen der im Botschafts-Thread gepflegte Brustton der Überzeugung ("...unwiderlegbar") gehört und die Strategie verdeutlicht, Vorwürfe automatisch immer umzukehren, weniger um in konkreten Fällen zu überzeugen, als um Zweifel zu säen, von denen – je nach Filterblase oder Öffentlichkeit – statistisch immer einige aufgehen werden.

Widerlegt wird diese Argumentation inzwischen mit Satellitenfotos. Um ausführliche Widerlegung in schriftlicher Form bemüht sich Michael Hanfeld heute auf der "FAZ"-Medienseite, auch mit wiederum schlimmen Details (etwa was das Leichenstarre-Argument angeht). Illustriert ist der lange Artikel mit einem Foto-Ausschnitt, einem allerdings ebenfalls entsetzlichen ("Die Leiche eines Mannes mit auf dem Rücken gefesselten Händen, aufgenommen in Butscha am Sonntag, 3. April 2022"). Zu sehen wäre er noch vor der Bezahlschranke – hier.

Zum Umgang mit solchen Bildern, die mal so und mal so, in redaktionellen Medien oft mit verpixelten Gesichtern der Ermordeten zu sehen waren und sind, gab Altpapier-Autorin Annika Schneider für Deutschlandfunks "@mediasres" einen Überblick (in dem etwa ZDF-"heute"-Redaktionsleiter Wulf Schmiese sagt, "dass man das Grauen des Krieges nicht wegpixeln kann"). Und der Deutsche Presserat gibt, wie in seinem Namen ja mitschwingt, einen Ratschlag: Er

"appelliert an die Redaktionen, vor der Veröffentlichung von Kriegsbildern sorgsam zwischen dem Informationsinteresse der Leserschaft und den Interessen von Opfern und deren Angehörigen abzuwägen."

In dieses notwendig dialektische Abwägen ("Erstens, die Macht von Bildern ist oft größer als die von reinem Text", andererseits, "die Vielzahl der wichtigen Bilddokumente führen beim Publikum zu einer Abstumpfung ...") steigt Tina Groll von der Journalistengewerkschaft DJU, die den Presserat mit trägt, bei mmm.verdi.de gleich ein. Patentrezepte gibt es ja sowieso nicht, außer in angemeldeten, proprietären Patenten (und in der floskelhaften rhetorischen Figur ihrer Verneinung). Was bei solchem Abwägen herauskommt, kann und sollte immer leicht unterschiedlich sein. Gerade das ist Medienvielfalt.

"Unser Eindruck ist, dass die Presse bisher sorgfältig mit den Fotos umgeht.", zitiert Presserats-Sprecherin Kirsten von Hutten übrigens sich selbst. Was also auch mal für die "Bild"-Medien in ihrer Mischform als Zeitung, bewegtbild-orientierter Internetauftritt und Fernsehsender gilt. Ihr Kriegsreporter Paul Ronzheimer, dem sich hier überhaupt nichts vorwerfen lässt, ist aus Kiew/Kyiv im verlinkten "@mediasres"-Artikel zu hören und hier auf bild.de zu sehen.

Weitere Kreise nach sich gezogen hat der bereits gestern hier erwähnte, mindestens ungeschickte Umgang der ARD mit dem Thema der Bilder aus Butscha am Sonntag. "Gerade auch im Vergleich mit anderen Medien, macht es bei der ARD den Eindruck, dass dieses 'Vor-Ort-Sein' ein durchaus dehnbarer Begriff ist", kommentiert der keineswegs sehr Öffentlich-Rechtlichen-kritische "Tagesspiegel" (der selber dann hinter einer Bezahlschranke einen Bericht des in Butscha gewesenen Enno Lenze brachte). Dass Restle selbst "aus der Ukraine berichtet, nötigt Respekt ab  ... Doch die Arbeit von Kollegen in ein potenziell weniger wahrheitsgetreues Berichterstatten umzudeuten, bei dem es vor allem um die Schnelligkeit gehe, ist unkollegial und vor allem unredlich", kritisiert die "Welt". Von "öffentlich-rechtlicher Ignoranz" schreibt medieninsider.com.

Ist es ein anderer (neulich hier angesprochener) Detailaspekt, dass Gesichter Toter, in diesem Fall vor allem toter russischer Soldaten, die in Medienberichten oft verpixelt werden, andererseits per Gesichtserkennungs-Software, und zwar derjenigen von Clearview, die auf rund "zehn Milliarden Fotos" basiert, identifiziert werden? In der "taz" vertieft Adrian Lobe den Aspekt gründlich und meint, nun

"dehnt sich der Überwachungskapitalismus auch auf das Schlachtfeld aus und es gibt eine direkte Rückkopplung zwischen militärischer und ziviler Nutzung. Millionen Menschen, die gar nicht wissen, dass ihr Konterfei in einer riesigen biometrischen Datenbank gelandet ist und der Nutzung wahrscheinlich auch gar nicht zugestimmt haben, müssen nun also ihren Kopf hinhalten, um tote Soldaten zu identifizieren. Man kann das mit Recht für pietätlos und abstoßend halten. Doch der Krieg ist am Ende auch eine Stätte der Datenproduktion – und schert sich um die Würde der Menschen herzlich wenig."

Der Stromverbrauch beim Streaming

Was tun hierzulande? Das bleibt, nun erst recht, die große Politinterview-/Kommentare-/Talkshow-Frage. Vizekanzler Habecks medienöffentliches Abwägen war ebenfalls gestern hier Thema.

Außer dem schnellen, umfassenden Energie-Embargo mit ungewissen Folgen, das er ablehnt, gibt es überall am Rande viele Vorschläge für kleinere Schritte, die angesichts der immensen Energie-Importe einzeln wenig helfen, aber vielleicht ja etwas, wenn Effekte zusammenkommen. Ein Tempolimit etwa würde helfen, den Ölverbrauch zu senken, zitiert die "taz" am Ende ihres (auch krass illustrierten) Überblicks-Artikels klassisch grüne Positionen. Durch steigende Gas-Preise spornen der Markt oder seine unsichtbare Hand zu geringerem Gasverbrauch an, kommentieren Wirtschaftswissenschaftler im "Handelsblatt". Undsoweiter.

Was in den Medien selten thematisiert wird: dass Medienkonsum ebenfalls Energie benötigt, je bewegter desto mehr. Ich sprach vor kurzem für den KNA-Mediendienst (nur nach Login verfügbar) mit Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue über einige Themen, Plattformen und Rundfunkgremien etwa, aber auch über linearen und nichtlinearen Medienkonsum. Das Deutschlandradio kann nicht genau beziffern, wie es online genutzt wird. Die ermittelte Zahl von rund 27 Millionen Audioabrufen im Monat ist schon etwas älter und dürfte gestiegen sein. Hinzu kommt jedenfalls noch das da nicht einbezogene Livestreaming, also das Hören zeitgleich laufender Programme via Internet statt im Radio. Im Ausland ist das meist der beste Weg, um deutsche Medien zu verfolgen, im Inland wird es auch immer beliebter:

"Das gehöre vor allem beim jüngeren Publikum zu den Gewohnheiten, sagt Raue, und mache sich für die Anstalt auf der Kostenseite bemerkbar. 'Die Streaming-Aufwendungen sind schon deutlich.' Was zu einem Thema führt, das auf absehbare Zeit eine weiter wachsende Rolle spielen wird: dem Energieverbrauch. Individuelles Streaming erfordert stets mehr Strom als gleichzeitiges Ausstrahlen derselben Sendung für viele. Wird sich die zurzeit von sämtlichen Rundfunkanbietern offensiv verfolgte Strategie, vor allem auf Mediatheken und damit Streaming zu setzen, ändern müssen?

Darauf hat Raue eine schnelle Antwort 'DAB+ ist das nachhaltigste von allen Angeboten'. Der Digitalradio-Standard sei weniger energiefressend sowohl als Streaming als auch als der derzeit noch stärker verbreitete analoge Radio-Standard UKW, und damit 'die ökologischste Art, Radio anzubieten'".

Raue ist ein intendantenmäßiger Intendant, nennt weder konkrete Kosten noch Strategiepläne, sondern spricht dann lieber vom Digitalradio. Völlig zurecht im Kontext, aus Radiosender-Sicht verbraucht der DAB+-Standard weniger Energie als die analoge Ultrakurzwelle. Wobei seit vielen Jahren und vermutlich noch über viele weitere Jahre hinweg von allen öffentlich-rechtlichen Sendern betriebene Praxis des "Simulcast", also der parallelen Verbreitung derselben Radioprogramme digital und analog, umso mehr Energie benötigt.

Sollten nicht zumindest die öffentlich-rechtlichen Medien, die sich ja gerne mit dem Gemeinwohl verw... in Verbindung bringen, nicht öfter darauf hinweisen, dass Streaming immer mehr Strom verbraucht als lineares Hören oder Sehen derselben Inhalte im Radio oder Fernsehen? Zumindest statt immer damit eigenzuwerben, dass sich die Fülle der Krimis von gestern, morgen und nächster Woche auch "jetzt schon in der Mediathek" streamen lässt? Zumal Video-Streams proportional deutlich mehr Energie verbrauchen als Audio-Streams? Nur eine Idee. Klar macht der Energieverbrauch des Medienkonsums, wie immer man ihn berechnet, nur einen Bruchteil des Gesamtverbrauchs aus und hätte keinerlei Auswirkungen auf die Kriegsführung der Energiemacht Russland. Andererseits, viele Gründe für Optimismus, dass immer weiter steigender Abruf von Medieninhalten der Gesellschaft oder einzelnen Menschen hilft, liegen ja auch nicht mehr vor.

Neues aus den Anstalten, mit dem sich in Friedenszeiten Altpapier-Kolumnen ganz allein füllen ließen, gäbe es noch so einiges. Aber das muss derzeit in den Korb.

Zwölf Jahre "Collateral Murder"

Der Westen, der lange ein "sog." davor vertrug, rappelt sich und seine Werte nun auf, wenn auch kaum aus eigener Kraft. Ist es da konstruktiv zu erwähnen, dass sich im Westen längst auch nicht alles ideal verhält?

Zwar konstatieren die deutschen Landesmedienanstalten zu ihrem gerade veröffentlichten Jahrbuch: "Der Informationsbedarf der Bevölkerung war 2021 auf einem historischen Hoch" und meinen damit den "Nutzungsschub" fürs Internet wegen Corona und Wahlen. Das ist immerhin konstruktiver Tonfall, das klingt ja fast wie bei den laufend erzielten Temperaturrekorden. Allerdings zeichnet ein anderer Jahresbericht, derjenige der "Civil Liberties Union For Europe", ein "besorgniserregendes Bild der Medienlandschaft in der EU". So fasste heise.de eine Publikation dieser, zugegeben, nicht ungemein bekannten EU-NGO zusammen. Und "Telepolis" stellt beim Vertiefen des Themas noch mal die aktuell zweitrangige, grundsätzlich berechtigte "Frage, inwieweit etwa die hiesigen Landesmedienanstalten tatsächlich als staatsfern gelten können".

Definitiv gerade jetzt verdient ein Jahrestag Beachtung, auf den das einst einflussreiche Wikileaks via Twitter hinwies: Am heutigen 5. April vor zwölf Jahren veröffentlichte Julian Assange das Video "Collateral Murder", das ein klares US-amerikanisches Kriegsverbrechen zeigte – und ein Hauptgrund sein dürfte, aus dem Assange seit vielen Jahren in westlichen Rechtsstaaten eingekerkert ist und für noch viel mehr Jahre eingekerkert werden soll.

Im Westen und in seinen (schon lange nicht mehr offiziell "erklärten") Kriegen verhielt und verhält sich längst nicht alles ideal. Der Unterschied zu Russland unterm Putin-Regime und der tendenziell wachsenden Zahl solcher Staatsformen besteht darin, dass darüber ziemlich frei informiert und diskutiert werden kann. Das "Collateral Murder"-Video ist, u.a. im eben verlinkten Tweet, weiter zu sehen.


Altpapierkorb (Was ist los im RBB & im ZDF-Fernsehrat? RTL holt ZDF-Gesicht, Kündigungen bei der "taz", Tischtennis-Streaming)

+++ "Was ist los beim RBB?", fragt der "Tagesspiegel" und meint damit nicht (erwähnt aber dennoch), dass die Berliner-Brandenburger Anstalt "mit Abstand das Dritte Programm mit der schlechtesten Quote" sendet. Vielmehr würden Mitarbeiter "überdimensionierte Projekte, zu viel Bürokratie. Immer mehr Häuptlinge, immer weniger Indianer ... " beklagen. Über Ostern wollen gefrustete Freie die #wirsindnichtda-Aktion aus den Vorjahren wieder aufnehmen. Falls Sie's gerade nicht parat haben: RBB-Intendantin Patricia Schlesinger sitzt derzeit auch der ARD vor.

+++ "Was war nachts bloß beim ZDF-Fernsehrat los?", fragte zunächst die "Bild"-Zeitung, der "merkwürdige Suff- und Sex-Tweets" des keineswegs Böhmermann-satirisch gemeinten, mit blauem Häkchen versehenen Twitter-Accounts @ZDFfernsehrat auffielen.

+++ Der kleinere und entscheidungsmächtigere, nicht twitternde ZDF-Verwaltungsrat (dem demnächst ja auch Ex-Fernsehrats-Mitglied und -Blogger Leonhard Dobusch angehören wird) soll am Freitag "die ersten wichtigen Personalentscheidungen an der Spitze des ZDF" in Norbert Himmlers Intendanz treffen (dwdl.de).

+++ Eines der Gesichter, das in den sehr zahlreichen ZDF-Eigenwerbe-Trailern am häufigsten auftauchte, also "eines seiner profiliertesten OnAir-Gesichter", geht zu RTL. Dirk Steffens soll da die Gruner+Jahr-Marke "Geo" multimedial vertreten, weiß ebenfalls dwdl.de.

+++ Noch'n Erfolg für RTL: Eine Streaming-/Fernsehserie über "die Geschichte eines Berliner Kaufhauses", nicht zu verwechseln mit einer kürzlich gesendeten Berliner Kaufhaus-Serie unserer ARD (sondern eine X-Filme-Produktion "mit einem 26-Millionen-Euro-Budget"), gewann bei der MIP TV in Cannes einen Preis ("Standard").

+++ "Mittägliche Protestaktion" im Berliner Zeitungsviertel. "Die übergroße Mehrheit aller im taz-Gebäude in der Friedrichstraße aktuell Tätigen" kam nach draußen und protestierte gegen "drei betriebsbedingte Kündigungen in der Anzeigenabteilung taz Nord", berichtet mmm.verdi.de. +++ Siehe auch "taz" selbst.

+++ Die schöne, im Fernsehen selten gezeigte Sportart Tischtennis ist die erste, deren Bundesliga ihre Bewegtbildrechte an die künftige Nicht-Fußball-Sport-Plattform von Springer und Christian Seifert, dem Ex-Fußball-Bundesliga-Chef, vergab (dpa/horizont.net).

+++ Und neue Maßstäbe für anspruchsvolles Fernsehen setzte, am 1. April bereits, aber nicht scherzhaft, das österreichische ORF, das abends "in der Regel anspruchsvolle Sendungen" bieten muss und dafür nun auch seine Krimiserien zu Anspruchs-Fernsehen erklärte: "'Soko Donau' und 'Soko Kitzbühel' sind laut ORF anspruchsvoll, weil 'Krimiserie mit starkem Österreichbezug; Förderung der österreichischen Identität und der österreichischen künstlerischen und kreativen Produktion; Koproduktion mit ZDF'" ("Standard").

Neues Altpapier kommt am Mittwoch.

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