Altpapier vom 7. April 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 7. April 2022 Söder kann gut fühlen

07. April 2022, 10:30 Uhr

Guckt der bayerische Ministerpräsident die "Tagesthemen"? Auf welcher "Seite" findet man "die ARD" in der Klimakrise? Interessieren sich Medien, die Fotos von Kriegstoten veröffentlichen, auf denen die Opfer deutlich zu erkennen sind, überhaupt für die getöteten Menschen? Ein Altpapier von René Martens.

Exzessiv vage Kritik an der ARD

Zu den Debatten, in denen die Bauchgefühligkeit besonders stark zum Ausdruck kommt, gehören jene über das Programm der Öffentlich-Rechtlichen. Das beliebteste Stilmittel ist die Behauptung ohne konkreten Beleg. Den Eindruck, dass Debattenteilnehmende, die kritische Anmerkungen haben, sich über einen halbwegs langen Zeitraum systematisch mit einer Sendung, einer Sendungsrubrik oder der Berichterstattung zu einem bestimmten Thema beschäftigt haben, hat man äußerst selten.

Auch Markus Söder erweckt im aktuellen "Zeit"-Streitgespräch (€) mit der ARD-Vorsitzenden Patricia Schlesinger diesen Eindruck nicht, so viel Gespoiler sei erlaubt. Er brennt hier eher ein Feuerwerk der Vagheiten ab. Ein Beispiel:

"Bei einem nicht unerheblichen Teil der Zuschauerinnen und Zuschauern wächst das Gefühl, dass es eher eine Grundtendenz gibt statt einer Grundobjektivität."

Auch nicht schlecht:

"Manche Formate im Öffentlich-Rechtlichen (erscheinen) zunehmend polarisierend."

Fast schon in Richtung Bullshit-Bingo geht folgende teilweise rätselhafte Aussage:

"Als jemand, der sich liberal-konservativ fühlt, sehe ich nicht, dass sich das bürgerliche Spektrum ausreichend angesprochen fühlt."

Ist Söder ein Liberal-Konservativer oder "fühlt" er sich nur so? Steht "bürgerliches Spektrum" hier als Synonym für das "liberal-konservative" bzw. sich "liberal-konservativ" fühlende? (Ich persönlich empfinde "bürgerliches Spektrum" ja längst als toxischen Begriff, weil er in der jüngeren Vergangenheit dazu diente, Todessekten-Anhänger zu verharmlosen, aber das nur sehr am Rande).

Bei den "Tagesthemen" gebe es "wirklich gute konservative Kommentatorinnen und Kommentatoren", wirft Schlesinger an dieser Stelle ein. Darauf dann wieder Söder:

"Das klingt besser, als die Realität ist – zumindest gefühlt."

Mit Rumgefühle kann er auch hier deshalb um die Ecke kommen, weil meines Wissens bisher niemand analysiert hat, wie sich die "Tagesthemen"-Rubrik "Meinung" - aktuell im Gespräch, weil dort am Dienstag eine Zwölfjährige kommentierte, siehe SZ - über einen längeren Zeitraum entwickelt hat. Wie oft wurden eher linksliberale Positionen vertreten, wie oft liberal-konservative? Und wie oft war, um auch noch einen sehr beliebten Vorwurf aufzugreifen, eine Position nicht auszumachen? So eine Auswertung wäre doch mal ganz nice - auch wenn dann, wenn sie vorläge, bestimmt eine Diskussion darüber ausbräche, ob die Positionen politologisch halbwegs plausibel zugeordnet sind.

Natürlich hat ein Ministerpräsident Besseres zu tun, als sich intensiv mit dem Programm der Öffentlich-Rechtlichen zu beschäftigen. Aber es wäre ja möglich gewesen, dass ihn ein Mitarbeiter für das Streitgespräch brieft.

Ist die ARD "Teil der #MedienKlimakrise"?

Söders exzessive Schwammigkeit treibt schließlich die Interviewer Jochen Bittner und Stefan Schirmer dazu einzugreifen:

"Offenbar kriegen wir die Vorwürfe hier von Ihnen nicht konkreter, Herr Söder. Frau Schlesinger, ob Migrationskrise, Klimakrise, Corona-Krise – die ARD fand sich auf jedem dieser Felder schon recht klar auf einer Seite wieder."

"Konkret" klingt das nun auch nicht gerade. Abgesehen davon: Dass "die ARD" beim Thema Klima auf der von den Interviewern unterstellten "Seite" zu finden ist - das sehen Menschen, deren Anliegen es ist, die durch die Klimakrise bedingten künftigen höllischen Veränderungen so weit wie irgend noch möglich abzumildern, etwas anders.

Die Initiative "Klima vor acht" (Altpapier) hat der ARD in den vergangenen Tagen zum Beispiel "Greenwashing" vorgeworfen. Und dass sie "Teil der #MedienKlimakrise" sei. Seit Montag kritisieren nun Klimaexpertinnen und Klimaexperten die Berichterstattung über den neuen Bericht des Weltklimarates - erneut "Klima vor acht" (bzw. deren Sprecher Norman Schumann) der Wissenschaftler Niklas Höhne und die Journalistin Sara Schurmann etwa. Letztere twittert (mit aktuellem Schlenker):

"Während wir ein #ARDextra zu einer (sinnvollerweise!) rückgängig gemachten Entscheidung von @Karl_Lauterbach bekommen, entscheidet sich die @tagesschau dagegen, den letzten IPCC-Bericht, der uns noch aus der Krise führen kann, überhaupt zu erwähnen."

Gemeint ist, das muss der Präzision halber gesagt werden, die 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" von Montag (siehe dazu die eben verlinkte Kritik Höhnes).

Nun ist es vielleicht ungerecht, an dieser Stelle unter anderem mit einem Beispiel zu kommen, das sich auf Berichterstattung bezieht, die nach dem "Zeit"-Streitgespräch geführt wurde, aber Schurmanns getwitterte strukturelle Kritik - "Im Wissenschafts- o. Klimateil schreiben viele darüber, dass es keine weiteren Subventionen oder gar Neubauten von fossiler Infrastruktur geben darf (…) In den Politik- und Wirtschaftsressorts fällt es oft genug noch nicht mal auf, dass die überwiegende Mehrheit der heutigen politischen & wirtschaftlichen Entscheidungen dem widerspricht" -  weist ja über den aktuellen Anlass hinaus.

Kehren wir aber noch mal zurück zum Schlesinger-Söder-Gespräch. Die Reform des öffentlich-rechtlichen Auftrags war auch ein Thema, und in dem Kontext versucht sich Söder an einem Schenkelklopfer:

"Es ist leider leichter, den Papst zu wählen, als den Rundfunkstaatsvertrag zu ändern."

Der Witz verreckt schon deshalb, weil man den Rundfunkstaatsvertrag nicht nur nicht leicht verändern kann, sondern gar nicht. Denn: Bei dem Rundfunkstaatsvertrag handelt es sich gewissermaßen um ein historisches Gesetz. Seit November 2020 gilt der Medienstaatsvertrag.

In Sachen Medienpolitik sagte Söder außerdem:

"Richtig wäre, ein Grundangebot zu schaffen – bestehend aus dem Ersten, den dritten Programmen, Arte und 3sat – und bei den anderen Kanälen zu schauen, welche wirklich notwendig sind oder besser im Internet oder in den Mediatheken aufgehoben wären."

Dem Hauptprogramm des ZDF scheint Söder, wenn man diese Aufzählung als Maßstab nimmt, nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Ums ZDF geht es dann später noch mal kurz im Interview. Die "Zeit"-Leute wollen wissen, ob Söder "langfristig für die Zusammenlegung von ARD und ZDF" sei. Er beantwortet die Frage mit Nein.

Wohltuend wirkt Markus Söders Kritik an den Öffentlich-Rechtlichen aber wiederum, wenn man sie mit den Auslassungen der ZDF-Renegatin Katrin Seibold vergleicht, die während ihrer letzten Arbeitstage auf dem Lerchenberg sehr seltsame Selfie-Videos drehte. Mein "Übermedien"-Text über die langjährige Mitarbeiterin des 3sat-Magazins "Kulturzeit" steht jetzt frei online.

Kriegsfotoikonen müssen nicht brutal sein

Mit einer Frage nach dem tendenziell ikonographischen "New York Times"-Foto von drei gewaltsam zu Tode gekommenen ukrainischen Zivilisten, das die Zeitung im März großflächig auf ihrer Titelseite veröffentlichte, beginnt ein Interview, das die SZ mit Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München, geführt hat. Die Veröffentlichung des Fotos hatte eine Grundsatzdiskussion darüber ausgelöst, ob es sich dabei um eine Grenzüberschreitung handelte (siehe Altpapier). Paganini sagt konkret zu diesem Fall:

"Bei der Kriegsberichterstattung denke ich (…) in erster Linie an die Persönlichkeitsrechte der Opfer, die abgebildet werden, an Privatsphäre und Respekt. Und mir scheint relativ klar, dass so eine Abbildung dagegen verstößt. Das Opfer wird ins Rampenlicht gezerrt, ohne selbst eingewilligt zu haben. Es interessiert nicht das Schicksal oder der ermordete Mensch, sondern nur das Narrativ, das man damit rüberbringen kann."

Zur Anmerkung von Interviewer Lars Langenau, dass der Ehemann der Frau und Vater der Kinder, die bei dem russischen Angriff getötet worden waren, sich für die Veröffentlichung ausgesprochen habe, sagt Paganini:

"Das macht die Sache nur ein bisschen besser, denn es heißt eben nicht, dass die tote Tochter auch dafür gewesen wäre. Man muss immer an das konkrete Individuum denken, ähnlich wie in der Medizinethik: Angehörige und Patienten haben oft sehr unterschiedliche Ansichten. Wenn jemand im Koma liegt, kann man den Wunsch der nächsten Angehörigen nicht eins zu eins als Wunsch des Betroffenen nehmen."

Die Interviewte wirft auch einen Blick zurück:

"Wenn wir die Fotoikonen des 20. und 21. Jahrhunderts Revue passieren lassen, dann waren es nicht unbedingt brutale oder spektakuläre Bilder. Bei den Anschlägen vom 11. September 2001 gab es viel schockierendes Bildmaterial, aber ikonografisch ist etwas anderes geworden: das Bild von den Feuerwehrleuten, die die Fahne auf Ground Zero hissen. Was für Bilder letztendlich als ikonografisch gelten, das hat vor allem mit den Emotionen innerhalb der Gesellschaft zu tun."

Ich leite daraus mal eine zuspitzende Frage ab: Können starke stille Bilder heute nicht mehr den Schrecken eines Ereignisses vermitteln, weil "wir" uns schon zu sehr an brutale Bilder gewöhnt haben?

"Tagesspiegel"-Räder standen still

Eine gewisse Bereitschaft aufzubegehren, scheint es derzeit bei Tageszeitungsbelegschaften zu geben. Gerade erst protestierten Mitarbeitende der taz gegen den rüden Umgang der Geschäftsführung mit drei langjährigen Angestellten aus den Anzeigenabteilungen an den Standorten Hamburg und Bremen (Altpapier von Dienstag, ND von Mittwoch), und am Mittwoch streikten nun die Kolleginnen und Kollegen beim "Tagesspiegel".

Es war eine historische Aktion, jedenfalls sieht man’s so bei mmm.verdi.de:

"So etwas hat es beim Holtzbrinckschen Hauptstadtblatt seit 30 Jahren nicht gegeben: Arbeitsniederlegung von 0 bis 24 Uhr. Etwa 150 Beschäftigte aus Redaktion und Verlag versammelten sich in der Mittagszeit zur Streikkundgebung."

Andere Redaktionen waren auch vor Ort. Ruth Lang Fuentes etwa berichtet für die taz:

"'Die Stimmung ist schlecht', sagt eine Mitarbeiterin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. 'Seit über zwei Jahren führen wir Tarifverhandlungen und werden aber immer wieder mit minimalen Gehaltserhöhungen vertröstet.' Am 29. März legte die Geschäftsführung des zu Holtzbrinck gehörenden Verlags ein neues Angebot vor: Redakteur:innen mit bis zu 3.939 Euro Bruttogehalt, Angestellte im Verlag mit bis zu 3.230 Euro sowie Studierende sollten eine Gehaltserhöhung bekommen, um erst einmal die niedrigen Einkünfte anzupassen. Der Rest der Belegschaft erhielt das Versprechen, nach Branchentarifvertrag bezahlt zu werden, sollte der Tagesspiegel im Vorjahr schwarze Zahlen schreiben."

Wegen der "potenziell kreativen Buchführung des Holtzbrinck-Verlages" (Verdi-Mann Jörg Reichel laut "Berliner Zeitung") halten die Gewerkschaften, die zum Streik aufgerufen hatten, Unternehmensangaben zur Farbe der Zahlen aber nur für bedingt verlässlich. Die taz schreibt in dem Kontext:

"(Es) sei (…) ein 'stehender Witz', dass der 'Tagesspiegel' noch nie schwarze Zahlen geschrieben habe. Einmal in den letzten zwanzig Jahren sei das vorgekommen, sagt eine Mitarbeiterin auf der Kundgebung. In diesen zwanzig Jahren sei ihr Bruttogehalt minimal erhöht worden und immer noch weit vom Tarifgehalt entfernt."


Altpapierkorb (serbisches Mediensystem, Interview mit Pressefreiheits-Ikone Maria Ressa, Warfluencer, "Die Paten von St. Pauli")

+++ Dass das serbische Mediensystem "längst ruiniert" sei (und zwar auf eine ähnliche Weise wie in Ungarn) und dass in diesem System die russische Staatsagentur "Sputnik" eine zentrale Rolle spiele - darauf weist der frühere dpa-Auslandskorrespondent Thomas Brey bei "Übermedien" hin.

+++ "If you want to see the worst of what can happen with disinformation and media manipulation, look to countries in the Global South", betont indes die philippinische Pressefreiheits-Gallionsfigur und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa (siehe sehr viele Altpapiere, etwa dieses und dieses) im Interview mit niemanlab.org.

+++ Welche Texte veröffentlichte der "Tagesspiegel" trotz des Streiks am Mittwoch (siehe oben?) Einen über "Warfluencer" bei TikTok zum Beispiel (Blendle-Link).

+++ Ebenfalls im "Tagesspiegel": Thomas Gehringer über die dreiteilige Arte-Dokumentation "Die Paten von St. Pauli", die heute ab 20.15 Uhr läuft. "Nichts erscheint anachronistischer, als Männern, die ihr Leben lang von der Sex-Arbeit der von ihnen abhängigen Frauen gelebt haben, eine Bühne zu bereiten", meint er.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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