Das Altpapier am 21. Juli 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 21. Juli 2022 Fear Is A Man's Best Friend

21. Juli 2022, 11:58 Uhr

Wie Berichte zu den Themen Hitze und Klimakrise angemessen die Bedrohungslage vermitteln können. Inwiefern "Die Zeit" mit einem Gastartikel von Ikke Hüftgold Querdenkern ideologisches Futter liefert. Warum fast 60 Prozent aller Journalistinnen und Journalisten laut einer neuen Studie darüber nachdenken, ihren Beruf aufzugeben. Ein Altpapier von René Martens.

Illoyale Eltern

Schwirrt durch Newsrooms, Redaktionsflure und Home Offices eigentlich noch die sehr alte These, dass man Kritik von Journalistinnen und Journalisten an Kolleginnen und Kollegen als Nestbeschmutzung auffassen können? Offenbar durchaus. Zumindest geht die Klimajournalistin Sara Schurmann in einem Thread darauf ein, dass ihr "mehrere Journalist*innen" gesagt hätten, "dass sie aus Loyalität zu ihren Kolleg*innen deren Arbeit nicht kritisieren können und deswegen nicht offensiver in die Debatte um Klimaberichterstattung einsteigen würden". Schurmann kritisiert das unter anderem mit folgenden Worten:

"Ich halte es weder für Loyalität noch Augenhöhe, Kolleg*innen NICHT zu sagen, wenn sie Fehler machen. Wenn sie wirklich, wirklich wichtige & existentielle Krisen unterschätzen, Zusammenhänge verzerrt bis falsch darstellen & Lobbynarrative reproduzieren. Es ist das Gegenteil."

Was "besonders weh" tue, so Schurmann:

"Alle diese Kolleg*innen hatten Kinder. Kann es wirklich sein, dass eure Loyalität gegenüber euren Kolleg*innen größer ist als die gegenüber euren Kindern? Oder seht ihr den Ernst der Situation doch nicht ganz so klar, wie ich dachte? Ich weiß es nicht."

Ein Begriff, der gut geeignet ist, um die von Schurmann kritisierte Haltung zu beschreiben, könnte sein: Kadaver-Solidarität.

Gebotene Alarmiertheit

"Fear Is A Man's Best Friend" sang John Cale vor nun auch schon fast einem halben Jahrhundert, und heute bietet es sich an, den Titel mal aus dem Kontext zu reißen, um überzuleiten zur aktuellen "Wochenschau" von Samira El Ouassils für "Übermedien" (€). Es geht um "reflektierte Angst" und "gebotene Alarmiertheit" in der Berichterstattung über die Hitze - und über deren Ursachen, also die eben im anderen Kontext schon erwähnte Klimakrise. Beziehungsweise: Es geht um die Frage, wie man so berichtet, dass die Adressaten die Bedrohungen ernst nehmen, aber gleichzeitig so, dass man keine Panik verbreitet.

El Ouassil meint:

"Was die Berichterstattung (…) leisten muss: so zu informieren, dass diese Informationen zugleich als Appell und eben dringende Warnung verstanden werden, ohne die Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie (wie Hyperbeln, Boulevardisierung oder Negativität) zu missbrauchen."

Die Medien, so die Autorin weiter, müssten Warnungen

"so lange wiederholen, bis davon auszugehen ist, dass der Auftrag erfüllt wurde – was jedoch den subjektiven Eindruck verstärken kann, dass eine Angstspirale befeuert wird. Dieser Eindruck liegt aber (zumeist) nicht an der Berichterstattung selbst oder an den Wiederholungen, sondern am Inhalt der Botschaft: Die Hitze selbst hat eine angstauslösende Dimension, und umso mehr, wenn sie als Ausdruck unserer globalen Krise verstanden wird".

Ergo: Es könnte völlig fehl am Platz sein, Angst auslösende Berichterstattung zu vermeiden, weil die Angst ohnehin da ist.

Der Ground Zero der Debatte

Ich habe bisher nicht über "Layla" geschrieben und auch nicht über die transphobe Rüpelin, der man Ambitionen im Bereich der Meeresbiologie nachsagt, weil mir manche Debattenanlässe oder Debattenfiguren dann doch zu lächerlich erscheinen. Das ist gewiss eine angreifbare Position, und im Fall "Layla" gebe ich sie heute auf.

In diesem Fall hat die Debatte nun ihren Ground Zero erreicht. Das Zeit-Ressort "Streit" hat Ikke Hüftgold, den Produzenten des Saufliedes, einen Essay (€) schreiben lassen, den man, wenn man es dann doch positiv wenden möchte, als kongenial bezeichnen könnte. Denn: Ikke Hüftgold gelingt es hier, die Begriffe "Freiheit", "Diktatur", "Zensur" und "Grundgesetz" auf die inhaltliche Substanz von Sauflied-Textfetzen herunterzubrechen.

Auszüge:

"Die Layla-Debatte (…) erweist (…) sich (…) als gefährlicher Versuch, das zu unterwandern, was uns als plurale Gesellschaft ausmacht" - "Die Layla-Debatte unterwandert auch unser Grundgesetz" - "Eine Diktatur beginnt oft mit Zensur. Das Zensurverbot ist genau aus diesem Grund explizit im Grundgesetz verankert. Wir sollten nicht einmal in die Nähe von Zensur geraten."

Und dann tanzt Ikke Hüftgold auch noch den Julian Reichelt:

"Unser Land kämpft auf der ganzen Welt für Freiheit, wir haben einen Krieg in Afghanistan im angeblichen Auftrag der Freiheit geführt – dann sollten wir auch in jeder Sekunde in unserem eigenen Land für die Freiheit kämpfen!"

Zwischen den Zeilen hört man ständig den "Frieden! Freiheit! Keine Diktatur"-Schlachtruf, und deshalb ist es auch nachvollziehbar, dass Lorenz Meyer twittert:

"Ihr gebt den Verschwörungs-Dullis, Querdenker-Heinis und AfD-Leuten ideologisches Futter & lasst den Produzenten von Zensur und einer aufkommenden Diktatur faseln? Nicht Euer Ernst, oder?"

Wer weiß, vielleicht grämen sie sich bei der "Zeit" gerade darüber, dass es ihnen nie gelungen ist, Gottlieb Wendehals als Essayisten zu gewinnen.

Der Journalistenberuf ist ungesund

Fachleute aus den Bereichen Arbeits- und Organisationspsychologie oder Klinische Psychologie treten eher selten als Autoren von Studien zum Thema Medien in Erscheinung, und damit wäre dann schon mal Grund dafür genannt, weshalb das neue Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung besondere Beachtung verdient.

Burkhard Schmidt ist im erstgenannten Bereich tätig, Simon Mack im zweiten, und zusammen mit Rainer Nübel und Daniel Rölle haben sie eine Studie unter dem Titel "Arbeitsdruck – Anpassung – Ausstieg. Wie Journalist:innen die Transformation der Medien erleben" (PDF) erarbeitet.

Die Studie, die, wie es in der Zusammenfassung heißt, einen "arbeits- und organisationspsychologischen Untersuchungsansatz mit medienwissenschaftlicher und -praktischer Perspektive" verbinde, legt dar, dass der digitale Wandel und die ökonomische Situation der Branche ein "erhöhtes Risiko für Erkrankungen wie Burn-out" mit sich bringe - unter anderem wegen der Arbeitsverdichtung und dem aus anderen Gründen gewachsenen Stress. Die Folgen, so die Autoren der Studie:

"Während sich einige ältere Medienschaffende gedanklich eher Richtung Ruhestand orientieren, stecken viele jüngere, insbesondere zwischen 30 und 40 Jahren, offenbar in ihrer beruflichen Perspektive fest. In der Online-Befragung geben fast 60 Prozent aller Befragten, insbesondere jüngere Journalist:innen, an, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten wiederholt – jede:r Zehnte einige Male in der Woche – an das Aufgeben ihres Berufs gedacht haben."

Warum konkret?

"Jeweils zwei Drittel der Online-Befragten geben an, sich 'schon vor der Arbeit müde' zu fühlen und dass die Belastungen durch die Arbeit 'nicht zu ertragen' seien (…) Daraus lässt sich ein statistisch erhöhtes Gesundheitsrisiko für körperliche und psychische Folgeerkrankungen sowie ein erhöhtes Risiko für Krankheitstage und Frühverrentungen ableiten".

Das Fazit des Autorenteams: "Das Thema psychische Gesundheit der eigentlichen Medienmacher:innen" müsse "mehr in den Fokus der Öffentlichkeit und von Arbeitgeber:innen rücken".

Ein drehbuchreifer Tod

Dass ein Landgericht den Tod eines Prominenten öffentlich macht, geschieht vermutlich eher selten. Am Mittwoch ist es passiert: Das Landgericht München teilte mit, dass bereits in der vergangenen Woche der Regisseur Dieter Wedel verstorben sei. Eigentlich sollte das Gericht gestern bekannt geben, ob es zum Prozess gegen Wedel kommt. Es hätte dabei um die Vergewaltigungsvorwurf der Schauspielerin Jany Tempel gegen Wedel sollen.

"Der Drehbuchautor Wedel hätte sich mit genau diesem Trick aus einer verzwickten Lage befreit",

schreibt Willi Winkler dazu in der "Süddeutschen".

Wedel war "die Figur schlechthin einer deutschen #MeToo-Debatte" (Jan Feddersen, taz), und zwar seit Januar 2018, als in Artikeln von "Zeit"-Magazin und "Zeit" zu diesem Zeitpunkt insgesamt sieben Schauspielerinnen Wedel der sexuellen Nötigung und anderer Übergriffe bezichtigten (siehe Medienkorrespondenz-Archiv).

Mit der Überschrift "Ein Fernsehmagier im Schatten von MeToo" spielt der "Tagesspiegel" auf das Wedel-Bild vor und ab 2018 an. Dass der Verstorbene ein "Magier" war, würde wiederum der bereits zitierte Willi Winkler nicht sagen, er nennt ihn einen "soliden Handwerker", der etwa "vom genrebewussten Kunstwillen Dominik Grafs Gebührenlichtjahre entfernt" war.

Die SZ hat zwei Nachrufe (die jeweils hinter der Paywall stehen) veröffentlicht, in dem von Winkler dominiert das Werkbiographische - "Seine größte Leistung war zweifellos 'Der große Bellheim' (1993), eine mehrfach gewendete Buddenbrooks-Fortschreibung" -, in dem anderen geht es um den nun nicht mehr zustande kommenden Prozess:

"Erst störte Corona, dann kam überraschend ein Waffenhändler-Prozess dazwischen, den das zuständige Gericht in München einschieben musste. Die Entscheidung, ob die Anklage zugelassen und wann der Prozess beginnen sollte, verschob sich über Monate. Vor allem für Tempel war das eine Belastung. Sie trat an ihrem Wohnort in Thailand vor einigen Wochen in den Hungerstreik, um die Eröffnung des Prozesses zu erzwingen. Per Livestream konnte man zuschauen, wie sie in einem Käfig saß und nur Wasser trank. Nach gesundheitlichen Problemen hatte sie den Hungerstreik vergangene Woche abgebrochen. Ihre Aktion war nun vergebens, so wie auch die Arbeit der Ermittlungsbehörden."

Am meisten über Wedel habe zumindest ich aus dem Nachruf erfahren, den Christian Buß für den "Spiegel" (€) geschrieben hat (auch wenn er teilweise zu süffig klingen mag):

"Dieter Wedel war malad und grämte sich. Das Haus in Hamburg-Tonndorf roch nach der Kohlsuppe, die ihm zur Aufpäppelung von jener Lebensgefährtin gekocht worden war, mit der er zusammenlebte, wenn er nicht bei seiner anderen Lebensgefährtin auf Mallorca weilte. Es war im kalten, trüben Winter 2009/2010, und was wir in dem Interview zu besprechen hatten, gefiel Wedel gar nicht."

Es ging damals um Wedels Zweiteiler "Gier", dessen Niveau Buß gegenüber dem Hausherrn kritsierte:

"Das brachte ihn ganz schön auf. Erst wetterte er gegen die Finanzindustrie, dann gegen mich und schließlich auch noch gegen einen Spiegel-Kollegen, von dem er sich in grauer Vorzeit durch einen Artikel mal beleidigt gefühlt hatte und gegen den er offenbar immer noch einen großen Groll hegte. Ich sollte Grüße überbringen und ausrichten, dass er, Wedel, ihm, dem Kollegen, noch mal ordentlich in die Fresse hauen werde. Irgendwann, wenn es die körperlichen Kräfte wieder zulassen würden. Dann löffelte er seine Kohlsuppe."


Altpapierkorb (Ferda Ataman über Falschbehauptungen, Dokuserie zum Massenmord von München, Klimakiller Streaming, fragdenstaat.de jetzt auch gedruckt, Update zur "Stuttgarter Zeitung")

+++ "Die Zeit" hat Ferda Ataman, die neue Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, interviewt (€), und zwar vor allem zu den Vorwürfen, mit denen sie sich vor ihrer Wahl konfrontiert sah. Sie sagt: "Womit ich (...) nicht gerechnet habe, sind die vielen Falschbehauptungen, die von einigen Medien ungeprüft übernommen wurden, etwa dass ich Deutsche absichtlich diskriminieren würde oder dass ich Probleme innerhalb von migrantischen Communitys nicht angesprochen hätte. Auch haben viele einfach ignoriert, dass meine Nominierung bei vielen wichtigen Migrant*innen- und Behindertenverbänden, dem Frauenrat und dem Lesben- und Schwulenverband sehr begrüßt worden ist."

+++ Zu den vielen Stärken der neuen Sky-Crime-Dokuserie "22. Juli - Die Schüsse von München" gehört meiner Einschätzung nach der extensive Blick auf die Fehler, die verschiedenen Ermittlungsbehörden vor und nach dem Massenmord des Rechtsextremisten David Sonboly unterlaufen sind. Die SZ, die an der Produktion des Vierteilers beteiligt war, spricht in ihrer heutigen Ausgabe von einer "sehenswerten Rekonstruktion und Analyse des Geschehens", veröffentlicht die Rezension aber nicht auf der Medienseite, sondern im Ressort "München und Region".

+++ Sky-Abonnenten, die planen, die Dokuserie zu streamen, anstatt sie sich ab heute um 20.15 Uhr linear anzuschauen, sollten sich das mit Blick auf den CO2-Fußabdruck vielleicht noch mal überlegen. Denn: "Eine Stunde Video-Streaming (…) emittiert 3200 Gramm. Damit die Zahl zur vorstellbaren Größe wird, hier ein Vergleichswert: zehn Kilometer Autofahren bedeuten 1500 Gramm Kohlendioxid-Ausstoß", rechnet Joachim Huber in einem "Tagesspiegel"-Kommentar vor.

+++ Das Berliner Verwaltungsgericht hat kürzlich, als die Plattform fragdenstaat.de auf die "Auskunftspflicht von Behörden gegenüber der Presse" pochte, entschieden: "Presse (ist) nur dann Presse (…), wenn sie ausgedruckt werden kann" - so fasst jedenfalls "Übermedien" das zumindest auf den ersten Blick eigenwillige Rechtsverständnis zusammen. Anlass des Beitrags ist, dass fragdenstaat.de als Reaktion auf die Entscheidung eine Art Greatest-Hits-Sammlung der dort erschienenen Beiträge gedruckt veröffentlicht hat.

+++ Die Personaleinspar-Exzesse bei der "Stuttgarter Zeitung" waren hier schon häufig Thema, etwa in diesem und diesem Altpapier. Details dazu, wie "der Kahlschlag zügig voran schreitet", nennt nun die Wochenzeitung "Kontext", das Fachorgan für derlei Verwerfungen: "Insgesamt verlassen sieben Lokalredakteur:innen das Haus, etwa ein Drittel aus diesem Ressort. Drei Wirtschaftsredakteur:innen machen nicht weiter, vier Politik-Journalist:innen, zwei aus der Kultur (und) die beiden (…) Berliner Korrespondent:innen."

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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