Das Altpapier am 7. Juli 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 7. Juli 2022 Leicht verdauliche Falschbehauptungen

07. Juli 2022, 11:05 Uhr

Heute auf der Agenda: Politikjournalistinnen und Politikjournalisten, die nicht recherchieren, sich wie Teenager verhalten und sich Gedanken über Christian Lindners Hochzeit machen. Außerdem: Recherchen zu "zweifelhaften" Mitwirkenden am Evaluationsbericht des Corona-Sachverständigenrats. Ein Altpapier von René Martens.

Wahl-Vorberichterstattung

Heute entscheidet der Bundestag zur Kaffee-und-Kuchen-Zeit darüber, ob die Publizistin Ferda Ataman Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung wird. In den vergangenen Wochen sah sie sich zahlreichen Vorwürfen ausgesetzt (siehe unter anderem dieses und dieses Altpapier) beziehungsweise wurde zur Zielscheibe in einem "Kulturkrieg" (wie es der Kultur- und Medienwissenschaftler Michael Seemann formuliert). In der taz fragt Matthias Meisner nun:

"Lassen sich diese Vorwürfe denn überhaupt belegen, die über die tausendfach geäußerte Klage hinausgehen, laut der Ataman Deutsche als 'Kartoffel' beleidigt hat? Nein."

Meisner geht dann auf die Breite des Spektrums ein:

"Die Stimmungsmache der Springer-Presse war das eine – schon da ergab sich der Eindruck einer orchestrierten Kampagne. Doch dann erschienen auch in anderen Medien kritische Texte."

Um ein nicht ganz unschiefes Bild zu bemühen: Es bildete sich gegen Ataman ein großer Kartoffelauflauf. Der taz-Kommentator schreibt des weiteren:

"Was (…) hängenbleibt: Sogar der 'Spiegel', die 'Süddeutsche' und der 'Tagesspiegel' sind gegen Ataman, also demnächst so gut wie alle. Was in den Hintergrund gerät: die breite Unterstützung für die Kandidatin – vom Rat für Migration über die 'Charta für Vielfalt' und den Direktor der Bildungsstätte Anne Frank bis hin zum einstigen Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet."

Sehr viele für etablierte deutsche Medien arbeitende Journalisten sind halt so konservativ, dass ihnen sogar eine Frau, die Reden für Armin Laschet geschrieben hat, zu links ist.

Stephan Anpalagan schlägt in einem Beitrag für seinen Blog (den die FR republiziert hat) noch einen etwas härteren Ton an als Meisner:

"An den zahlreichen Kolumnen, Interviews und Streitgesprächen lässt sich – und das ist das Gute – der Zustand der deutschen Medienlandschaft einigermaßen präzise feststellen: Er ist schlecht. Sehr schlecht. Wenn das, was in den vergangenen drei Wochen zu Atamans Nominierung geschrieben, gedruckt und gesendet wurde, auch nur annähernd die Pluralität und die Recherche-Qualität der deutschen Medien darstellen soll, haben wir ein gewaltiges Problem. Nahezu alle Beiträge sind falsch, ausnahmslos alle Bezichtigungen, die ich bisher gelesen habe, sind geprägt von falschen Tatsachenbehauptungen. Ein veritabler Anteil der Texte würde einer juristischen Prüfung nicht standhalten. Vieles klingt dennoch plausibel. Manches wird durch Wiederholung leicht verdaulich."

Sein Rant kulminiert dann in folgender Passage:

"Dass Medien wie der 'Spiegel', der 'Tagesspiegel', die 'Süddeutsche Zeitung' und andere sich auf genau diesen Dreck einlassen und es nicht hinbekommen, wenigstens die gröbsten Anschuldigungen mit Recherche aus dem Weg zu räumen, ist eine Schande. Eine. Schande. Wofür soll denn die vielgerühmte Spiegel-Dok gut sein, wenn niemand (!) in der Lage ist, zumindest die eigene Webseite auf Fakten zu Ataman zu befragen."

Julius Betschka, ein Redakteur des sowohl von Anpalagan als auch von Meisner angegriffenen "Tagesspiegels", greift wiederum Erstgenannten an. Der "Vorwurf der Beteiligung an einer Rufmordkampagne" sei "daneben". Denn:

"Bei uns gab es inzwischen ungefähr fünf sehr unterschiedliche Kommentare dazu. Die Mehrzahl eher positiv."

In die Kategorie "eher positiv" ließe sich tagesaktuell auch die Elder-Statesman-artige Intervention von Herausgeber Stephan Andreas Casdorff einordnen ("Sie eckt an – und das ist auch gut so", "Eine Kandidatin ohne Kanten wäre für dieses Amt eine Fehlbesetzung"). Bei merkur.de gibt’s dagegen rechtzeitig zur Abstimmung im Bundestag noch mal zünftiges Ataman-Bashing. Einer der teilweise parodistisch anmutenden Sätze von Georg Anastasiadis lautet:

"Mit Ataman fällt die Ampel-Koalition, die doch eigentlich mehr Fortschritt wagen wollte, zurück in eine überwunden geglaubte Klassengesellschaft."

Die "Klassengesellschaft" war eigentlich schon "überwunden"? Potztausend!

Verliebt in den Falschen?

Der "Zustand der deutschen Medienlandschaft", um noch einmal Stephan Anpalagan aufzugreifen, ist auch Thema eines Kommentars, den Wolfgang Michal für den "Freitag" geschrieben hat. Konkreter Anlass ist der Umgang mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, dessen Abberufung wohl bevorsteht. Der Diplomat hatte in einem Interview mit Tilo Jung das Wirken des Faschisten Stepan Bandera verteidigt und verharmlost - mit Äußerungen, die schon länger in der Luft lagen, die aber eben erst Jung Melnyk entlockte. Michal meint:

"Die liberalen Leitmedien haben in eklatanter Weise versagt. Gehen Fernsehtalker und Großkolumnisten sonst bei jedem Naziverdacht sofort in moralisch korrekte Habachtstellung, erlagen sie hier wie verliebte Teenager Andrij Melnyks zweifellos vorhandenem Charme (…) Da trat ein Diplomat nicht wie ein Diplomat auf, sondern kämpfte hemmungslos und 'scharfzüngig' für eine 'gerechte Sache'. Nichts lieben voreingenommene, politisch oft naive Journalisten mehr als 'unverstellte Direktheit'!"

Die sie natürlich auch deshalb lieben, weil sie einen hohen Unterhaltungswert hat. Bei Zeit Online kommentiert Carsten Luther, dass er die Ablösung Melnyks "schade" finde. Luther kritisiert zwar inhaltlich dessen geschichtsrevisionistische, zum Beispiel von der FR protokollierte Äußerungen, fasst sie dann aber zusammen mit den Worten, Melnyk habe "wirklich Mist gebaut" zusammen - als wäre der Kritisierte ein Kind, das sich einen schlechten Streich erlaubt hat.

Da wir schon beim Thema Politikjournalismus sind: Eine der frustrierendsten Selbstauskünfte, die ich aus einer dafür zuständigen Redaktion in diesem Jahr bisher vernommen habe, kommt vom ZDF (mit Dank an @Sektordrei für den Hinweis):

"Die Hochzeit von Bundesfinanzminister Christian Lindner auf Sylt spaltet in der ZDF-Hauptstadtredaktion die Gemüter."

Sagen wir es mal so: Es sind schon viele Witze gemacht worden über Pro-und-Contra-Präsentationen, aber die beiden Redakteurinnen, die sich hier zu einem Thema äußern, über das ich normalerweise nicht bereit wäre, auch nur eine Nanosekunde nachzudenken, haben das offenbar kaum  bemerkt. Um jetzt im Zusammenhang mit Lindner aber auch etwas Positives über das ZDF zu sagen: Am Dienstag hat er die Macher der in der Regel ultraöden Satire-Rubrik des Magazins "Frontal" mal zu einem gelungenen Beitrag inspiriert.

Verdammte Axt!

Joachim Huber bringt im "Tagesspiegel" sein Unbehagen darüber zum Ausdruck, wie die Talkshows derzeit mit dem Thema Corona umgehen:

"Wird aus Covid-19 wieder nur ein Geschäftsmodell für das (Gesprächs-)Fernsehen? Wo ein Minister Karl Lauterbach, da ein Virologe Hendrik Streeck oder eine Philosophin Svenja Flaßpöhler. (…) Die Talkshow-Macher hätten ihre Schlüsse Richtung neuer Verantwortung ziehen, wenigstens ins Grübeln hätten sie kommen können, ob die Suche nach dem wegweisenden Pandemie-Management nicht auch ein neues Talkmanagement hätte provozieren müssen. Sie bleiben aber beim bewährten Instrument der Streitaxt (…) Seine Lernfähigkeit scheitert am Quoten-Gen."

Formulieren würde ich das zwar nicht so, aber inhaltlich ist das natürlich nicht falsch. Die wichtigere Frage scheint mir jedoch zu sein: Wie wird die nun wieder vielleicht etwas stärker in der breiteren Öffentlichkeit geführte Debatte zu Corona dadurch beeinflusst, dass Querdenker-nahe Person strukturell und institutionell an Einfluss gewonnen haben? Dieser Einfluss schlägt sich jedenfalls nieder im Evaluationsbericht des jeweils zur Hälfte von Bundestag und Bundesregierung berufenen Sachverständigen-Ausschusses. Zu den "zweifelhaften" Mitwirkenden an dem Bericht haben Marianne Falck und Silke Jäger für die "Riffreporter" (mit Paywall, 15 Minuten Lesezeit) recherchiert:

"In den Ausschuss geschafft hat es (…) ein ehemaliger Professor für Electrical Engineering an der Jacobs University Bremen. Nicht nur, dass er fachfremd ist, irritiert an Werner Bergholz. Er gehört ganz offenbar der Querdenker-Szene an. So hat er am 11. Juni 2022 unter anderem gemeinsam mit den Corona-Leugnern Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg einen neuen Berufsverband für Ärzte gegründet."

Was andere Mitwirkende angeht, fehlt, wie die Autorinnen des "Riffreporter"-Beitrags kritisieren, im Evaluationsbericht dann eine gewisse Transparenz:

"Neben den 18 Ausschussmitgliedern haben 20 weitere Sachverständige am Gutachten mitgewirkt. Allerdings werden nur die Titel und Namen der Personen aufgeführt, es fehlen weitere wichtige Informationen wie Lehrstuhl-Zugehörigkeit, Organisation oder Ähnliches."

Bereits im November vergangenen Jahres Thema im Altpapier war ein vermaledeiter Verein, der sich "Initiative Familien" nennt, und er kommt nun auch im "Riffreporter"-Beitrag vor:

"Im Kapitel über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben sich gleich 14 externe Mitwirkende eingebracht. Einige von ihnen weisen Verbindungen in die umstrittene und Querdenker-nahe Initiative Familien auf, andere wie der Mediziner und Infektiologe Martin Schrappe sind mit unsauberem wissenschaftlichen Arbeiten zu Covid-19 aufgefallen."

Warum diese Recherchen zu den "zweifelhaften" Mitwirkenden des Evaluationsberichts nicht in den "liberalen Leitmedien" (Wolfgang Michal) zu finden sind, sondern bei einem nischigen Journalismusportal, das auf Longreads zu Themen wie Wissenschaft, Umwelt und Gesundheit spezialisiert ist - das ist vielleicht eine nicht ganz unmaßgebliche Frage.


Altpapierkorb ("Inside G20", RBB-Berater, unterbezahlter Auftragsmörder)

+++ Anlässlich des fünften Jahrestages des G20-Gipfels  erscheint heute die letzte Folge des sechsteiligen Podcasts "INSIDE G20 – Hamburg zwischen Gipfel und Abgrund”, den Studierende des Masters Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Uni Hamburg produziert haben. "Breitband" (Deutschlandfunk Kultur) hat den Podcast bereits am Wochenende empfohlen. Medienkolumnistisch relevant ist vor allem die dritte Folge, in der es unter anderem um die unter beinahe bananenrepublikanisch anmutenden Entziehungen von Presse-Akkreditierungen geht (und welche Folgen dieses Vorgehen für Betroffene noch Jahre später hatte).

+++ Riechen viele Verträge, die der RBB mit sogenannten Beratern abgeschlossen hat, nach Filz? Auf die Vorwürfe (und die Reaktionen des Senders) gehen der Tagesspiegel und die "Süddeutsche" (€) ein.

+++ Aufmacher der FAZ-Medienseite (€) sind neue Erkenntnisse zur Ermordung der maltesischen Investigativjournalistin Daphne Caruana Galizia. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters hat einer der mutmaßlichen Mörder, George Degiorgio, die Tat zugegeben - und gleichzeitig mit den Worten "Hätte ich mehr gewusst, hätte ich zehn Millionen Euro verlangt statt 150 000" seinen Ärger darüber zum Ausdruck gebracht, dass er "den Auftragsmord gewissermaßen unter Preis verübt" habe, wie die FAZ schreibt. Im DLF-Magazin von Mittwoch war das Interview Degiorgios mit Reuters ebenfalls ein Thema.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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