Das Altpapier am 29. September 2022 Auch richtige Kritik kann falsch sein
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04. Oktober 2022, 12:23 Uhr
Friedrich Merz hat uns mal wieder eine Falle gestellt, in die wir hinein tappen - weil wir letztlich dann doch keine Wahl haben. Außerdem: Wie umgehen mit der Herbstwelle? Ein Altpapier von René Martens.
Das Aufmerksamkeitsdilemma liberaler Demokratien
Das Problem, dass man durch die Kritik an einer falschen oder bösartigen oder aus einem anderen Grund dringend Contra verdienenden Äußerung auch dazu beiträgt, letztere zu ampflizieren, dürfte den meisten Medienkritikerinnen und Medienkritikern mittlerweile bewusst sein. Anlässlich der Merzschen Injurie "Sozialtourismus" (siehe auch Altpapier von Mittwoch) setzt sich Samira El Ouassil damit ausführlich und instruktiv auseinander.
Nach einer einordnenden Vorrede - "Politisch geht es bei Sprachkritik nicht um Sensibilitäten, um den guten Ton, es geht nicht mal um Herz oder Anstand, sondern um die Macht. Hier die Macht, mit Worten und Bildern Menschen eine Zielscheibe auf den Rücken zu malen" - schreibt El Ouassil "zum Wort selbst":
"Es funktioniert wie jedes langweilige Vokabular einer Hundepfeifen-Politik, beispielsweise die ‚bad hombres‘ von Donald Trump, um Hass auf Mexikaner zu schüren oder die ‚LGBT-Lobbies‘, von denen Giorgia Meloni raunt. Solche Hochfrequenztöne schmeicheln den Eingeweihten, die sie vernehmen, binden die Energien der politischen Opponenten und enthumanisieren die Beschriebenen. Und sie sind stets eine politische und mediale Falle, in die man tappt, wenn man sich mit dem Wort, wie auch hier in dieser Kolumne, auseinandersetzt, unabhängig davon, ob man darauf reagiert oder bewusst eben nicht: Denn Konservative benutzen das populistische Degradieren einer Menschengruppe eben nicht nur nur um Ressentiments zu schüren und nach Stimmen zu fischen (wenn das überhaupt gelingt), sondern auch, um durch diese Provokation Kritiker:innen aus der Deckung zu locken, deren Energie zu nutzen und ihre Kanäle in geistigem Guerrillatum zu belegen. Das scheint gerade in Bezug auf die anstehende Wahl in Niedersachsen aus konservativer Sicht eine sinnvolle Strategie, um potenziell AfD-Wählende für sich zu gewinnen."
In die "politische und mediale Falle" tappen auch wir hier und heute natürlich wieder, allerdings leisten wir es uns ja manchmal auch, Hundepfeifen-Politik und Hundepfeifen-Journalismus dann zu ignorieren, wenn ungefähr alle anderen es nicht tun.
Ein Nebengedanke zur von El Ouassil (und auch gestern an dieser Stelle im Merz-Kontext) erwähnten Landtagswahl in Niedersachsen: Das "TV-Duell" fand bereits am Dienstag statt, aber dass es eine große journalistische Resonanz gefunden hätte, lässt sich meinem Eindruck nach nicht sagen. Eine Analyse findet man aber beim landespolitischen Fachdienst "Rundblick Niedersachsen".
Noch einmal zurück zum Umgang mit dem "langweiligen Hundepfeifen-Vokabular von Friedrich Merz", wie es in der "Übermedien"-Überschrift heißt:
"Es ist das Aufmerksamkeitsdilemma unserer liberalen Demokratien: wir können nicht ignorieren, was Menschen absichtsvoll verletzt, in einer Demokratie zum Schutz der Demokratie nicht unwidersprochen lassen, was antidemokratisch ist – doch indem wir uns damit beschäftigen, machen wir es mächtiger. Man will das Spiel mit dem Trillern der Hundepfeife in Richtung reaktionärer Wähler nicht mitspielen, indem man genau diesen Ton mithilfe seiner eigenen Verbreitung amplifiziert. Unwidersprochen lassen kann man eine menschenfeindliche Aussage auch nicht, weil kein Widerspruch reale und negative Konsequenzen für die Personen hat, die es betrifft."
Ist Reichelt komplett abgedriftet?
Zu den Vertretern des Hundepfeifen-Journalismus, die ich in dieser Kolumne normalerweise zu ignorieren versuche, gehört Julian Reichelt. Weil Claudius Seidl ihn nicht ignoriert und den FAZ-Medienseiten-Haupttext (für 75 Cent bei Blendle zu haben) über Reichelts Videokanal geschrieben hat, geht mein Vorsatz über die Wupper. Was Seidl u.a. beobachtet hat:
"Neulich musste (Reichelt) schon das halbe Twitter durchsuchen, bis er endlich ein paar Stimmen fand, welche die verstorbene englische Königin als Kolonialistin und Rassistin schmähten. Dann warnte er, drastisch und scheinbar tief beunruhigt, vor einem mächtigen links-woken Meinungskartell, das den Deutschen den Respekt vor der Königin und der Toten ihre Würde rauben wolle. Normalerweise meint er mit diesem Kartell die Leute, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen und große Teile der Zeitungen beherrschen – es sind also jene Journalisten, die doch tagelang die Trauerfeierlichkeiten übertragen und in ihren Leitartikeln die Größe dieser Frau gepriesen haben. Ob Reichelt verrückt geworden sei, komplett abgedriftet; ob er sich womöglich nur einen Scherz mache mit so einem Video; oder ob er wirklich alles, was er als links betrachte, so hasse, dass er die einfachsten Tatsachen nicht mehr erkennen könne: das sind die Fragen, die dieses Video aufwirft."
Ich würde zu der Antwort neigen, dass "Tatsachen" für Reichelt (und seinen Fanblock) überhaupt keine relevante Kategorie sind bzw. er zu den "recht viele Journalist*innen" gehört, die sich "von Konzepten wie Realität, Tatsachen, Kontext verabschiedet zu haben scheinen" (@tinido neulich, siehe Altpapier)
Corona ist das neue Normal
Dass Journalistinnen und Journalisten sehr viel Energie darauf verwenden, sich mit Hundepfeifen-Politik auseinanderzusetzen, dürfte zumindest einen Teil dazu beitragen, dass andere Themen in den Hintergrund geraten. Womit wir bei der Herbstwelle wären. "Lust, sich damit auseinanderzusetzen, hat kaum jemand", konstatiert Gereon Asmuth in der taz:
Weiter schreibt er:
"(Es) sterben (…) aktuell täglich rund 80 Menschen an den Folgen einer Infektion. Im Herbst werden es noch deutlich mehr werden. 9.000 Opfer zählte das RKI in den letzten drei Monaten. Am kommenden Wochenende wird der 150.000 Tote seit Pandemiebeginn registriert werden. Hinzu kommen Zehntausende, die an Long Covid oder gar Post Covid leiden. Es ist also mehr als gesund, die Masken wieder rauszukramen und über eine weitere Impfung nachzudenken. Doch wie soll eine Gesellschaft eigentlich umgehen mit so einer Pandemie? Wie soll sie die Risiken der einen gegen die Unbeschränktheit der anderen abwägen? Auf diese großen Fragen gibt es auch nach zwei Jahren Streit und Debatte noch keine befriedigenden Antworten. Dabei wären sie überfällig. Denn so viel ist klar: Corona ist kein Ausnahmezustand mehr. Corona ist das neue Normal, das einfach nicht mehr weggeht."
Der Journalismus trägt in seiner Gesamtheit derzeit zu wenig dazu bei, "befriedigende Antworten" zu finden - was natürlich nicht heißen soll, dass es aktuell keine sehr guten Artikel zum Thema Corona gibt. Dazu zählt etwa ein SZ-Kommentar zur aktuellen Schnapsidee von vier offenbar nicht zur Menschenfreundlichkeit neigenden Landesgesundheitsministern. Und die MDR-Kollegen, die den Newsletter "Corona-Daten-Update" produzieren, empfehlen in der aktuellen Ausgabe einen 60-seitigen Text aus dem Wissenschaftsmagazin "The Lancet".
Die in diesem Theater schon mal gestellte Frage: "Wann kommt wieder ein ‚ARD extra‘ zur Corona-Lage?" kann man jetzt auch wieder stellen. Das bisher letzte lief übrigens am 6. April.
[Anmerkung der Redaktion: Nach dem Hinweis des taz-Autors Gereon Asmuth haben wir die irreführende Anmerkung in seinem Zitat entfernt. Stand: 04.10.2022]
Ein Feldzug der Ahnungslosen
Zu den naturgemäß gar nicht so wenigen Debatten oder "Debatten", die in dieser Kolumne unter den Tisch fallen (müssen), gehörte bisher auch jene um die Entscheidung Disneys, für eine Live-Action-Version von "Arielle" die Rolle der Meerjungfrau mit Halle Bailey, einer Schwarzen Sängerin, zu besetzen. Ein Text, den Katharina Walser für "54 books" geschrieben hat, bietet nun den Anlass, das Thema aufzugreifen. Walser beschreibt einen im Kern auch bei anderen Casting-Fragen schon zu beobachtenden "rassistischen Feldzug":
"So amüsant manche Tweets sind, in denen die Verfechter*innen dieser biologistischen und nationalistischen Beiträge, die auf einer weißen Arielle beharren, darauf hingewiesen werden, wie absurd es ist, Realismus ausgerechnet in einer Geschichte zu suchen, in der neben einer Meerjungfrau auch sprechende Meerestiere und eine Hexe auftreten, müsste man soweit überhaupt nicht gehen. Denn wer auch nur ein wenig Ahnung von fiktionalen Erzählungen hat, sollte erkennen, dass Arielle keine Dokumentation und auch kein Biopic einer historischen Person ist. Die Verweigerung, das anzuerkennen, zeigt, dass es in diesen Realismusdebatten eben nicht um die Wahrung eines ursprünglichen Stoffes geht – weshalb die Teilnehmenden vermutlich auch immun gegen solche Hinweise zur fiktionalen Adaption sind (…) Die Untertöne verzweifelter Bemühungen der #notmyariel-Fraktion für eine Aufrechterhaltung eines ausgekochten Diskurses sind so letztlich nichts als rassistische Stammtisch-Parolen."
Um es kurz zu machen:
"Die Verfechter*innen eines erzählerischen Realismus verstehen das Konzept einer Adaption nicht bzw. wollen es nicht verstehen."
Altpapierkorb (Fretterode-Urteil, Lorenzen, Stein, Troller, Wallraff, MDR-Rundfunkrat)
+++ Das Urteil im sogenannten Fretterode-Prozess, das für zwei Neonazis, die zwei Fotoreporter beinahe tödlich verletzt hatten, maximal milde ausfiel (Altpapier, Altpapier), ist nun Thema eines "Zapp"-Beitrags von Julian Feldmann.
+++ Norbert Lorenzen und Julia Stein, jene Führungskräfte des NDR in Schleswig-Holstein, denen in der vergangenen Woche "96 Mitarbeitende das Vertrauen entzogen" ("Spiegel", Altpapier), sollen nach Vorstellung des weiterhin regierenden Funkhausdirektors Volker Thormählen "neue Aufgaben außerhalb des Landesfunkhauses Schleswig-Holstein" bekommen (siehe u.a. faz.net). Bemerkenswert noch die Mischung aus neoliberalem Unternehmensberaterquark und Günter-Schabowski-Sound, mit der der NDR in seiner Pressemitteilung zur Sache aufwartet: "Der strukturelle und kulturelle Neuanfang im Landesfunkhaus Schleswig-Holstein beginnt unverzüglich."
+++ Günter Wallraff wird am Samstag 80 Jahre alt, weshalb RTL heute um 22.35 Uhr Lutz Hachmeisters Dokumentation "Günter Wallraff, der Rollenspieler" zeigt. Hachmeister wiederum schreibt aus diesem Anlass für die "Süddeutsche Zeitung" (€) über ein Treffen Wallraffs mit seinem Freund Georg Stefan Troller, das während der Dreharbeiten für den Film in Paris stattfand: "Beide waren Rebellen im System, der eine sanfter, der andere dezidierter. Das ist heute, ohne jede Nostalgie, sehr viel schwieriger geworden, weil etwa das krisengeschüttelte öffentlich-rechtliche System kaum mehr satisfaktionsfähig ist."
+++ Der sächsische Landesverband des Beamtenbunds will seinen Sitz im MDR-Rundfunkrat wieder haben - und klagt nun vor dem Verwaltungsgericht Leipzig. Engagiert hat man dafür mit Hubertus Gersdorf ein auch Altpapier-Lesenden durchaus vertrautes Schlachtross. "Flurfunk Dresden" berichtet.
Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.
Gereon Asmuth am 29.09.2022
Lieber René, vielen Dank für die Erwähnung meines Artikels. Allerdings ist die Vermutung in der Anmerkung der Redaktion falsch. Auch wenn es vielen unsinnig erscheint: Long Covid ist tatsächlich der Begriff für Erkrankungen, die auch 4 Wochen nach Infektion anhalten, mit Post Covid werden Beschwerden bezeichnet, die nach 3 Monaten bestehen. (siehe zB: hier: https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/basisinformationen/long-covid-langzeitfolgen-von-covid-19/#c15859) Post Covid ist also schlimmer als Long Covid, meine Formulierung, "Zehntausende, die an Long Covid oder gar Post Covid leiden" ist also korrekt. Gruß aus der taz, Gereon Asmuth