Das Altpapier am 6. Januar 2023: Porträt der Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Kolumne: Das Altpapier am 6. Januar 2023 A sagt, B sagt

06. Januar 2023, 09:04 Uhr

Bereits zum zweiten Mal wird der 50. Geburtstag der "Sesamstraße" gefeiert. Die "Tagesschau" derweil wurde an Weihnachten 70 – und bekommt von der "Zeit" nachträglich ein recht kühles Kärtchen: Eine Kritikerin schreibt, die 20-Uhr-"Tagesschau" sei als Format gescheitert. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

"Sesamstraße" feat. Google Trends

Das neue Jahr beginnt, wie das alte endete (Altpapier): mit einem öffentlich-rechtlichen Jubiläum. Die "Sesamstraße" wird am Wochenende 50, wie es seit geraumer Zeit aus dem NDR gequakt, getrillert und gepfiffen wird. Und wer sich nun zu erinnern meint, dass sie doch erst vor wenigen Jahren schon einmal 50 wurde, dem sei herzlich gratuliert: Test bestanden, ab zu Günther Jauch. Wer tatsächlich 50 wird, ist eigentlich nur die "Sesamstraße in Deutschland". Aber ja nun, was 'ne Harke ist, feiert seine Marke halt zweimal.

Ist aber auch irgendwie egal: Weil Ernie und Bert so süße kleine Schnuckels sind, an denen man sich gar nicht sattrezipieren kann, wird auch der zweite 50. wieder in allerlei Medien zum Anlass genommen, lustige Fotos zu machen, Details über "Klappmaulpuppen mit Stabhänden" zu diskutieren oder vor allem ein paar bekannte Anekdoten nochmal zu erzählen. Dass der Bayerische Rundfunk die Sendung 1971 noch boykottiert habe, liest man diesmal zum Beispiel bei der Nachrichtenagentur AFP.

Wird Bekanntes noch einmal erzählt, werden die gegenwartsrelevanten Plotpoints hervorgehoben. In diesem Fall bekommt der damals vom BR-Programmdirektor offensichtlich benutzte Begriff der "kulturellen Überfremdung" Aufmerksamkeit, ein Begriff, der schon 1971 aus dem Lexikon der rechten Ausgedachtheiten kam.

Dass die "Überfremdung" im "Sesamstraßen"-Text von stern.de am Donnerstagvormittag aber sogar in Anführungszeichen in der Überschrift landete, könnte schon auch etwas mit Suchmaschinenoptimierung zu tun haben: In der Neujahrsnacht, am Mittwoch und dann wieder in der Nacht zum Donnerstag gab es bei Google jedenfalls Peaks in den Suchanfragen nach dem Wort; zuletzt hatte ihn eine FDP-Politikerin im Zug der wiederkehrenden Silvesterkurzschluss-Debatte (Altpapier vom Donnerstag) bei Twitter benutzt. Dass dank SEO oder sonstiger allgemeiner Leseanreiz-Reichweiten-Trendyness ein aus der rechtsradikalen Ecke stammender Begriff dann also schon mal im Titel eines "Sesamstraßen"-Jubiläumstexts stehen kann, muss man freilich nicht richtig finden.

"Als Format gescheitert": eine Kritik der "Tagesschau"

Weil ein anderes öffentlich-rechtliches Jubiläum zwischen den Jahren vielleicht etwas kurz kam, wird es nun noch einmal medial nachgefeiert. Es geht um das 70-Jährige der "Tagesschau". Wobei deren Redaktion, der NDR und die ARD auf das nachträgliche Grußkärtchen von "Zeit"-Redakteurin Anna Mayr an die 20-Uhr-Ausgabe womöglich gerne verzichtet hätten, denn es hat sich gewaschen. Die "Tagesschau" sei "stecken geblieben im 'A sagt, B sagt'-Modus", schreibt Mayr. Und wundert sich.

Das entspricht nicht ganz dem, was der NDR selbst über sein Format erzählt. Wir können ja mal Selbstbetrachtungen aus dem "Tagesschau"-Kontext und die Einschätzungen der "Zeit" im "A sagt, B sagt"-Modus gegeneinanderschneiden:

tagesschau.de am 26.12. über sich: "Sie ist ein einprägsamer Klassiker, der Sound des Wohnzimmers: Die Erkennungsmelodie der tagesschau wie die darauffolgenden rund 15 Minuten sind ein Stück Alltag."

Anna Mayr: "Die Tagesschau ist als Format gescheitert. Sie passt nicht mehr in die Welt, über die sie informieren will."

"Tagesschau"-Chef Markus Bornheim bei goldenekamera.de: "Nicht in jeder Sendung, aber ziemlich häufig, bringen wir beispielsweise in der 20-Uhr-Ausgabe mittlerweile ein Wissenschaftsstück oder ein Kulturthema – oder einen lösungsorientierten Ansatz zu einem zuvor dargestellten Problem. Denn neben Krisen, Krieg, Leid und Elend gibt es auch andere Aspekte im Leben, die für die Zuschauer wichtig sind. Außerdem möchten wir den Fernsehzuschauern, die laut Umfragen nachrichtenverdrossener geworden sind, mehr andere Perspektiven aufzeigen."

Anna Mayr: "Am 1. Januar zeigte die Tagesschau einen Beitrag über das Bürgergeld. Darin kam der Satz vor, das Gesetz würde 'Weiterbildungen stärken'. Hä? Vier namenlose Leute, die in einer nicht benannten Stadt von einem Kamerateam auf der Straße angetroffen wurden, sagten ihre sogenannte Meinung. Sie wiederholten sachlich Falsches ('Arbeiten lohnt sich nicht mehr') oder Allgemeinplätze ('ist wie Hartz IV'). Keins dieser Missverständnisse wurde aufgeklärt."

Bornheim bei ndr.de: "Wir haben es geschafft, auch nach 70 Jahren immer noch die Nachrichteninstitution Deutschlands zu sein, der die meisten vertrauen. Darauf können wir stolz sein. Und obwohl die Menschen mittlerweile den ganzen Tag lang Nachrichten auf ihren Smartphones verfolgen können: Sie wollen um 20 Uhr immer noch wissen, was von all dem wirklich relevant ist."

Mayr:"In ihrer aktuellen Form, sieben Tage die Woche, fünfzehn Minuten, gibt es die Tagesschau seit 1961. 1961! Die Welt ist doch deutlich größer geworden seitdem. Voller. Enger. Zusammenhängender. Erforschter. (…) Der Nachrichtenjournalismus hingegen hat sich nicht weiterentwickelt."

Want more A sagt, B sagt? Sorry, die Sendezeit ist um. Womit noch zu Mayrs konstruktiver Pointe übergeleitet wäre: "Wenn man etwas schlecht findet, fordert man oft dessen Abschaffung (zum Beispiel bei Ministerinnen). Die Tagesschau aber kann nur besser werden, wenn sie sich verlängert", schreibt sie.

Und wer nun meint, diese Forderung schon mal irgendwo gelesen zu haben, hat auch nicht Unrecht. Sie entspricht Peer Schaders These aus dem Mai: "Schafft endlich die 20-Uhr-'Tagesschau' ab!", schrieb er – damit 45-minütige "Tagesthemen" um acht laufen können.

Eine quanti- und eine qualitative Analyse der Fernsehnutzung

Und nun das Wetter. Äh, die Zahlen. Am Donnerstag hat die AGF Videoforschung ihre Daten zur Fernsehnutzung 2022 vorgestellt, was hier und da und dort gerne aufgegriffen wird, denn Daten sind Trends, und Trends sind interessant, und interessant ist immer gut.

Aber unter dem Strich steht vor allem drin, dass die Deutschen zwar wieder mal sehr viel vor der Kiste hingen (195 Minuten pro Tag), aber nicht mehr ganz so viel wie in den Pandemie-Hauptjahren (213 Minuten 2021). Hmjoa, das ist also eine sogenannte "Hund beißt Mann"-Nachricht. "Das außergewöhnlich warme Wetter und die fehlenden Corona-Beschränkungen scheinen 2022 dazu geführt zu haben, dass die Menschen vermehrt aushäusige Freizeitaktivitäten wahrgenommen und entsprechend weniger TV gesehen haben", lautet einer der wenigen Sätze der AGF-Pressemitteilung, in denen außer einer Jahresangabe keine weitere Zahl steht.

Alles in allem, um es zusammenzufassen: Nachrichten wichtig. Streaming wird mehr. "Wetten, dass..?" coolste Show des Jahres. "Tatort" bester Film. Fernsehen läuft…

Nur das Lineare nicht mehr ganz so – aber das steht nicht in den AGF-Zahlen, das glaubt Kurt Krömer im "Spiegel"-Interview:

"Lineares Fernsehen ist ein sinkendes Schiff. Der Maschinenraum dieser 'Titanic' ist mit Wasser vollgelaufen. Die Handwerker haben schon ein paar Mal oben im Tanzsaal Bescheid gesagt. Dort wird aber noch Champagner getrunken".

Womit wir neben all den Zahlen auch noch eine gefühlte qualitative Expertise hätten.


Altpapierkorb ("Charlie Hebdo" und Iran, Aust gegen "Magazin Royale", 14 bis 59, "Glücksrad")

+++ Die französische Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" hat am Mittwoch, zum achten Jahrestag des islamistischen Terroranschlags auf die Redaktion, mehrere Einsendungen ihres Karikaturenwettbewerbs #MullahsGetOut veröffentlicht. Als Reaktion auf Karikaturen des Revolutionsführers Khamenei hat das Regime in Teheran das Französische Institut für Forschung im Iran geschlossen (u.a. faz.net) .

+++ Zur Berichterstattung über die Proteste im Iran äußert sich Isabel Schayani (siehe auch Altpapier von Donnerstag) nun auch im Deutschlandfunk. "Die schwindende Aufmerksamkeit habe mehrere Gründe, so Schayani: 'Dadurch, dass so wenig Bilder rauskommen, sehen wir keine neuen Demonstrationen.' Hintergrund sind die regelmäßigen, weitreichenden Internetsperren des iranischen Regimes."

+++ "Welt"-Herausgeber Stefan Aust ist juristisch gegen die Zirkusnummer des ZDF-"Magazin Royale" vorgegangen, in der Jan Böhmermann im Fahndungsplakat-Stil gestandene Nichtlinke wie den FDP-Finanzminister und vor allem einige Springer-Leute wie Aust (versehen mit einem Foto, das nicht ihn zeigt) als "Linksradikale Gewalttäter" vorführte (Altpapier). Aust habe eine einstweilige Verfügung erwirkt und vor dem Landgericht Hamburg Recht bekommen, berichtete gestern der "Spiegel" online: "Die Verbreitung des vermeintlichen Aust-Fotos mit diesen Zeilen ist damit seit diesem Donnerstag untersagt." Böhmermann hat sich dazu bei Twitter, sagen wir, verhalten und das Wort "Pferde-Erdogan" geprägt.

+++ 14 bis 49? Gewöhnen Sie sich vielleicht daran, länger werberelevant zu sein. RTL setze jetzt auf die 14- bis 59-Jährigen. "Hauptargument", so meedia.de: "Nur noch ein geringer Teil des TV-Publikums käme aus dieser Altersgruppe: ganze 22 Prozent. Bei den 14- bis 59-Jährigen seien es hingegen immerhin 45 Prozent." Mehr steht bei dwdl.de.

+++ Das "Glücksrad" kommt zurück (u.a. dwdl.de). Hätte man vielleicht drauf tippen können.

+++ Es gibt keine "Süddeutsche Zeitung" heute. In einigen Ländern ist Feiertag, also in Bayern.

Das Altpapier vom Montag schreibt Christian Bartels. Schönes Wochenende!

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