Das Altpapier am 16. Januar 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Kolumne: Das Altpapier am 16. Januar 2023 Heiße News im Futur Zwei

16. Januar 2023, 10:42 Uhr

Anne Will wird am Jahresende mit ihrem Talk aufgehört haben und der Rücktritt der Verteidigungsministerin wurde schon wie vollzogen behandelt, bevor er stattfand. Außerdem: Wozu braucht man tägliche Medienseiten? Und: Rechtfertigen die Silvesterrandale eine Migrationsdebatte dieser Größe? Die Medienthemen des Tages kommentiert Klaus Raab.

Anne Will: Meldung eines angekündigten Abschieds

Der ARD-Talk von Anne Will, "Anne Will", werde beendet, hat der NDR am Wochenende mitgeteilt. Im Rahmen der Berichterstattung darüber geht der Altpapier-Preis für den recyceltsten Namenswitz in einer Online-Überschrift zu gleichen Teilen an die "taz", das Redaktionsnetzwerk Deutschland, die "Nordwest-Zeitung" und den "Berliner Kurier": "Anne Will nicht mehr" lautet der Titel hier wie da wie bei diesen und jenen. Herzlichen Glühstrumpf!

Immerhin, sachlich dürfte die Überschrift zutreffend sein. Nach allem, was man liest, hört Anne Will aus freien Stücken mit ihrem Talk auf, um sich "neuen Projekten" zu widmen. Anne Würde also gerne mal etwas anderes machen Wollen.

Der Talk soll allerdings erst am Jahresende enden, und das Jahresende ist laut Kalender erst im Dezember. Wenn es aber auch noch etwas hin sein mag, bis Anne wirklich nicht mehr Will, nimmt man doch hier und da jetzt schon Abschied von der Sendung: Die einen fanden sie im vorausschauenden Rückblick ganz toll, die anderen nicht ganz dumm, die dritten extrem schlümm.

These 1 – "Anne Will" ragt heraus – wird vertreten vom ehemaligen Herausgeber des "Tagesspiegels", Gerd Appenzeller, im selbigen:

"Anne Will ist Profi. Sie spielt sich, im Gegensatz zu anderen Politikmoderatoren, nie in den Vordergrund. Nie würde man bei ihr erleben, dass sie, mit vor Erregung wippenden Füßen, einen angesprochenen Gast mit einem Blick wie ein Raubtier fixiert, das sich seiner Beute sicher ist."

These 2 – "Anne Will" sei die relevanteste Talkshow, aber auch sehr speziell –, vertritt Jens Jessen bei Zeit.de unter der nicht unbösen Überschrift "Die Super Nanny":

"Ja, man schaute nicht zum Vergnügen Anne Will, aber die durchschnittliche Zuschauerzahl von 3,6 Millionen zeigt, dass sich im Fernsehen auch durch schwarze Pädagogik Quote machen lässt."

Meinung 3 – Warum geht sie denn erst im Dezember, herrje? – steht sinngemäß in dichter Taktung im Onlineforum der immer und überall grüne Parteipropaganda witternden "Welt".

Herrlich ausgewogen, das alles, würde eine Waage sagen. Und wie geht es nun weiter? "Eine mögliche Nachfolge für das Sonntagabend-Format im ARD-Gemeinschaftsprogramm ist noch nicht bekannt. Der NDR und die ARD seien in Gesprächen, hieß es von Senderseite", heißt es von Zeitungsseiten. Aha soso. "Vielleicht hat Sandra Maischberger an einem dritten Abend pro Woche für die ARD Zeit? Lanz beim ZDF abzuwerben wäre viel zu teuer und überflüssig. Zeit für einen Newcomer", überlegt Michael Hanfeld in der "FAZ".

Ein Newcomer… Also ich würd’s ja machen. Ich würde nur ein paar kleinere Änderungen vorschlagen. Nicht viele, keine Sorge. An der Anfangszeit nach dem "Tatort" würde ich zum Beispiel nicht rütteln. Aber statt die Sendung immer gleich zu nennen, würde ich sie gerne unter wechselnden Titeln laufen lassen. Und statt wechselnde Gesprächsgäste einzuladen, würde ich gerne wechselnde Dokumentarfilmerinnen und -filmer und ausgewählte Redaktionen der öffentlich-rechtlichen Anstalten beauftragen, den Sendeplatz zu füllen.

Warum nicht, nur zum Beispiel, auch mal mit Medienjournalismus?

Braucht man noch Medienseiten?

Medienjournalismus ist gar nicht mal so unwichtig, schreiben die medienjournalismusaffinen Anne Fromm und Peter Weissenburger in der "taz" in einem ausführlichen, am Wochenende auch von piqd hervorgehobenen Artikel. Und sie haben natürlich Recht. Ja okay, Sportjournalistinnen würden über Sportjournalismus sagen, dass er wichtig ist. People-Journalisten über People-Journalismus. Und Talkshowhosts haben in der Regel auch nur Gutes über Talkshows zu berichten. Aber im Fall von Medienjournalismus stimmt es auch, lassen Sie sich das von einem Medienjournalisten sagen!

Anlass für den "taz"-Text ist die von epd im November vermeldete Abschaffung der Medienseite des "Tagesspiegels" (Altpapier). Dessen Chefredakteur Lorenz Maroldt wird in der "taz" sinngemäß zitiert, die Meldung sei "falsch", die Medienseite werde bleiben; aber das ist Semantik: Die Medienseite wurde zumindest insofern abgeschafft, als sie eine Fernsehseite wurde. Die "taz" schreibt:

"Die Medienseite ist geblieben, aber anders als zuvor. Sie beschäftigt sich nur noch mit dem, was im Fernsehen läuft, enthält ausschließlich Filmkritiken und Serientipps. Die medienpolitischen Themen dagegen, also zum Beispiel Entwicklungen beim Springer-Verlag, Berlusconis Griff nach dem Sender Prosieben – das alles hat nun keine eigene tägliche Seite mehr."

Es gibt durchaus Argumente für einen solchen Schritt, wie ihn der "Tagesspiegel" getan hat:

"Lorenz Maroldt sagt, er habe nie etwas davon gehalten, Themen in Ressorts einzusperren. (…) Maroldts Argument ist nicht neu. Auch die Springer-Zeitung Welt hat 2007 ihre Medienseite abgeschafft, Berichte über Medien erscheinen je nach Relevanz in anderen Ressorts. Genauso arbeitet der Spiegel. (…) Beide, die Welt und der Spiegel, bringen auch ohne feste Medienseite weiter relevante Mediengeschichten. Und der größte Medienscoop des vergangenen Jahres – die Vetternwirtschaft im rbb – erschien in einem Magazin, Business Insider, das nie eine tägliche Medienseite hatte."

Mir leuchtet Maroldts Argument durchaus ein. Ich bin auch nicht (mehr) überzeugt von der traditionellen Printstrategie, Gefäße zu schaffen, die man dann Tag für Tag nur deshalb befüllen muss, weil sie halt da sind. Gegenargumente gibt es aber auch:

"Medienforscher Hektor Haarkötter versteht den Impuls, Medienthemen den anderen Ressorts der Zeitung unterzumischen. Allerdings warnt er davor, dass der Medienjournalismus darunter leiden könnte, wenn er künftig mit anderen Themen um Relevanz kämpfen müsse. ‚Wenn ich Ressorts auflöse und Themen mische, kann es sein, dass ich den Fachjournalismus aufgebe.‘

Hier würde auch ich ansetzen, wenn ich mich für eine Pro- oder Contra-Position entscheiden müsste. Ich würde, trotz allem, für täglichen Medienjournalismus plädieren, weil nur ein tägliches Erscheinen die notwendigen Mittel sichert.

Gibt es keine tägliche Medienseite, bedeutet das nach meiner Erfahrung, dass eine kontinuierliche Begleitung und Auseinandersetzung für entbehrlich gehalten wird. Was dann zählt, ist, dass man spontan auf aufpoppende Themen springen kann, je nach Erregungslevel. Meinungen lassen sich zwar auch ohne nennenswerte Ressourcen produzieren. Aber Fachjournalismus bedeutet Netzwerkpflege und Dranbleiben und den Besuch von Veranstaltungen und Hintergrundgesprächen. Keine täglichen Inhalte kann bedeuten: keine täglichen Zeitressourcen.

Chronik eines angekündigten Rücktritts

Die Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht plane, demnächst zurückgetreten zu sein. Das schrieb die "Bild" am Freitag und behielt in der Rückschau Recht damit. Die "Süddeutsche" erfuhr aus Kreisen und Umfeldern Ähnliches, und der "Spiegel" alsbald auch. (Die ARD-aktuell-Redaktion berichtete sodenn in den "Tagesthemen" und auf tagesschau.de unter Berufung auf übereinstimmende Medienberichte.) Am Montagvormittag habe sie nun tatsächlich ihr Entlassungsgesuch eingereicht, Eilmeldungen zufolge

Offiziell stand auch am Sonntag allerdings noch nicht fest, wann der inoffiziell bereits wie vollzogen behandelte Rücktritt ("Jetzt steht fest", "nach dem Lambrecht-Rücktritt") überhaupt stattfinden würde. Aber die Empörung etwa Paul Ronzheimers von "Bild" darüber, dass es auch "nach 2(!) Tagen keine Nachfolge" gebe, wirkte angesichts des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse wie Satire. Zwei Tage wonach denn? Nach dem bis dahin noch gar nicht stattgefunden habenden Rücktritt?

Ich weiß nicht, ob ich die Rücktrittsankündigungs-Berichterstattung an sich kritisieren will. Eher nicht. Wenn man die Information bekommt, dass eine Ministerin zurücktreten werde, muss man sie überprüfen – aber falls sie bestätigt wird, ist es geboten, sie zu veröffentlichen. Vielleicht gründet meine Befremdung eher auf dem kommunikativen Gesamtprozedere. Journalisten könnte theoretisch die instrumentelle Rolle der Faktenschaffer zugeschrieben worden sein. So galt es bei zeit.de am Samstag immerhin als denkbar, dass Leute, die Lambrecht "nicht wohlgesonnen sind", versucht hätten, "mit dem durchgestochenen Rücktrittsgerücht (…) Fakten zu schaffen."

Vielleicht habe ich aber auch nur zufällig ein Notizbuch auf dem Schreibtisch liegen, auf dessen Rückseite ein Satz steht, der mir hier von Belang scheint: "Daß morgen die Sonne aufgehen wird, ist eine Hypothese."

Und was war nun an Silvester?

Andrej Reisins Texte für "Übermedien" sind oft lesenswert. Auch sein Text über die, legt’s say, Silvestervorfälle und die anschließende Migrationsdebatte ist es: Wer war eigentlich woran beteiligt? Waren in Berlin 145 Menschen 18 verschiedener Nationalitäten an Übergriffen auf Einsatzkräfte beteiligt, wie es zunächst hieß? Waren es 38 vorwiegend Deutsche, wie der "Tagesspiegel" später korrigierte (was Reisin aber nun auch hinterfragt)? Waren es in erster Linie junge Männer? Und was haben die eigentlich wirklich getan? Was wissen wir eigentlich? Er schreibt:

"Dass in einer Millionenmetropole wie Berlin, plus aller anwesenden Touristen, in einer solchen Nacht 145 Menschen wegen allem Möglichen festgenommen werden, ist für sich genommen auch keine Breaking News."

Und:

"In keiner Weise rechtfertigen die Berliner Angriffe die Größe der Debatte, die durch sie losgetreten wurde und auch ins Rassistische kippte. Die Berliner Polizei und viele Medien müssen sich dazu kritisch befragen."

Oh ja.


Altpapierkorb (MDR-Intendanz, Silvester, Immobiliengeschäfte von Journalisten, Rundfunkbeiträge, Rosa von Praunheim, Publikum der Privatsender)

+++ Der MDR – bekannt unter anderem als Veranstalter dieser Kolumne – ist auf der Suche nach einer neuen Intendantin oder einem Intendanten. Es gebe nun einen Kandidaten, berichtete der MDR am Freitag, erst im Intranet, dann in einer Pressemitteilung und redaktionell. Als Nachfolger von Karola Wille sei vom MDR-Verwaltungsrat der bisherige Verwaltungsdirektor Ralf Ludwig nominiert worden. Wer lieber anderswo als auf MDR-Seiten nachliest, was beim MDR vor sich geht: Auch die "FAZ" und dwdl.de berichten.

+++ Carolin Emcke kolumniert in der "Süddeutschen" zum selben Thema wie Andrej Reisin – über die Berichterstattung über die Silvesterdinge und die folgende Debatte, die sie antiaufklärerisch nennt: "Nur nicht innehalten, nur nicht langsam erst Wissen und Informationen sammeln, was sich zugetragen hat, sich nur nicht mit der Komplexität der Wirklichkeit beschäftigen."

+++ Dass über Medien oder prominente Figuren des Medienbetriebs nicht nur auf einer regelmäßig erscheinenden Medienseite berichtet werden kann, dafür liefert der "Spiegel" ein Beispiel. In einer ausführlichen Recherche geht es um einen Fall, der noch besser im Ressort für Wohnungspolitik aufgehoben wäre, aber medienjournalistische Facetten hat, weil namhafte Journalistinnen und Journalisten dabei eine zweifelhafte Rolle spielen: "Wie eine Gruppe linker Journalisten den großen Deal mit einer Berliner Immobilie machte".

+++ Zum 50. des ersten schwulen Kusses im deutschen Fernsehen interviewt die "SZ" Rosa von Praunheim.

+++ Laura Hertreiter kommentiert in der Samstags-"SZ" die wieder eingesetzt habende Debatte über eine Erhöhung der Rundfunkgebühren (Freitags-Altpapier): "In diesen Tagen melden die Sender ihren (selbstverständlich ständig wachsenden) Finanzbedarf bei der Gebührenkommission KEF an, anschließend setzen die Bundesländer je nach deren Empfehlung die Höhe der Summe fest, die es dann in der nächsten Gebührenperiode von 2025 an zu zahlen gilt. Wegen Inflation und Teuerung bedeutet das Beibehalten von 18,36 Euro, dass den Sendern letztlich weniger Geld zur Verfügung steht als bisher. Und das ist doch ein wunderbarer Anlass zu internen Umbau- und Aufräummaßnamen für alle ARD-Führungskräfte, denen Scham für das bisherige Missmanagement als Antrieb nicht reicht."

+++ Was die Privatsender zu tun gedenken dürften, da auch ihr Publikum älter wird, darüber kolumniert Peer Schader bei dwdl.de. Beispiel RTL: "Die strategische Neuausrichtung in Köln und das Versprechen, die Marke respektvoller und freundlicher aufzuladen, ließ sich bereits als Zeichen an die Werbeindustrie lesen, in Zukunft ein noch verlässlicherer Lieferant für positive Markenumfelder sein zu wollen. Dafür braucht es passende Inhalte."

Das Altpapier am Dienstag wird Annika Schneider schreiben.

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